12.07.1996

Europäer in der Sparfalle

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Europäer in der Sparfalle

■ Mittlerweile leben 18 Millionen Arbeitslose und 55 Millionen Arme in Europa; die 15 Mitgliedsländer der Europäischen Union jedoch haben bei ihrem Treffen am 21. und 22. Juni in Florenz nichts

Mittlerweile leben 18 Millionen Arbeitslose und 55 Millionen Arme in Europa; die 15 Mitgliedsländer der Europäischen Union jedoch haben bei ihrem Treffen am 21. und 22. Juni in Florenz nichts Eiligeres zu tun, als den Entwurf eines gemeinsamen Programms zur Beschäftigungsförderung unter den Tisch fallen zu lassen. Während Japan gerade mittels eines mutigen Plans zur konjunkturellen Ankurbelung seine Wirtschaft aus der Rezession katapultiert, legen die Europäer immer neue deflationistische Rezepte vor, für die sie von den internationalen Wirtschaftsorganisationen mit ihrem blinden Glauben an neoliberale Theorien Rückendeckung erhalten. In ihrem Bemühen, die Haushaltsdefizite zu senken, um die Märkte zufriedenzustellen, sind die Länder des Alten Kontinents nur allzu bereit, den Vorgaben der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik zu folgen, an die sie beim jüngsten Treffen der G7 am 27. und 28. Juni in Lyon erneut gemahnt wurden. Dabei laufen sie Gefahr, eine neue Welle sozialer Proteste auszulösen, auf die die französischen Streiks vom vergangenen Dezember bereits einen Vorgeschmack gegeben haben.

Von CHRISTIAN DE BRIE

ANGESICHTS der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft und der zunehmenden Liberalisierung des Handels sind die Unternehmen aller Länder immer stärker dazu verpflichtet, ihre Produktions- und Vertriebsstrukturen anzupassen, um mit dem wachsenden Konkurrenzdruck Schritt halten zu können. Die Regierungen der entwickelten Länder können diese strukturelle Anpassung erleichtern, indem sie ein günstiges makroökonomisches Umfeld schaffen.“1 Dieser Rat stammt vom Generalsekretär der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad). „Strukturanpassung“? Wird nun auch Europa von jenen berühmten Programmen der Weltbank profitieren, deren „Vergünstigungen“ bislang ausschließlich den Ländern der Dritten Welt zugute kamen? Seit den achtziger Jahren haben Dutzende von Ländern diese Programme befolgt, so in den südlich der Sahara gelegenen Regionen Afrikas, im Maghreb, im Nahen Osten, in Südostasien, in Lateinamerika, in den meisten Fällen unter Zwang, doch mit wachsendem Erfolg.

Die Berichte der Bank bestätigen dies, doch die Völker der betroffenen Länder, die in ihrer überwiegenden Mehrheit in Armut und Abhängigkeit verharren, lesen sie leider nicht. Sie würden darin überzeugende Gründe finden, weshalb sie zufrieden sein sollten. Zwar werden mangels Geld immer seltener nationale Statistiken über das Einkommensniveau, die Ernährung, über Gesundheit oder Bildung erstellt, die die Vorteile der Programme belegen könnten. Dafür werden die einzelnen Länder wie in einem Reiseführer mit Sternen versehen, deren Zahl Auskunft darüber gibt, mit welchem Eifer die jeweilige Regierung die von den Strukturexperten verordneten Maßnahmen anwendet, ganz gleich, welches die Folgen für die betroffene Bevölkerung sind.2 Öffnung für den internationalen Handel und für ausländisches Kapital, dessen Zustrom durch spezielle Anreize gefördert wird; Abschaffung von Preiskontrolle und Subventionen; Verringerung der staatlichen Ausgaben – vor allem für soziale Absicherung und Bildung – zusammen mit einer drastischen Senkung der Zahl der Staatsbediensteten und ihrer Bezüge; Herabsetzung der Körperschaftssteuer, der Vermögenssteuer und der Spitzensteuersätze; Privatisierung des öffentlichen Sektors; Deregulierung, vor allem bei den Arbeitsbedingungen und den Löhnen: dies sind die Hauptbestandteile der Strukturanpassung.

Eine bittere „Medizin“. Die Länder Westeuropas haben sie bereits in starken Dosen genossen, und jetzt soll die Behandlung in die nächste, brutalere Phase treten. Das geschieht mittels einer beispiellosen Offensive: Politik, Verwaltung, Unternehmer, Intellektuelle und Medien – alle Kräfte werden eingespannt, damit die Gesellschaften auch die nächste Dosis „Einsparungen“ und „Verzichtsleistungen“ ohne soziale Revolten schlucken.

