16.08.1996

Roter September

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Roter September

Von IGNACIO RAMONET

WEDER der Medienrummel um den Medaillenregen von Atlanta noch das süße sommerliche Nichtstun läßt Frankreichs Bürger ihre Alltagsängste vergessen. In den Städten und auf dem Land murrt das Volk, eine Vorahnung von Aufruhr liegt in der Luft. Ein Schwelbrand, der schon bald offen ausbrechen könnte.

Der Grund für den Zorn ist die Arbeitslosigkeit: Jeden Monat werden durchschnittlich mehr als 35000 Arbeitsplätze wegrationalisiert. In der Bau- und Agrarwirtschaft, der Textilindustrie, der Haushaltsgeräte- und Automobilindustrie nimmt der soziale Aderlaß unerträgliche Ausmaße an. Innerhalb eines Jahres sind in der Baubranche 24000 Arbeitsplätze verlorengegangen, in der Bekleidungsindustrie waren es 15000 in einem Halbjahr.

Frankreich hat bereits mehr als 1,8 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verloren, und die Arbeitslosenrate übersteigt 12,3 Prozent – eine Rekordmarke. Als im vergangenen Juni und Juli eine Reihe von „Sozialplänen“ angekündigt wurde, die eine Verringerung der Belegschaft in öffentlichen Unternehmen wie Aerospatiale und France Télécom sowie einigen privaten Firmen wie Moulinex und Peugeot vorsahen, machte sich in mehreren Landesteilen heftige Empörung breit.

Die Banken wollen etwa 40000 Arbeitsplätze einsparen. Ein ähnliche Roßkur droht in der Versicherungsbranche, der Luftfahrtindustrie und im Multimediabereich. Hinzu kommt die Reduzierung der Truppenstärke der Armee um 24 Prozent. Für viele Gemeinden bedeutet diese Entwicklung den wirtschaftlichen Tod. Denn nicht nur sind 50000 bis 75000 Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie bedroht, sondern auch die Kleinhändler und Subunternehmer der betroffenen Städte fürchten um ihre Zukunft. In manchen Hafenstädten (Cherbourg oder Brest) hat die Stimmung den Siedepunkt erreicht, es herrscht eine Atmosphäre wie vor einem Volksaufstand.

Den Viehzüchtern ist der „Rinderwahnsinn“ zum Verhängnis geworden. In ihrer Verzweiflung erklären sie sich mittlerweile „zu allem bereit“, es sind drastische Aktionen geplant. Auch die Beamten bleiben von der Strukturanpassung nicht verschont. Gerade erst hat Edouard Balladur, der ehemalige Premierminister, die Regierung aufgefordert, „das Personal in den öffentlichen Einrichtungen jährlich um 20000 Stellen zu verringern.“1

Immer mehr Bürger kommen zu der Überzeugung, daß die Wirtschaftspolitik von Jacques Chirac und Alain Juppé ineffizient und schädlich ist. Zu den Unzufriedenen der Revolte vom Dezember 1995 gesellt sich nun zunehmend auch die Mittelschicht. Sie spürt die ganze Härte der Steuer- und Abgabenerhöhungen, sie sieht ihre Kinder von Arbeitslosigkeit bedroht und muß um ihre Renten fürchten. Durch die brutale Verarmung, die sie erfährt – ein für dieses Jahrzehnt spezifisches soziologisches Phänomen – sieht sie sich unter die Opfer der sozialen Spaltung verwiesen.

Der Pessimismus wächst: Schon glauben 80 Prozent aller Franzosen nicht mehr an einen Aufschwung. