12.07.1996

Wiederbelebung utopischer Räume

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Wiederbelebung utopischer Räume

Von

JEAN-PIERRE

SARRAZAC *

WER ist der Feind der staatlichen Bühnen? Ganz offensichtlich das neue, „liberale“ Denken, das den Rückzug des Staates aus der Kunst predigt. Außerdem der Staat, insofern er durch seinen Entzug der finanziellen Mittel alles Kreative zu ersticken droht und vor allem, insofern er die Tendenz zur Privatisierung unterstützt. Aber auch das staatliche Theater selbst, das längst seinen eigenen verknöcherten Strukturen zum Opfer gefallen ist: übermäßige Institutionalisierung, ausufernde Dezentralisierung, die Machtstellung von Produzenten und Programmgestaltern, die das Theater als „Spektakel“ inszenieren und dieser handwerklichen Kunst Geist und Methoden der Filmindustrie aufzwingen wollen; und die Versuchung bei den Theaterschaffenden im öffentlichen Bereich, sich mit den Federn – respektive dem Straß – des kommerziellen Theaters zu schmücken.1

Während uns eine Analyse der gegenwärtigen Situation eigentlich alle Hoffnung in das staatliche Theater nehmen müßte und der halbprivate, halbstaatliche Bastard, das „Einheitstheater“, uns (wie das gleichnamige „Denken“) das Fürchten lehren könnte, weist vieles auf einen neuen Anlauf hin. Es ist nämlich nicht zu unterschätzen, daß die Verantwortlichen der staatlichen Bühnen ebenso wie die subventionierten jungen Theatergruppen mittlerweile aus ihrem umfriedeten Bezirk heraustreten, um einen öffentlichen Theaterraum zu verteidigen, der mit großen Visionen bestückt einem langsamen Tod entgegensieht.

Diese Haltung zu Ende zu denken hieße, mit der zwischenzeitlich desertieren Theateröffentlichkeit wieder Kontakt aufzunehmen. Und die Theatersäle wieder zu bevölkern, die sich in den letzten Jahrzehnten in Geisterhäuser verwandelt haben. Künstler, Regisseure und Schauspieler sind kaum noch fest an einem Haus; Aufträge für Bühnenbilder und Kostüme werden nach außen vergeben: Das Theater wird nicht mehr im Theater gemacht; nur die allernotwendigste Belegschaft hält den Betrieb aufrecht. Und die Aufführungen sind nichts als die Spitze eines Eisbergs allgemeiner Leere.

Mit dem Wiederentstehen von Schauspieltruppen oder zumindest kleineren Ensembles an Stadttheatern, mit dem Anknüpfen an die frühere Praxis von Aufführungen, die in Stadtvierteln und kleinen Ortschaften auch leichtere Kost präsentierten, kurz, mit der Wiederaufnahme all dessen, was abgeschafft worden ist, scheinen jetzt einige Künstler entschlossen, das staatliche Theater, das einer langsamen Verödung anheimzufallen drohte, neu zu beleben.

Aber diese Versuche sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht mit einem politischen und künstlerischen Konzept verbunden sind, das heißt mit der Renaissance eines gewissen Pioniergeistes; mit dem Wunsch, den Vertrag mit dem Bürger als Zuschauer zu erneuern und dem Theater wieder Zugriff auf die Welt zu geben; ihm neben seiner künstlerischen Dimension die handelnde Dimension, seine transitive, sich einmischende Bestimmung zurückzugeben. Das wären die Implikationen einer möglichen Neugründung des staatlichen Theaters.

Wenn man auf die letzten fünfzehn oder zwanzig Jahre zurückblickt, entdeckt man, daß zur gleichen Zeit, da die Inszenierungskunst mit Wilson, Kantor, Stein, Gruber, Zadek, Langhoff, Chéreau, Vitez und Lassalle wahre Höhepunkte erreichte, eine Auflösung der Theatergemeinschaft stattfand: ein Übergang vom Bürger-Publikum zum Kunden-Zuschauer (bei gleichzeitiger symbolischer Ermordung des Spielleiters mit den Waffen des Lächerlichen); eine Verschiebung des Gravitationszentrums hin zum Administrativen und zur Promotion; eine „Festivalisierung“ der Programmgestaltung; eine splendid isolation des Regisseurs und Demiurgen im Zentrum einer immer feudaler werdenden Institution.

Auf der ästhetischen Ebene ist ein erstaunlicher Pendelausschlag zu beobachten: Nach den von Jean- Pierre Vincent finanzierten hyperrealistischen Fiktionen eines André Engel, die sich außerhalb des Theaters, an der Grenze zur Interaktion bewegten, nun die scharfe Kehrtwende und Rückkehr zum roten Samt und Goldbrokat eines Theaters im italienischen Stil. Offensichtlich hat es das Theater bedauert, daß es sich den Ideen eines Guy Debord („La société du spectacle“, Die Gesellschaft des Spektakels) unterworfen hat, und beginnt nun, den „semiologischen Schnitt“ (zwischen dem Zuschauersaal und der Bühne) zu feiern.2

Der Wille, zwischen dem Theater und seinem Zuschauer wieder mehr Distanz zu schaffen, mag auf Anhieb einleuchtend erscheinen – es geht hierbei um den Sinn des theatralen Akts, der den Zuschauer zu einer kritischen Einstellung veranlaßt und dazu, sich danach zu befragen, was alles in dieser Welt sich nicht von selbst versteht. Aber gleichzeitig ist es genau die Antwort, die Probleme bereitet, weil sie nicht berücksichtigt, auf welche Weise sich das „reale Theater“ (Bernard Dort) in den letzten dreißig Jahren gewandelt hat.

Bei strenger Anwendung dieser scheinbar sehr republikanischen Theorie des semiologischen Schnitts und der „Zuschauer“-Öffentlichkeit würde man Gefahr laufen, jenen „Szenokratismus“ wiedereinzuführen, den Dort gebrandmarkt hatte und gegen den sich die meisten der großen Theaterbewegungen des 20. Jahrhunderts (aus demokratischem oder anarchistischem Antrieb) so entschieden gewandt hatten. Angefangen natürlich bei Bertolt Brechts „Bühne als Aktionsund Diskussionspodium“, die, laut Walter Benjamin, „den Abgrund aufheben soll, der die Schauspieler von den Zuschauern trennt wie die Toten von den Lebenden“.

Von den utopischen Räumen des ThéÛtre du Soleil Ariane Mnouchkines und Peter Brooks ThéÛtre de l'Aquarium aux Bouffes du Nord, über Armand Gattis Erfahrungen in den „vierten Welten“ unserer Gesellschaft oder denen von Antoine Vitez seinerzeit in den Quartiers d'Ivry – alles, was an ästhetisch und politisch wirklich Dynamischem in Erscheinung getreten ist, widerlegt jene, die im Namen einer kritischen Distanz die „republikanische“ (oder doch eher monarchistische?) Rückkehr zum roten Samt und Goldbrokat, zu Rampe und Orchestergraben verfechten.

Damit das Theater wieder seinen Platz in der Gesellschaft findet, genügt es nicht, die Idee vom authentischen Zuschauer neu zu begründen (denn „je weniger Zuschauer es gibt, um so weniger Bürger wird es geben“). Man muß darüber hinaus offen sein für eine Poetik des Theaters, die zugleich aktuell und pluralistisch ist. Wozu sollte es zum Beispiel gut sein, das ganze Brechtsche Feuerwerk wieder auf die Bühne zu bringen, wenn die meisten Regisseure düstere Lektionen erteilen? Kann man, unter dem ehrenwerten Vorwand, die Kunst müsse sich im hellen Licht der Vernunft zeigen, im Theater die Aufklärung verordnen, wenn Tanguy und das ThéÛtre du Radeau, Gabily und die Gruppe T'chang' und all diese herumreisenden Theaterschaffenden, die der Kritiker Jean- Pierre Thibaudat einmal als „Theaterbanden“ bezeichnet hat, sich zentral damit befassen, die dunkelste Seite des Rätsels zu erkunden?