Europäer aller Länder

Fortsetzung von Seite 1

Auch die Kommission in Brüssel startet im Namen des Maastrichter Vertrags und der Einführung der Einheitswährung zum 1. Januar 1999 eine Kampagne, um einigermaßen rücksichtslos Zwangsderegulierungen und die Marktöffnung von Unternehmen der öffentlichen Hand voranzutreiben (Telekommunikation, Elektrizität, Schienen- und Luftverkehr). Ihr geht es darum, Maßnahmen zur Verringerung des Haushaltsdefizits zu unterstützen, damit das im Vertrag geforderte Niveau von höchstens drei Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes erreicht wird; derzeit liegt es im Durchschnitt aller EU-Mitgliedsländer bei 4,4 Prozent.

Die Wachstumsprognosen sind jedoch zu bescheiden, um den dadurch ausgelösten Druck abfedern zu können. So wird die Arbeitslosigkeit in den Jahren 1996 und 1997 voraussichtlich bei etwa 11 Prozent der aktiven Bevölkerung, also rund 18 Millionen Menschen, verharren. Laut Vorhersage der Kommission „dürfte sie in Deutschland und in Österreich deutlich zunehmen (...). Auch in Frankreich, in Belgien und in Portugal könnte sich die Situation verschlechtern.“4 Der Präsident der Kommission, Jacques Santer, hat vorgeschlagen, einen „Vertrauenspakt für Beschäftigung in Europa“ zu schließen. Er stellte ihn zunächst dem Parlament in Straßburg, dann der trilateralen Konferenz von Ministern, Unternehmern und Gewerkschaften am 14. und 15. Juni in Rom und schließlich auf dem EU-Gipfel in Florenz am 21. und 22. Juni vor (siehe den Artikel von Hubert Bouchet, Seiten 10 und 11). Im Grunde ist dies jedoch ein Pakt gegen Beschäftigung, da Santer sich im wesentlichen für eine größere Flexibilität der Arbeitsbedingungen, insbesondere der Arbeitszeiten, sowie für Kürzungen der Staatsausgaben und für Steuersenkungen einsetzt.

Diese Forderungen werden von der Expertengruppe für Wettbewerbsfähigkeit (competitiveness advisory group) geteilt. Diese Gruppe setzt sich zusammen aus den Chefs multinationaler Unternehmen, ehemaligen Ministern und hohen Beamten sowie aus Gewerkschaftsvertretern; geleitet wurde sie bis zu dessen Berufung zum Schatz- und Haushaltsminister in der neuen italienischen Regierung von Carlo Azeglio Ciampi, dem ehemaligen Premierminister und Präsidenten der Bank von Italien. Auch diese Kommission schlägt „Sozialbündnisse“ vor, die zusätzlich eine beträchtliche Senkung der Arbeitskosten, vor allem der Sozialabgaben, eine zurückhaltende Lohnpolitik und die Infragestellung des Mindestlohns, eine stärkere geographische Mobilität der Beschäftigten sowie eine Neubewertung der Sozialgesetzgebung unter dem Kosten- Nutzen-Aspekt enthalten. Unter diesen Umständen mag man sich fragen, wie denn ein antisozialer Pakt aussehen würde, es sei denn, wir hätten es hier mit einer neuen Variante des unnachahmlichen Unternehmerhumors zu tun, der Massenentlassungen einen „Sozialplan“ nennt.

„Nicht mehr alles schlucken“

SO werden überall in Europa nach und nach Maßnahmen zur Strukturanpassung eingeleitet, die jedoch nie bei ihrem wahren Namen genannt werden.

In Deutschland will Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinem am 26. April vorgelegten „Sparpaket“ vor allem den Älteren, den Kranken, den Arbeitslosen und den Familien in die Tasche greifen, auf die 1997 Einsparungen in Höhe von 50 Milliarden Mark zukommen sollen. Gleichzeitig ist geplant, wegen der konjunkturellen Flaute und der geringeren Steuereinnahmen den Haushalt zusätzlich zu kürzen oder die Mehrwertsteuer von 15 auf 17 Prozent zu erhöhen. Am 23. Januar hatte Kohl ein „Bündnis für Arbeit und Standortsicherheit“ mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden geschlossen, das letztere inzwischen einseitig aufgekündigt haben. Das Programm richtet sich gegen die Verpflichtung, Arbeitsplätze zu erhalten und 300000 neue Stellen zu schaffen: Es sieht die Verringerung der Lohnnebenkosten, größere Flexibilität bei Beschäftigung und Löhnen, die Heraufsetzung des Rentenalters und geringere Pensionsansprüche, die Senkung der Arbeitslosenunterstützung und eine Verringerung der Abgaben für die Unternehmen (Körperschaftssteuer und Vermögenssteuer) vor. Diese Maßnahmen möchte der Finanzminister durch ein Gesetz zur Begrenzung des Haushaltsdefizits ergänzen, während der allmächtige Präsident der Bundesbank sie ohnehin für unzureichend hält.

