12.07.1996

Netanjahu vor dem Parteienwechsel

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Netanjahu vor dem Parteienwechsel

Von

AMNON

KAPELIUK *

DIE extremistischen, aggressiven, nationalistischen und populistischen Töne, die Benjamin Netanjahu als Führer der israelischen Rechten im Wahlkampf angeschlagen hat, waren nicht nur Parolen für seine Anhängermassen. Sie bestimmen vielmehr auch sein Regierungsprogramm: Noch nie waren offizielle Positionen zur Politik in der Region derart kompromißlos von den Vorstellungen eines politischen „Falken“ geprägt. Netanjahu macht überhaupt keinen Hehl aus seinen religiös inspirierten Expansionsabsichten. Nach seiner Wahl zum Premierminister erklärte er: „Gott hat uns dieses Land gegeben, das sich vom Meer bis zum Jordan erstreckt.“

„Jitzhak Rabin hat die Wahlen von 1992 gewonnen, weil er sich als Vertreter der Rechten präsentierte. Dieser Sieg der Arbeitspartei mußte aber eine Ausnahme bleiben, so etwas wird sich in Zukunft kaum wiederholen – die Mehrheit der Israelis wählt eben rechts. Für die Arbeitspartei-Regierung bot sich die einmalige Chance, eine einfallsreiche Diplomatie zu betreiben und durch Verträge und Friedensabkommen mit den arabischen Nachbarn im Nahen Osten neue Realitäten zu schaffen. Der Likud war fünfzehn Jahre an der Regierung und hat in dieser Zeit überall in den besetzten Gebieten neue jüdische Siedlungen bauen lassen, um irreversible Fakten zu schaffen und die Aufteilung des Landes in zwei souveräne Staaten, einen israelischen und einen palästinensischen, zu verhindern. Wir von der Arbeitspartei haben versucht, die Hindernisse zu überwinden, die der Likud geschaffen hat, und eine neue politische Situation herzustellen, die sich fest und unwiderruflich auf den Frieden gründet.“ So beschreibt Jossi Beilin, als Minister unter Schimon Peres für die Friedensverhandlungen zuständig, die Auseinandersetzung zwischen den beiden maßgeblichen politischen Kräften Israels seit der Unterzeichnung der Verträge von Oslo (im September 1993).

Am 29. Mai 1996 wurde abermals ein neues Kapitel aufgeschlagen. Der Likud (die nationale Rechte) übernahm die Regierung und setzte zwei Prioritäten: zum einen „Groß-Israel“ zu stärken, und zum anderen, den Verträgen von Oslo ein anderes Konzept palästinensischer Autonomie entgegenzusetzen, das sich am Camp-David-Abkommen orientiert, das 1978 zwischen Carter, Begin und Sadat geschlossen wurde (und das die Palästinenser stets abgelehnt haben).

Bei den westlichen Regierungen wie bei den Führern und in der Öffentlichkeit der arabischen Länder, aber auch bei großen Teilen der israelischen Bevölkerung zeigte man sich zu Recht besorgt über die Erklärungen des Likud-Chefs und seiner neuen Koalition von Gegnern der Osloer Verträge. Netanjahu hat zwar erklärt, er werde die Abkommen respektieren, aber er kann nach Belieben die Verhandlungen fortführen oder auch den ganzen Prozeß zum Stillstand bringen. Im günstigsten Fall wird es zu einer Neuauflage der Situation bei der Konferenz von Madrid (Oktober 1991) kommen. Der damalige Likud- Premier Jitzhak Schamir dachte nicht daran, sich auf die Formel „Frieden gegen Land“ einzulassen. Die israelische Delegation, deren Sprecher übrigens Benjamin Netanjahu war, erhielt die Anweisung: „Führen Sie langwierige Verhandlungen, die kein Ergebnis bringen.“

Nach seiner Wahlniederlage beteuerte Schamir, er sei bereit gewesen, immer weiter zu verhandeln, zur Not auch zehn Jahre, um in der Zwischenzeit weitere Hunderttausende jüdischer Kolonisten im Westjordanland und im Gazastreifen anzusiedeln. Auf diese Kombination von diplomatischer Hinhaltetaktik und Siedlungstätigkeit setzt auch die Regierung Netanjahu. Nach der Regierungserklärung gilt die Unterstützung, Erweiterung und Entwicklung der Siedlungen als eine „Aufgabe von nationalem Interesse“, die „der Verteidigung Israels dient und zugleich die Realisierung der zionistischen Idee beinhaltet“. Die mit den Palästinensern geschlossenen Verträge würden es erlauben, die Verhandlungen über den endgültigen Status der besetzten Gebiete im Westjordanland und im Gazastreifen noch drei Jahre lang zu verschleppen; in dieser Zeit könnten neue Siedlungen gebaut und die etwa 140 bestehenden um neue „Vorstädte“ erweitert werden.

