Für ein Europa der Bürgerinnen
Von
ÉLIANE
VOGEL-POLSKY *
EUROPÄISCHE Gipfeltreffen stoßen auf ein unterschiedliches Medienecho. Der Gipfel vom 16. bis 18. Mai in Rom etwa, der die Rolle der Frau bei der politischen und gesellschaftlichen Erneuerung zum Thema hatte, wurde kaum zur Kenntnis genommen. Seit der Konferenz von Athen 1992, die dem gleichen Thema gewidmet war, haben sich die Einstellungen, die Verhaltensweisen und der politische Wille weiterentwickelt. Die vierhundert Teilnehmerinnen der diesjährigen Konferenz, die auf Initiative Italiens zusammenkamen, aus allen gesellschaftlichen Bereichen und Organisationen entstammen und teilweise hohe Posten bekleiden, einigten sich auf ein gemeinsames Programm: die Europäische Union zu nutzen, um der Ausgrenzung von Frauen aus den Machtzentren ein Ende zu setzen. Die von den Ministerinnen der verschiedenen EU-Regierungen am 18. Mai 1996 unterzeichnete Charta spiegelt diese Entschlossenheit: In allen europäischen Institutionen und Politikbereichen soll die Kategorie „Geschlecht“ eingeführt werden.1 Damit rührt man am Kern der EU-Bürgerschaft und der Bedingungen ihrer Umsetzung.
Den Frauen gemeinsam sind ihre Lebenserfahrung und ihr Identitätsbewußtsein. Diese beruhen auf geschlechtlich definierten gesellschaftlichen Beziehungen, die sich durch alle Lebensbereiche ziehen. Die männliche Überlegenheit ist, wie Anthropologen feststellten, schon seit frühester Zeit fest in der Mentalität der Menschen verankert.2 Die feministischen Gender Studies zeigten darüber hinaus, welche Ausdifferenzierungen die Geschlechtertrennung mit sich brachte.3 Zwei Bereiche bleiben aber nach wie vor unempfänglich für solche Theorieansätze, das Recht und die Politikwissenschaft – obgleich in Europa am Ende dieses Jahrtausends allenthalben lebhafte Diskussionen über Demokratie, Staatsbürgerschaft, Gleichheit und Universalität stattfinden.
Das Gleichheitsprinzip begründet die (liberale, sozialdemokratische wie republikanische) Demokratiekonzeption. Es formuliert aber auch den Kern der feministischen Utopie: die Kritik an der männlichen Vorherrschaft und die Forderung nach einem strikten Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Die Frauen stellen keine homogene unterdrückte Gruppe dar, wie es etwa Sklaven, Schwarze, Juden, Ureinwohner, Homosexuelle, ethnische Minderheiten und so weiter in verschiedenen Phasen der Geschichte gewesen waren – Gruppen also, denen am Leitbild der jeweiligen Epoche gemessen eine Andersartigkeit zugesprochen wurde, um ihnen den Status vollwertiger Bürger abzusprechen. Diese repressiven Gemeinschaften waren selbst geschlechtsspezifisch strukturiert, was für ihre jeweilige weibliche „Hälfte“ zusätzliche Schikanen bedeutete und ihren Bürgerstatus noch weiter abwertete.4
Doch auch die Demokratien sind von geschlechtsspezifischen Beziehungen zutiefst geprägt. Begriffe wie Universalität, Freiheit und Gleichheit sind unterschiedlich definiert und gefüllt, je nachdem, ob sie auf Männer oder Frauen angewandt werden. Das Verhältnis zur Macht unterliegt der Logik gesellschaftlicher Arbeitsteilung, einer geschlechterspezifischen Rollenzuteilung, der Trennung zwischen politisch und privat sowie der Kluft zwischen dem theoretischen Konzept gleichberechtigter Staatsbürgerschaft und der demokratischen Praxis.