In Italien wird die rigide Sparpolitik, die 1993 mit der Abkoppelung der Löhne von der Preisentwicklung eingeleitet und mit Haushaltskürzungen sowie einer radikalen Reform des Rentensystems durch die „Techniker“-Regierung von Lamberto Dini fortgesetzt wurde, unter der Mitte- Links-Regierung weiter verschärft. Regierungschef Romano Prodi hat einen „Sparkurs“ und „zusätzliche Opfer“ versprochen, um im Eiltempo auf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zuzusteuern. Bis zur Vorlage des Wirtschafts- und Finanzplans für die Jahre 1997 bis 1999 sorgt eine Haushaltskommission zunächst für eine Senkung des Defizits, indem sie die Ausgaben für Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die Subventionen für staatliche Unternehmen kürzt. Zugleich ist eine neue Privatisierungswelle angekündigt und soll die Steuerlast für zwei weitere Jahre auf dem derzeit hohen Niveau gehalten werden.

In Spanien will die konservative Regierung unter José Maria Aznar „die Politik der haushaltspolitischen Anpassung vollenden“, indem die Ausgaben auch für das Bildungswesen gekürzt, Stellen für Staatsbedienstete eingespart und Subventionen für Unternehmen der öffentlichen Hand abgebaut werden. Das Ganze wird mit spürbaren Steuersenkungen für die Privatwirtschaft und für Kapitaleigner garniert und von Industrieminister Josep Piqué durch die Ankündigung eines umfangreichen Programms von Privatisierungen, „Liberalisierungen und Deregulierungen“ ergänzt.

In Belgien wurde Premierminister Jean-Luc Dehaene am 13. Mai vom Parlament mit einer Sondervollmacht ausgestattet, um unter dem Schlagwort „Modernisierung“ sein Sparpaket durchzusetzen. Dies bedeutet die Verringerung der Ausgaben und Sozialleistungen sowie den drastischen Abbau des Haushaltsdefizits durch Kürzung der Subventionen im öffentlichen Dienst, der Investitionen und der laufenden Kosten in der Ministerialverwaltung. Im Februar hat die Ankündigung, daß in frankophonen Gymnasien 3000 Stellen gestrichen werden sollen, einen Streik von noch nie dagewesenen Ausmaßen ausgelöst.5

In Frankreich führt die Regierung von Alain Juppé, ungeachtet der Widerstandsbewegung vom letzten Winter, ihre Pläne zur Aushöhlung des öffentlichen Sektors unbeirrt fort.6 Unter dem Druck der Märkte, die ungeduldig die Fähigkeit der Regierung in Zweifel zogen, die soziale Opposition in die Knie zu zwingen, hat sie sich in Deregulierungen und in die beschleunigte Privatisierung staatlicher Unternehmen gestürzt. Dies betraf die Telekommunikation (France Télécom), den Energiesektor (EDF), das Transportwesen (SNCF, RATP, Air France) sowie die Bereiche Post, Raumfahrt und Rüstung. Hinzu kommt die Fortführung der Privatisierung und Liquidierung staatlicher Unternehmen, die zunächst finanziell saniert und mit Kapital ausgestattet werden müssen und deren Schulden auf Kosten des Steuerzahlers getilgt werden.7 Diese Entwicklung betrifft alle Sektoren: Banken, Versicherungen und Industrie. Nachdem übrigens die Regierung 1993/94 den Unternehmen und Vermögensbesitzern Steuergeschenke in Höhe von 100 Milliarden Dollar machte, um dann 1995 die gesetzlichen Abgaben in etwa gleicher Höhe wieder heraufzusetzen, bereitet sie für 1997 einen Sparhaushalt vor und stellt ihrer Wählerschaft gleichzeitig Steuersenkungen für Besserverdienende in Aussicht.

