12.07.1996

Die teure Treue der Berufssoldaten

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Die teure Treue der Berufssoldaten

DA sich die Juppé-Regierung in Frankreich die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben zum Hauptziel gesetzt hat, was sich bereits durch einschneidende Sparmaßnahmen im Kulturbereich bemerkbar macht, verkündete der Staatspräsident die Abschaffung des Wehrdienstes und statt dessen die Aufstellung einer Berufsarmee. Diese umfassende Reform, die ohne echte demokratische Abstimmung beschlossen wurde, könnte aber durchaus eine Steigerung des Verteidigungsetats nach sich ziehen, selbst wenn die Sollstärke der Armee vermindert wird. Als Beispiel dafür stehen die USA und Großbritannien.

Von JEAN-LOUIS DUFOUR *

Mit seiner Entscheidung, den Wehrdienst abzuschaffen und die Wehrpflichtarmee durch ein Berufsheer zu ersetzen, wollte Jacques Chirac eine weitreichende Reform mit seinem Namen verbinden. Aber im Gegensatz zu dem, was der Präsident beabsichtigt, wird die Professionalisierung der französischen Armee wahrscheinlich nicht ohne eine Steigerung der Personalausgaben zu bewerkstelligen sein, selbst wenn die Mannschaftsstärke beträchtlich sinkt.

Ein Jahrhundert galt für die Franzosen die allgemeine Militärdienstpflicht. Bis zum Jahr 2002 muß Frankreich von nun an eine ausreichende Zahl Freiwilliger finden, um die verschiedensten Stellen einer Armee zu besetzen, die als Zwangsinstitution bekannt ist. Genauer gesagt müssen die drei französischen Waffengattungen einerseits ihr überproportionales Kontingent reduzieren und sich somit von etwa 35000 Offizieren und Unteroffizieren trennen, andererseits jedoch jedes Jahr auf dem Arbeitsmarkt an die 30000 geeignete neue Kandidaten finden.

Ein Erfolg ist nicht garantiert. Sieht man von jenen seltenen Situationen in der Geschichte ab, in denen sich die Nation in Gefahr befindet, so zeigen sich die Franzosen eher zurückhaltend, wenn es darum geht, eine Uniform anzuziehen. Dazu kommt, daß sich der Waffendienst verändert hat. Um die Mannschaften zu vervollständigen, reicht es nicht mehr aus, auf die Schulversager zurückzugreifen. Heute muß der Soldat hochtechnisierte und teure Apparate bedienen können, innerhalb multinationaler Einsätze Frieden aufrechterhalten oder wiederherstellen, sich nahezu in jedem Augenblick auf eine neue Spannungssituation einstellen und ständig unter wechselnden und unvorhersehbaren Rahmenbedingungen handeln.

Für eine Armee wird es zur unabdingbaren Voraussetzung, gute Leute für ein Berufsleben zu rekrutieren, das zudem recht kurz sein wird. Die Erfahrungen anderer Nationen erlauben, eventuelle Probleme vorauszusehen, Irrtümer zu vermeiden und sich auf gewisse Enttäuschungen gefaßt zu machen, selbst wenn man den Fall der Vereinigten Staaten oder Großbritanniens – das eine fast ein Kontinent, das andere eine Insel – nicht direkt mit der Lage Frankreichs vergleichen kann, das in seiner Randlage auf dem europäischen Kontinent isoliert ist.

Für die Briten stellt die Wehrpflicht einen historischen Ausnahmefall dar, der durch die Weltkriege heraufbeschworen wurde. Kaum waren diese beendet, kehrte England zu seiner jahrhundertealten Tradition des Berufssoldaten zurück, der sich während eines großen Teils seines Lebens seinem Regiment, seinem Schiff, seiner Basis zugehörig fühlt. Ganz anders ist die Situation in den Vereinigten Staaten. Das stehende Heer hat dort keine Tradition. Die zweite Ergänzung der amerikanischen Verfassung sieht das „Recht, eine Waffe zu besitzen und zu tragen“, für einen aus Staatsbürgern zusammengesetzten „Verband“ vor. Die Wehrpflicht war lange Zeit nicht nur akzeptiert, sondern wurde als unabdingbare Sprosse auf der Karriereleiter einer vollständigen beruflichen Laufbahn gefordert; sie öffnete einem Bewerber erst den Zugang zu einem vom Staat finanzierten Hochschulstudium.