Sicher wird die neue politische Führung auch versuchen, mit irgendeinem Trick den Abzug der israelischen Armee aus Hebron zu verhindern, etwa durch dezente Truppenverschiebungen. Demnach wird in der leidgeprüften Stadt, wo 450 entschlossene Siedler inmitten von 120000 Palästinensern ausharren und damit ein normales städtisches Leben unmöglich machen, letztlich alles beim alten bleiben. Netanjahu wird die Verträge von Oslo also nicht brechen, sondern sie immer weiter auszuhöhlen versuchen.

Diese Politik hatte bereits Jitzhak Rabin eingeleitet, als er wenige Monate nach der Unterzeichnung erklärte, daß „die (vereinbarten) Termine nicht unantastbar“ seien. Sicherlich wird sich die Freilassung Tausender von Palästinensern, die immer noch in israelischen Gefängnissen sitzen, weiter verzögern. Auch dürften die Gebiete weiterhin abgesperrt bleiben, eine Art Kollektivbestrafung, die für die Bevölkerung eine fortschreitende Verelendung bedeutet und womöglich die Nahrungsmittel knapp werden läßt. Außerdem wird wohl das „Orienthaus“ in Jerusalem bald geschlossen werden, das der PLO als Zentrum politischer und diplomatischer Aktivitäten diente. Von der neuen Regierung ist also eine Politik der harten Hand und der Unnachgiebigkeit zu erwarten – womit sich die endlosen Tragödien in der Region fortsetzen werden.

Im Gefolge des Sechstagekrieges, auf ihrem Gipfeltreffen in Khartum im September 1967, hatten sich die arabischen Führer auf die berühmten drei Nein geeinigt: Nein zu Verhandlungen, Nein zur Anerkennung und Nein zum Frieden mit Israel. Diese Verweigerungshaltung hatte lange Bestand, verlor dann allmählich an Kraft und wurde schließlich ganz aufgegeben. Heute sind es die Gewinner der jüngsten Wahlen in Israel, die mit den drei großen Nein drohen: Nein zum Palästinenserstaat, Nein zum Rückzug aus dem Golan, Nein zur Teilung Jerusalems, das „auf ewig die geeinte Hauptstadt Israels bleiben wird“, ohne irgendwelche Hoheitsrechte oder politische Präsenz der Palästinenser. Verweigerung und Starrsinn also nun im anderen Lager.

Im übrigen hatte die Führung des Likud für die Friedensbemühungen nur Abscheu und Verachtung übrig. Einen Monat vor der Ermordung Rabins erklärte Netanjahu während einer Debatte in der Knesset: „Rabin liebt sein Land nicht, sonst würde er es nicht im Ausverkauf an den Terroristen Arafat verschleudern.“ Die israelische Rechte vertritt die Vergangenheit, die atavistische Furcht vor dem Anderen, dem Nachbarn, wenn nicht gar den Haß.

Die Palästinenser können damit den Eindruck gewinnen, der Friedensprozeß sei zu Ende, und diese Enttäuschung könnte zu einer neuen Intifada führen – diesmal mit Waffen, nicht nur mit Steinen. Opferwillige Kandidaten für Selbstmordkommandos gibt es genug.

Der Frieden ist auch eine Sache des Ausgleichs mit Syrien. Im Unterschied zu Schimon Peres, der immerhin eine gewisse Flexibilität erkennen ließ, zeigt Netanjahu eine völlig unnachgiebige Haltung: Die jüdischen Siedlungen auf dem Golan sollen nicht geräumt, sondern gestärkt und erweitert werden. Als Gegenleistung für den Frieden verspricht Netanjahu, er werde sich bei den Amerikanern dafür einsetzen, Syrien von der Liste jener Länder zu streichen, die den Terrorismus unterstützen – allerdings nur, wenn Syrien auch die Hisbollah im Libanon entwaffnet. Solche Bedingungen lehnt Damaskus ab, und es gibt einflußreiche Likud-Politiker, die lieber auf einen Machtwechsel in Syrien warten wollen, um dann mit einem geschwächten Regime einen akzeptablen Kompromiß auszuhandeln. Die israelisch-syrischen Gespräche in Washington, die unter Peres eingeleitet wurden, drohen ins Stocken zu geraten. Statt dessen versucht Israel nun, unterstützt von seinem neuen militärischen Bündnispartner Türkei, den Nachbarstaat unter Druck zu setzen.