Zugleich muß sie Mittel und Wege finden, um ein Defizit der Sozialversicherung auszugleichen, das in diesem Jahr bei nahezu 50 Milliarden und 1997 bei 80 Milliarden Franc liegen dürfte. Nachdem die konservative Regierung im September 1995 ein Einfrieren der Bezüge von Staatsbediensteten angekündigt hat, setzt sie ihre Offensive gegen den öffentlichen Dienst fort, der ihrer Ansicht nach „überflüssiges Fett“ angesetzt hat: 20000 bis 25000 Stellen sollen bereits vom nächsten Jahr an gestrichen werden. Dabei erhält sie auch von Oppositionspolitikern Unterstützung. So räumt der sozialistische Senator Michel Charasse zwar ein, daß „die Staatsbediensteten nicht allein für unsere Defizite verantwortlich gemacht werden können“8, doch befürwortet er die „konsequente Zurückweisung jeder Form von Egoismus“ und „eine weitere Drehung an der Ausgabenschraube“, ohne allerdings die durchaus angebrachte Auflösung des äußerst teuren und überflüssigen Senats ins Auge zu fassen.

Die Strukturanpassung trifft auch Schweden, wo die sozialdemokratische Regierung nach der Kürzung der Krankenversicherungsleistungen, der Unterstützung für Arbeitslose und für den Erziehungsurlaub jetzt zur Beschneidung der Renten, des Wohngelds und der Ausgaben für das Gesundheitswesen übergeht.

Nur Großbritannien bleibt verschont. Allerdings gibt es hier auch nicht mehr viel „anzupassen“, nur noch die Kernenergie bleibt zu privatisieren: Zehn Atomkraftwerke in gutem Zustand zum Preis von einem neuen zu verkaufen! Dafür kümmert sich der Staat um den kostspieligen Unterhalt der älteren Anlagen.

Nicht anders geht es auch den neuen Regierungen in Spanien und Italien vor allem darum, „die internationale Finanzwelt zu überzeugen“ (Aznar) und „das Vertrauen der Märkte zu gewinnen und zu erhalten“, indem sie der Bevölkerung „zusätzliche Opfer“ (Prodi) abverlangen.

„Endlich gute Nachrichten!“ beglückwünschen sich die Spekulanten9, die nach den saftigen Gewinnen aus der Privatisierung von staatlichen Unternehmen und Dienstleistungsbetrieben gieren, die erst mit dem Geld der Allgemeinheit finanziert wurden und jetzt überall in Europa feilgeboten werden. Dies gilt auch für Umstrukturierungen, Kapitalkonzentrationen, öffentliche Übernahmeangebote und Veränderungen der Marktanteile, die solchen Operationen vorangehen. Unterdessen wird auf allen Finanzplätzen das sogenannte „Geierkapital“ (das von angelsächsischen Experten als „vulture fonds“ bezeichnete Geld, das häufig aus den Ersparnissen kleiner Leute für die Altersvorsorge besteht) für zweifelhafte Hypothekenforderungen von Banken und Bauträgern eingesetzt, die zu niedrigem Preis erworben werden, nachdem die gigantischen Verluste durch die Steuerzahler gedeckt wurden – in einer der größten Verschwendungsaktionen kollektiver Mittel in diesem Jahrhundert.

Ständig „nervös“, „unruhig“, „aufgeregt“, erinnern diese Märkte, denen sich Politiker und Geschäftemacher zu Füßen werfen, an die obszönen Kupplerinnen bei Fellini, die aufgedunsen, verschwitzt und mit verlaufender Schminke die Welt mit glasigen Augen betrachten und von einem Schwarm ebenso gieriger wie unterwürfiger junger „traders“ umgeben sind. Diese Psychopathen begrüßen mit Freudentänzen jede schlechte – und damit gewinnträchtige – Nachricht: Moulinex' Ankündigung, 2600 Beschäftigte zu entlassen, läßt den Aktienkurs in Frankreich um mehr als 20 Prozent klettern. Sie versinken in Schwermut, wenn die Börse fällt, so wie kürzlich in den Vereinigten Staaten, nachdem sich minimale Aussichten auf eine Anhebung der Löhne oder die Schaffung von Arbeitsplätzen abzeichneten. Dies alles folgt dem Motto: „Was anderen hilft, ist schlecht für uns, eine Katastrophe!“

Während in den Ländern Westeuropas das nationale Vermögen regelmäßig wächst, gehen Kaufkraft und soziale Sicherheit für den größten Teil der Bevölkerung zurück, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit nehmen zu. Zur gleichen Zeit erhöhen sich die Unternehmensgewinne, die Kapitaleinnahmen, Erbschaften und das Vermögen einer Minderheit, wie es in Frankreich der jüngste Bericht des nationalen Statistikamts Insee über die Bankkonten der Nation zeigt.10 Nähern wir uns der Dritten Welt?