Als der republikanische Präsidentschaftskandidat Richard Nixon 1968 den „Anachronismus“ abschaffen wollte, führte er hierfür Gründe an, die denen, die der französische Präsident heute vorträgt, deutlich ähnelten. Im Vordergrund stand der Gedanke, daß die Berufsarmee zu einer technischen Notwendigkeit geworden sei. Seit dem Ende der fünfziger Jahre kündigte der Soziologe Morris Janowitz in seinem Buch „Professional Soldier“1 eine Armee der Zukunft an, die dem Zusammenspiel von gegenseitiger Abschreckung und einer durch die Technik verstärkten Arbeitsteilung Rechnung tragen sollte. Aktive Truppenteile von relativ geringer Stärke sollten, immer öfter aus Berufssoldaten zusammengesetzt, in ständiger Einsatzbereitschaft (force in being) gehalten werden, um jederzeit Operationen außer Landes durchführen zu können.

Ein bevölkerungspolitisches Argument spielte ebenfalls eine Rolle. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist der Bedarf an Soldaten in den Industriestaaten kontinuierlich zurückgegangen, und dies zu einer Zeit, in der infolge des Babybooms die Zahl der altersmäßig Einzuberufenden merklich anstieg. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt2, daß sich der Übergang zu einer Berufsarmee aufdrängt, sobald der Bedarf des Militärs 50 Prozent der potentiellen Wehrpflichtigen unterschreitet.

Andere, eher politische Beweggründe führten den amerikanischen Präsidenten zu seinem Entschluß. In ihrer Umsetzung hat sich die „Auswahlwehrpflicht“3 in Amerika als sehr ungerecht erwiesen. Und als in den sechziger und siebziger Jahren wegen des Vietnamkriegs etwas breitere Bevölkerungsschichten davon betroffen waren, wurde dieses System immer unbeliebter. Weil die in Amerika praktizierte Wehrpflicht sich unendlich kompliziert gestaltete, war für Richard Nixon der Wunsch nach einer Berufsarmee, und damit nach einer Vereinfachung des Systems, ein Argument, für das sich die Wähler nun empfänglich zeigten: 1972 unterstützten nur noch 13 Prozent der Amerikaner die Wehrpflicht. Ein im März 1947 gestarteter erster Versuch, eine Berufsarmee einzurichten, scheiterte schon im Juli des folgenden Jahres jämmerlich. Ein Vierteljahrhundert später fiel die Reform wesentlich leichter.

Gehegt und gepflegt

MIT dem 30. Juni 1973 war das amerikanische Gesetz zur Wehrpflicht abgeschafft. Die letzten Wehrpflichtigen waren zum vorangegangenen 1. April eingezogen worden. In Großbritannien war dies zehn Jahre früher geschehen. Die Schwierigkeiten waren übrigens in beiden Ländern sehr ähnlich. Bis auf seltene Ausnahmen waren Freiwillige nie in ausreichender Zahl vorhanden, die Qualifikation ließ fast immer zu wünschen übrig.

Dieses Rekrutierungsproblem trifft die verschiedenen Waffengattungen unterschiedlich. Marine und Luftwaffe sind wegen der Technik und des Prestiges wesentlich beliebter als das Heer. Im Dezember 1995 meinte der Militärattaché der Britischen Botschaft in Frankreich, der größte militärische Irrtum seines Landes im vergangenen halben Jahrhundert sei gewesen, die Wehrpflicht abzuschaffen. Der britische General bedauerte die Streichung von 10000 Stellen für einfache Soldaten durch den Finanzminister, tröstete sich jedoch mit der Bemerkung, daß diese Plätze mangels Kandidaten ohnehin unbesetzt geblieben wären.