Auch auf den Iran beginnt Netanjahu sich einzuschießen: Er tritt dafür ein, in Zusammenarbeit mit Washington den Sturz des islamischen Regimes in Teheran zu betreiben. Von Schimon Peres' Vision eines „neuen Nahen Osten“ bleibt also nicht mehr viel. Das Zerstörungswerk hat der frühere Premier übrigens mit der tragischen Operation im Libanon selbst begonnen, Netanjahu wird es nun zu Ende führen.

Das Ergebnis der Wahlen vom 19. Mai könnte den Beginn einer neuen heißen Phase im Nahostkonflikt bedeuten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion war das Risiko eines Krieges im Nahen Osten gesunken, Moskau war wirtschaftlich und vor allem politisch kaum noch imstande, seine arabischen Verbündeten zu unterstützen. Jetzt wäre es jedoch denkbar, daß politische Ungeschicklichkeit oder eine unkontrollierbare Eskalation, zum Beispiel eine Hisbollah-Aktion, die zur Bombardierung syrischer Stützpunkte im Libanon führt, einen neuen bewaffneten Konflikt auslösen. Israel hat nach wie vor die stärkste Armee in der Region, aber auch Syrien ist eine bedeutende Militärmacht. Nach Truppenstärke und Organisation kann man die syrische Armee mit der irakischen am Beginn des Golfkriegs vergleichen, denn sie verfügt über Tausende von Boden-Boden-Raketen des Typs „Scud“ und auch über chemische Waffen.

Aber könnte nicht Netanjahu eine ähnliche Rolle spielen wie der frühere Likud- Chef Menachem Begin, der 1977 aufgrund seines Bekenntnisses zur Annexionspolitik Ministerpräsident wurde und zwei Jahre später den Friedensvertrag mit Ägypten unterschrieb? Die Umstände sind wohl zu verschieden – das Westjordanland ist nicht der Sinai. Und Menachem Begin hat damals lange gezaudert. Als Präsident Sadat den Vorschlag machte, nach Jerusalem zu kommen, erklärte Begin: „Er soll sich bloß nicht einbilden, daß wir ihm den Sinai geben.“ Danach verlegte er seinen Wohnsitz symbolischerweise in die israelische Siedlung Neot Sinai, im Norden der Halbinsel. Erst unter dem Druck des damaligen US-Präsidenten Carter und angesichts der Stärke der Bewegung „Frieden jetzt!“ ließ er sich zu Verhandlungen mit Ägypten bewegen. Aber er plante auch schon den Krieg gegen den Libanon, der das Palästinenserproblem durch Zerschlagung der PLO lösen sollte. Die Vorstellungen Netanjahus und seiner Verbündeten wurzeln tief in der „Groß-Israel“-Ideologie und in der Absicht, das Westjordanland zu behalten.

Doch die Vereinigten Staaten könnten die israelische Politik beeinflussen und auf Friedenskurs bringen. 1956 brachten US-Präsident Dwight D. Eisenhower und der sowjetische Verteidigungsminister Nikolai Bulganin die Israelis dazu, sich nach ihrem Sues-Feldzug wieder zurückzuziehen. 1975 ließ sich Rabin durch Präsident Gerald Ford dazu bewegen, mit Ägypten ein Abkommen über die Rückgabe des Sinai zu treffen. Und 1992 trug George Bush zur Wahlniederlage von Jitzhak Schamir bei, indem er sich weigerte, Kredite in Höhe von zehn Milliarden Dollar freizugeben, die dafür gedacht waren, die Einwanderer aus Rußland in den besetzten Gebieten anzusiedeln.