Anfang Juni zogen 300000 Amerikaner durch die Straßen Washingtons, um gegen den Abbau der Sozialhilfe zu demonstrieren. „Ein letztes Aufbäumen der Anhänger des Versorgungsstaates (...), die von Sozialprogrammen leben und jede Reform blockieren wollen“11, so der Kommentar der Republikaner in einem Land, wo 20 Prozent der Kinder unterhalb der Armutsschwelle leben und 10 Prozent in äußerstem Elend. In Großbritannien, dem anderen Modellstaat des Neoliberalismus, befindet sich nur noch einer von zwei Achtzehnjährigen in der Schule oder in Ausbildung, während dieses Verhältnis im übrigen Europa bei vier zu fünf liegt; kürzlich ergab eine Untersuchung des Unterhauses, daß 1,5 Millionen Kinder unter sechzehn Jahren, oft unter gefährlichen Bedingungen, schwarzarbeiten, und dies vor allem im Wahlkreis von John Major.12

In Frankreich belegt eine andere Insee- Studie die zunehmende Armut in den Haushalten, von denen ein Viertel mindestens während zweier Jahre von Arbeitslosigkeit betroffen war13: 600000 Jugendliche gehen bei der französischen Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ANPE) stempeln, und nur 20 Prozent von denen, die Arbeit finden, erhalten einen Vertrag von unbefristeter Dauer. Die anderen sind meist zu vorübergehender Beschäftigung verurteilt, leben seit Jahren von einem Tag auf den andern und werden ohne Skrupel ausgebeutet wie jener sechsundzwanzigjährige Arbeiter, der von seinem Job in der Fabrik sagt: „Je ehrlicher und aufrichtiger du bist, desto leichter wirst du an die Wand gedrückt.“

Am Samstag, den 15. Juni, sind in Bonn bei der größten deutschen Gewerkschaftsdemonstration der Nachkriegszeit 350000 Menschen gegen das Sparpaket von Helmut Kohl auf die Straße gegangen, das nach Ansicht des DGB, der zur Kundgebung aufgerufen hatte, ein „Horrorpaket“ darstellt. „Was die Regierung vorschlägt, ist kein Sparpaket; sie zieht den Armen das Geld aus der Tasche und steckt es den Reichen zu. Je mehr Gewinn die Unternehmensbosse machen, desto brutaler werden sie: Sie bauen Arbeitsplätze ab und fordern die Senkung der Arbeitskosten“, erklärt ein Demonstrationsteilnehmer. „Ich bin mit der französischen Fahne zur Kundgebung gekommen“, so ein anderer, „weil ich meine, daß die Bewegung vom Dezember ein großes Vorbild, ein Signal dafür war, daß die Arbeitnehmer nicht alles schlucken, was die Regierung oder die Unternehmer wollen.“ Offenbar finden sich die Völker nicht damit ab, den Strick zu bezahlen, mit dem man sie hängen will.

dt. Erika Mursa

1 „Le développement à l'heure de la mondialisation et de la libéralisation“, Bericht des Generalsekretärs der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung auf ihrer neunten Sitzung, Genf 1996.

2 Vgl. hierzu vor allem „L'ajustement en Afrique“, Bericht der Weltbank, Washington 1994.

3 Vgl. „Les nouveaux maitres du monde“, Manière de voir, Nr. 28, Vierteljahreszeitschrift, hrsg. von Le Monde diplomatique.

4 Le Monde, 17. Mai 1996.

5 Vgl. „Une grève historique dans l'enseignement belge“, Le Monde diplomatique, Juni 1996.

6 Vgl. das Dossier „Revolte in Frankreich gegen ein Europa der Märkte“, Le Monde diplomatique, Januar 1996.

7 Vgl. Serge Halimi, „La flambée des privatisations“, Le Monde diplomatique, Februar 1994.

8 Le Figaro, 12. Juni 1996.

9 The Wall Street Journal Europe, 13. Juni 1996.

10 Le Monde, 21. Juni 1996.

11 New York Times vom 1. Juni 1996, zitiert in Libération, 3. Juni 1996.

12 The Independent, London, 16. Juni 1996.

13 Le Monde, 8. Mai 1996.

14 Dominique Le Guilledoux, „L'intérim à perpète“, Le Monde, 3. April 1996.

15 Libération, 17. Juni 1996.

16 Libération, ebd.

Le Monde diplomatique vom 12.07.1996, von Christian de Brie