Gerade jetzt, da in Frankreich die britische Armee als Beispiel angeführt wird, befindet diese sich in einer heiklen Lage. Bei einer Sollstärke von 120000 Mann fehlen 15000 Soldaten. Die weniger technisierten Truppenteile, die an vorderster Front kämpfen (Infanterie, Kavallerie, Artillerie), sind am stärksten betroffen. Seit 1991 gibt es für diese Bereiche immer weniger Freiwillige. Im Vergleich zum Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre sanken 1995 die Zahlen bei der Infanterie um 42 Prozent, bei den Panzertruppen um 30 Prozent und bei der Artillerie um 18 Prozent. Selbst gewisse Eliteregimenter, die oft außerhalb der Landesgrenzen dienen, sind davon betroffen, wenn auch weniger stark.

Operationen mit Expeditionscharakter sind für den militärischen Nachwuchs förderlich, werden aber immer seltener. Seit mindestens zehn Jahren sind 75 Prozent des britischen Heeres auf heimischem Boden stationiert. Die ansehnlichen beruflichen Vorteile (kostenloses Wohnen, billige Lebensmittel, Prämien bei Anwerbung und Weiterverpflichtung) haben keine merklichen Auswirkungen. Die Armee kann nicht einmal mehr in Schichten mit geringer Schulbildung und sehr schlechtem Einkommen, aus denen sich die Bodentruppen im allgemeinen zusammensetzen, ausreichend rekrutieren. Auch die Arbeitslosigkeit hat merkwürdigerweise die Anwerbung nicht erleichtert. Um ihre Sollstärke zu halten, ist die britische Armee darauf angewiesen, wieder nepalesische Gurkha zu verpflichten.

Die amerikanische Armee erlebt nach einigen schwierigen Durststrecken jetzt einen relativen Aufschwung. Dennoch sind Soldaten aus den unteren sozialen Schichten sowie rassische, ethnische und sprachliche Minderheiten dort viel stärker vertreten als in der übrigen Gesellschaft. Die amerikanische Armee spiegelt daher nicht mehr die ganze Nation wider, sondern eher die der Armen, der Außenseiter und der Ausgeschlossenen. 1996 lag der Anteil der schwarzen Soldaten in den Kampfeinheiten bei 26 bis 40 Prozent. Und wie in England hat die Arbeitslosigkeit auf die Zahl der Freiwilligen wenig Einfluß. Die Rekrutierung bleibt schwierig. Beim Heer müssen jedes Jahr 18 Prozent der Sollstärke, 90000 Mann, neu rekrutiert werden, um die sehr hohe Fluktuation auszugleichen. Die „Lebensdauer“ eines amerikanischen Bodensoldaten beträgt nicht mehr als fünfeinhalb Jahre (im britischen Heer sind es nur viereinhalb). Und daß sich viele verpflichten, weil der Staat etliche Ausbildungsjahre finanziert, kann teuer zu stehen kommen: Die bewilligten Investitionen zur Ausbildung der Rekruten machen sich durchaus nicht immer bezahlt.

Das Pentagon mußte außerordentliche Anstrengungen unternehmen, bevor 1995 endlich die erforderliche Mannschaftsstärke erreicht werden konnte. Dabei scheuten die USA keine Opfer: Der Sold wurde um 60 Prozent (im Vergleich zu dem der Wehrpflichtarmee) heraufgesetzt, die Anwerbungsprämie stieg auf 3000 Dollar, der Etat für die Anwerbung wurde um 80 Prozent aufgestockt und die Zahl der für die Ausbildung zuständigen Offiziere um 160 Prozent erhöht. Doch selbst diese Maßnahmen reichten nicht aus. 1979 fehlten dem Heer immer noch 19000 Anwärter. Daher setzte man die Anforderungen an Schulbildung und Qualifizierung weiter herab. Zu Beginn der achtziger Jahre war das Niveau der Rekruten so niedrig, daß die Disziplin kaum herzustellen war, was wiederum zur Folge hatte, daß Unteroffiziersbewerber immer seltener wurden.