Wenn zahlreiche Künstler ein Theater der Immanenz fordern, so weniger, weil sie die Sinnfrage fliehen wollen, sondern um sich – und uns – stärker diesem Spiel auszuliefern, dieser Teilung des Theaters, von der schon die Rede war, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen der absoluten Präsenz des Schauspielers und der beschwörenden Kraft der Fabel. Weil der theatralische Akt mit dem Mythos verbunden ist, kann er sich nur als ein Beginn und durch Hervortreten und Intensivierung einer Präsenz verwirklichen. Anders ausgedrückt: Die Intention und der Sinn eines Schauspiels können nicht vorab existieren, sondern nur gleichsam aufgeschoben, über die ganze Dauer einer Auseinandersetzung hinweg, die sich im Bewußtsein des Zuschauers vollzieht. In dieser Hinsicht steht Brecht nicht unbedingt im Gegensatz zu Kafka (oder Beckett), insofern der „engagierte Sinn“ seines Theaters gleichzeitig ein „schwebender Sinn“ ist. Man müßte noch einmal über den langen Umweg nachdenken – und dabei das zeitgenössische Theater im Zeitraffer Revue passieren lassen –, den Heiner Müller nach seiner Entfernung von Brecht und dessen Parabeln („die Parabel ist nur eine Verlängerung des Naturalismus“), schließlich zum „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“ zurückgeführt hat, seiner letzten, nachgerade testamentarischen Inszenierung für das Berliner Ensemble – zu Brecht und der Parabel.

Der Utopie verpflichtet, hat Müller den theatralischen Akt nie von jenem tatsächlich „schwebenden“ Raum getrennt – einem winzigen Nicht-Ort, der aber das ganze Leben und Treiben der Welt ansaugt –, in dem er sich abspielt. Brechts „Arturo Ui“ als Antwort auf die kolonialistische Wiedervereinigung Deutschlands. Das Theater als „utopische Enklave“ in Innersten des Realen. Wenn es ein Widerstandspotential des Theaters gibt, dann kann es nur das sein: in unserer überfüllten Welt, in unserem von Kommunikation übersättigten Universum einen Raum zu schaffen – und sei es nur eine Nische für „Minderheiten“ –, in dem immer und immer wieder die Frage nach dem Platz des Menschen in der Gesellschaft gestellt wird.

Inszenierungen wie Patrice Chéreaus „Dans la solitude des champs de coton“ von Bernard-Marie Koltès oder Alain Françons „Pièces de guerre“ von Edward Bond geben dem Theater jene öffentliche, transitive Dimension zurück, die sein Wesen ausmacht, sich aber in einer Gesellschaft, der der öffentliche Raum mehr und mehr abhanden kommt, immer weiter verflüchtigt. Diese Funktion wird dann wieder in ihrer Evidenz und Einfachheit sichtbar: sich auf das Leben zu berufen, unser individuelles und kollektives Leben zumindest symbolisch selbst in die Hand zu nehmen und sich wieder den Ungerechtigkeiten und Katastrophen, die ihm widerfahren, zuzuwenden.

dt. Uli Aumüller

1 Über die Entwicklung des staatlichen Theaters siehe: Robert Abirached, „Le ThéÛtre et le Prince, 1981-1991“, Paris (Plon) 1992.

2 Siehe dazu: Régis Debray, „Pourquoi le spectacle?“, Les Cahiers de médiologie, Nr. 1, Paris (Gallimard), 1. Halbjahr 1996.

* Dramatiker und Direktor des Institut d'Études théÛtrales de la Sorbonne nouvelle, Paris.

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Jean-Pierre Sarrazac