Daß die Frauen auf den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungsebenen der Institutionen der EU wie ihrer Mitgliedsländer nur schwach vertreten sind, ist allgemein bekannt, dokumentiert und analysiert: 51,3 Prozent der Bevölkerung sind demnach ausgegrenzt. Trotz beträchtlicher Verbesserungen beim Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Gesundheitsleistungen sowie unbestrittenen Fortschritten auf rechtlicher Ebene werden die Ungleichheiten beständig reproduziert.
In Nordeuropa ist es weder den Frauen Schwedens noch denen der Nachbarländer gelungen, das Geschlechterverhältnis zu verändern. Und das, obwohl sie mit ihrer Parlamentsvertretung von fast der Hälfte der Sitze weltweit führend sind: In Schweden sind 41,1 Prozent der Abgeordneten Frauen, in Finnland 33,5 und in Dänemark 32,9 Prozent. Auch im Europäischen Parlament sind die Skandinavierinnen stark vertreten: 62,5 Prozent für Finnland, 43,7 Prozent für Dänemark und 40,9 Prozent für Schweden.
Doch wie in allen neokorporatistischen Systemen haben sich auch in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten die sozialen Konflikte verlagert und spielen nicht mehr auf den traditionellen Ebenen. Bestimmte Interessengruppen (Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen), in denen die Frauen in der Minderheit sind, erlangten damit ein tatsächliches Monopol auf wirtschaftliche und soziale Entscheidungen. Die Männer dominieren auch in der Verwaltung und in den Gruppierungen (wie Verbraucherverbänden, Kirchen und sozialen Einrichtungen), die für eine Neuorientierung der wohlfahrtsstaatlichen Politik verantwortlich zeichnen. Dieses System hat nur dazu geführt, daß der staatliche Einfluß an die Stelle eines privaten patriarchalen Abhängigkeitsverhältnisses getreten ist, während zugleich die weiterbestehende Trennung im Wirtschaftsbereich die Frauen von den Sozialverhandlungen ausgeschlossen hat. Diese werden in den skandinavischen Ländern als geschlechtlich definiertes politisches „Thema“ behandelt. Der Staat kümmert sich um sie als besondere „Problemgruppe“, die des Schutzes und geeigneter Förderung bedarf.5 In gewissem Sinne handelt es sich also um eine „positive“ Diskriminierung, die sich jedoch gegen die Frauen kehrt, da sie weiter als getrennte Gruppe behandelt werden, was der Gleichstellung oder Assimilation widerspricht.
Skandinavien ist also auch kein Paradies oder Sonderfall. Die Erfahrung dieser Länder zeigt die Grenzen des Gleichstellungskonzepts, wie es sich bei den engagiertesten Menschen in Europa durchgesetzt hatte. Für die Umverteilung von Mitteln, für Beschäftigungsprogramme, Bildung, Werbekampagnen in den Medien und so weiter wurde ein beträchtliches Budget bewilligt. Der Nordische Rat (Schweden, Norwegen, Dänemark, Island und Finnland) bekräftigt regelmäßig die Gleichstellung von Mann und Frau als vorrangiges Ziel. In Schweden wurden zu diesem Zweck sieben Verfassungsänderungen auf den Weg gebracht. Eine Vermittlerfigur hat die Befugnis, die Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes in der Arbeitswelt zu kontrollieren. Dennoch gab es 1993 nur in 5 von 52 Beschäftigungszweigen Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen.6
Seit den siebziger Jahren wurden in allen EU-Ländern Gesetze eingeführt, die im sozialen Leben, in Ausbildung und Familie ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern herstellen sollten. Die Regierungen richteten eigene Ministerien ein, die zum Teil nur mit dieser Aufgabe, zum Teil auch mit anderen Bereichen wie Familie und Jugend (Deutschland) oder Beschäftigung (Großbritannien, Irland, Belgien) betraut waren. Sie gingen von einem antidiskriminatorischen Ansatz aus und sollten die Integration von Frauen in die Politik fördern. Ein Vierteljahrhundert später ist die Spaltung noch immer vorhanden und unterliegt sogar den Einflüssen der veränderten gesellschaftlichen Lage (wachsende Armut, Familien mit nur einem Elternteil) beziehungsweise der Beschäftigungssituation (Flexibilisierung und ungesicherte Arbeitsverhältnisse).