Unter Präsident Ronald Reagan wurde das mit einem kräftig erhöhten Budget ausgestattete Pentagon wieder handlungsfähig. Der für die Anwerbung verantwortliche US Army Recruiting Command (USAREC) verstärkte seine Anstrengungen. Diese große Abteilung mit 11000 Beschäftigten und einem Etat von 121 Millionen Dollar (1996) arbeitet wie ein kommerzielles Unternehmen und ist vollständig dezentralisiert, anpassungsfähig und auf dem gesamten US-amerikanischen Territorium vertreten. Bei gleichbleibendem Etat wird die Höhe der Prämien und ihre Vergabe den jeweiligen Erfordernissen angepaßt: So können die höchsten Prämien bei Bedarf den am wenigsten Qualifizierten zugesprochen werden, also Bewerbern für die Kampftruppen, die in der Armee kaum eine geeignete Ausbildung erhalten, mit der sie später im Zivilleben etwas anfangen können. Wichtigstes Ziel ist dabei die Produktivität. Die Zahl der Ausbildungsoffiziere wird je nach dem erreichten oder gewünschten Ziel erhöht oder vermindert. Alle für notwendig erachteten Werbemöglichkeiten werden genutzt. Den Angeworbenen stehen überall, wo sie ihren Dienst versehen, spezielle Banken der Armee zur Verfügung, wo sie Rat und Verständnis finden und ihnen Kredite zu Vorzugszinsen gewährt werden. In Tuzla, wo sich das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Bosnien befindet, gibt es direkt im Quartier Reisebüros, die ein Treffen des beurlaubten Soldaten mit seiner Familie oder anderen Personen organisieren.

Wer sich bei der Armee bewirbt, kann auch sicher sein, eine gute Berufsausbildung zu erhalten. Selbst wenn er die Uniform an den Nagel hängt, kann der ehemalige Soldat noch einige Zeit vom Verbindungsnetz der Armee profitieren – der Wohnung, den günstigen Krediten, der Hilfe bei der Einschulung seiner Kinder, der kostenlosen Behandlung in den Militärkrankenhäusern. Die amerikanische Armee hat sich auch erfolgreich darum bemüht, Frauen die Uniform schmackhaft zu machen: Der Frauenanteil beim Heer beträgt zur Zeit 13,7 Prozent.

Bei der parlamentarischen Anhörung zur Reform des Wehrdienstes hat General Maurice Schmitt, ehemaliger Stabschef der Armee, den Abgeordneten vorausgesagt, daß ein Rekrut des neuen Typs 50 Prozent teurer werde als ein bisheriger. Diese Schätzung ist eher zu niedrig. Eine Berufsarmee benötigt ein ganzes Umfeld, das erst aufgebaut werden muß. Massenunterkünfte und spartanischer Lebensstil haben keine Zukunft. Gehegt und gepflegt will er sein, der Berufssoldat.

Wenn in Frankreich eine Berufsarmee entstehen soll, die diesen Namen verdient, muß auch der entsprechende finanzielle Aufwand genehmigt, getragen und auf Jahre hinaus gewährleistet sein. Diese Neuerung muß von einer Veränderung in den Köpfen begleitet sein, von einer neuerlichen Hochachtung des Landes für jene, die sich für den Waffendienst entscheiden. Wenn diese grundlegende Veränderung der Armee durch einen konsequenten politischen Willen unterstützt wird, kann Chiracs Vorhaben durchaus Erfolg haben.

dt. Christophe Zerpka

1 Morris Janowitz, „Professional Soldier: A Social and Political Portrait“, New York (Free Press) 1960.

2 Hierzu vor allem Bernard Boäne, „Conditions d'émergence et de développement d'une sociologie spécialisée: Le cas de la sociologie militaire aux Etats- Unis“, Dissertation, Université Paris V (René Descartes) 1995.

3 Die Auswahlwehrpflicht erlaubt es, nur die notwendigsten und ausreichend qualifizierten Rekruten zu nehmen und andererseits solche zu befreien, die eine „für das Land besonders wichtige“ Ausbildung abgeschlossen haben. Ein solches System führt sehr schnell zu Ungerechtigkeiten, vor allem dann, wenn die Truppe in Übersee eingesetzt werden muß.

* Berater für militärische und strategische Fragen. Autor von „Crises internationales de Pékin (1900) à Sarajevo 1995)“, Brüssel (Complexe) 1996.

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Jean-Louis Dufour