Präsident Clinton dagegen hat die massive Intervention Israels im Südlibanon im April 1996 unterstützt und allen Beweisen zum Trotz sogar die israelische Behauptung übernommen, das Massaker von Kana (über hundert Tote) sei auf ein Versehen zurückzuführen. Clinton und sein republikanischer Gegenspieler Robert Dole wetteifern bereits darum, wer als Netanjahus besserer Verbündeter gelten darf. Und Außenminister Warren Christopher hat erklärt, Washington werde sich in seiner Haltung zur Siedlungspolitik an den israelischen Positionen orientieren. Obwohl sie offiziell an den Osloer Verträgen festhalten, bleiben die Amerikaner abwartend.

Die europäische Nahostpolitik ist dagegen sehr viel ausgewogener. Bemerkenswert erscheint zumal die eindeutige Verurteilung des blutigen Libanonfeldzugs durch den französischen Staatspräsidenten Chirac. Aber auf die Meinung der Europäer gibt man in Israel wenig.

In Israel selbst ist die oppositionelle Arbeitspartei nach dem Schock ihrer Niederlage noch immer wie gelähmt. Die arabischen Länder wiederum müßten zunächst eine einheitliche Haltung finden, um der amerikanisch-israelischen Friedensordnung entgegenzutreten, die sich wohl mit der Zeit durchsetzen wird – zum Schaden vor allem der Palästinenser. Die Regierungen der Region haben sich zum Wahlsieg des Likud überwiegend maßvoll geäußert: deutlich zwar, aber ohne Gewaltandrohung.

Der Einfluß dieser Staaten ist nicht zu unterschätzen. Immerhin haben bereits 8 von 21 Mitgliedern der Arabischen Liga diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen.1 Der „kleine Gipfel“ (Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien) am 8. Juni in Damaskus richtete eine Warnung an die neue israelische Regierung: „Eine Abkehr Israels von den Prinzipien des Friedensprozesses und den eingegangenen Verpflichtungen würde als Bedrohung verstanden, als die reale Möglichkeit der Wiederkehr von Spannungen und Gewalt in der Region.“ In diesem Sinne äußerte man sich auch wenig später am 22. und 23. Juni beim arabischen Gipfel in Kairo.

Für die arabischen Führer war es mutig, ja sogar riskant, sich für den Friedensprozeß einzusetzen – und nun kehrt ihnen Jerusalem den Rücken. Sollte man dort zu realistischen Positionen zurückfinden, so werden die arabischen Partner, soweit es sie noch gibt, sich gewiß vorsehen.

Netanjahu rechnet bei seiner Strategie mit den Gegensätzen und Meinungsverschiedenheiten in der arabischen Welt. Sein bevorzugter Partner ist König Hussein von Jordanien: Der Friedensvertrag mit dem haschemitischen Herrscher hat bei allen Israelis Zustimmung gefunden, er hat nichts gekostet, und man mußte keine besetzten Gebiete zurückgeben. König Hussein hat denn auch als einziger direkt nach dem Wahlsieg Netanjahus erklärt: „Ich sehe keinen Anlaß zur Sorge.“ Im Verlauf der letzten Monate ist Netanjahus politischer Berater Dore Gold häufig in Amman gewesen, um deutlich zu machen, daß Jordaniens Einfluß im Westjordanland nach dem Machtantritt des Likud gestärkt werden könnte – sehr zum Mißfallen der Palästinenser.

Jitzhak Rabin wollte den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten ermöglichen, sein Mörder Jigal Amir, Werkzeug der Gegner dieses Rückzugs, hat es verhindert. Mit der Wahl des neuen Ministerpräsidenten haben sich die Israelis sieben Monate nach der Ermordung Rabins entschlossen, auf dem Weg zum Frieden einzuhalten und an der Besetzung des Westjordanlandes festzuhalten. Der Attentäter Amir kann in seiner Zelle jubeln.

dt. Edgar Peinelt

1 Ägypten und Jordanien haben Botschafter mit Israel ausgetauscht, Marokko hat Verbindungsbüros in Rabat und Tel Aviv eingerichtet. Tunesien pflegt die Beziehungen über die belgischen Botschaften in Tunis und Tel Aviv, Mauretanien nimmt die Vermittlung Spaniens in Anspruch; Oman unterhält wirtschafts- und handelspolitische Vertretungen. Katar hat der Eröffnung von Wirtschaftsvertretungen zugestimmt. Und die Palästinensische Nationalbehörde knüpft derzeit Kontakte auf allen Ebenen.

* Journalist, Jerusalem. Von ihm ist erschienen: „Rabin: un assassinat politique. Religion, nationalisme, violence en Israäl“, Paris (Le Monde Éditions) 1996.

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Amnon Kapeliuk