Warum ist nach einem Vierteljahrhundert staatlich verordneter Frauenfreundlichkeit die Gleichstellung zwischen Mann und Frau noch immer nicht verwirklicht? In den verschiedenen umkämpften Bereichen wie Bildung, Beruf, Lohn, Sexualität (das Recht auf Verhütungsmittel und Abtreibung, die Ächtung von sexueller Belästigung, Gewalt und Verstümmelungen), konnten nur Teilerfolge erzielt werden, die nicht einmal dauerhaft gesichert sind. „Für Europa wie für die Einzelstaaten stellt sich die Frage, was die Gleichstellung beinhaltet und ob sie sich nicht, wie in La Fontaines Fabel von den Störchen und dem Wolf, lediglich großzügig gibt, ohne in Wirklichkeit etwas abgeben zu wollen“, schreibt die Philosophin Françoise Collin.7
Der Impuls, den die Europäische Gemeinschaft gegeben hat, um die rechtlichen Grundlagen der Gleichstellung auszubauen, ist unbestreitbar. Das Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (Gemeinsamer Markt, Montanunion und Euratom) in dieser Frage basieren auf Artikel 119 der Römischen Verträge (1957): „Jeder Mitgliedsstaat wird während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten.“ Seither wurde er in sechs Richtlinien bekräftigt.8 Diese Maßnahmen dienen oft als Aushängeschild der europäischen Sozialpolitik. Doch bei genauerer Überprüfung werden die konzeptionellen Schwächen des Prinzips der Nichtdiskriminierung sichtbar. Es hat eine „Negativ“-Wirkung, insofern sich damit offensichtliche Formen von Diskriminierung bekämpfen lassen, es ist jedoch nicht „positiv“ im dem Sinne, daß es ein autonomes Frauenrecht schaffen könnte. Ebensowenig kann es die indirekten oder subtileren Ungleichheiten beseitigen, die sich aus dem Geschlechterverhältnis ergeben.
Der geschlechtsspezifische Charakter von Diskriminierung wird je nach der Rechtstradition eines Staates und den gesellschaftlichen Werten unterschiedlich beurteilt. Doch nirgends erscheint die Gleichstellung von Mann und Frau als ein Grundrecht. Überall liegt die Beweislast für die Mißachtung des Gleichheitsgrundsatzes beim Opfer. Außerdem erlauben es die den beiden Geschlechtern zugeschriebenen Rollen zumeist, indirekte Diskriminierungen „objektiv“ zu rechtfertigen.
Können die 186 Millionen EU-Bürgerinnen also ihre kollektive Hoffnung auf den europäischen Einigungsprozeß und die Ende März in Turin eingeleitete Revision des Maastricht-Vertrages setzen? In diesem Vertrag wurde die EU-Bürgerschaft (für Männer und Frauen) als verstärkter Schutz der Rechte und Interessen der EU-Angehörigen definiert. Dieses Ziel wird ergänzt durch drei Prinzipien: Die Union respektiert die Grundrechte und Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten sowie deren jeweilige demokratische Prinzipien; und sie stattet sich mit den „erforderlichen Mitteln“ aus, um diese Ziele verwirklichen zu können. Wenn man sich die EU-Institutionen in ihrer Zusammensetzung, ihren finanziellen Mitteln und ihrem Funktionieren genauer ansieht, kommt man bedauerlicherweise zu dem Schluß, daß diese Mittel entschieden zu gering ausfallen.
Wenn die Gleichheit zwischen Frau und Mann eine wichtige Grundlage der Demokratie darstellt, müssen auch die erforderlichen rechtlichen und institutionellen Maßnahmen getroffen werden. Der Ausschluß von Frauen aus der Politik, die Tatsache, daß sie in den Entscheidungsgremien nicht und in den Regierungen und wirtschaftlichen Machtinstanzen kaum vertreten sind, wird nur zu selten als das analysiert und gesehen, was es ist: ein untragbarer Makel für die Demokratie. Durch den Widerspruch zwischen der Anerkennung des Gleichstellungsprinzips von Mann und Frau und seinem institutionellen Funktionieren (das Verhältnis von Frauen zu Männern betrug am 1. Januar 1996 beispielsweise 149 zu 1106 bei den leitenden Angestellten, 11 zu 210 in führenden Funktionen; im Gerichtshof oder in der Europäischen Investitionsbank ist keine Frau in Führungspositionen vertreten) läßt die EU die kollektive Heuchelei der demokratischen Systeme der Mitgliedsstaaten noch deutlicher hervortreten.
Mit der Aufnahme der EU-Bürgerschaft in den Vertrag von Maastricht ergibt sich die Möglichkeit, diese (für Männer und Frauen) neu zu gestalten, damit die Voraussetzungen für die Bürgerrechte und für deren Garantie und Kontrolle im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und privaten Bereich voll gewährleistet werden. Die Europäerinnen müssen sich in erster Linie mit den Gemeinschaftsinstitutionen auseinandersetzen, um die Demokratie in ihrem jeweiligen Land, insoweit es den Verträgen oder den von den Mitgliedsstaaten in Brüssel beschlossenen Richtlinien unterliegt, mit neuem Inhalt zu füllen. Daß seit kurzem die Gleichberechtigung in der Politik Einzug hält9, verleiht dem Projekt, die EU-Bürgerschaft nicht nur als etwas Passives und Virtuelles zu begreifen, neuen Auftrieb.
dt. Birgit Althaler
1 Plan d'action pour une participation équilibrée des femmes et des hommes à la prise de décision, Unité d'égalité des chances, Europäische Kommission, Brüssel 1996.
2 Françoise Héritier, „Masculin, féminin : la pensée de la différence“, Paris (Odile Jacob) 1995.
3 Thomas Laqueur, „La Fabrique du sexe“, Paris (Gallimard) 1992.
4 Jean Vogel, in: Éliane Vogel-Polsky, Jean Vogel und Véronique Degraef, „Les Femmes et la citoyenneté européenne“, Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1994, V/233/94, FR.
5 Dorothy Mac Bride Stetson und Amy G. Mazur (Hrsg.), „Comparative State Feminism“, London (Sage) 1995; Christine Delphy (Hrsg.), „Les Femmes et l'Etat“, Nouvelles questions féministes, Nr. 6-7, Paris 1984.
6 Ingrid Carlander, „Die Skandinavierinnen lassen nicht locker“, Le Monde diplomatique, September 1995.
7 Françoise Collin, „Les femmes et la construction européenne. Egalité? Parité?“, Les Cahiers du GRIF, Paris 1994.
8 Zwischen 1975 und 1992, und zwar im Bereich der Löhne, der Beschäftigung, der Ausbildung und der Mutterschaft. In drei Gemeinschaftsprogrammen wurde ebenfalls versucht, den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen zu fördern.
9 Gisèle Halimi, „Un référendum pour les femmes“, Le Monde diplomatique, Oktober 1994; Françoise Gaspard, Anne Le Gall und Claude Servan- Schreiber, „Au pouvoir, citoyennes! Liberté, égalité, parité“, Paris (Le Seuil) 1992; Marie-Victoire Louis (Hrsg.), „L'actualité de la parité“, Projets féministes, Nr. 4-5, Paris 1996; „Le Manifeste des Dix pour la parité“, L'Express, 6.-12. Juni 1996.
* Professorin an der Freien Universität Brüssel.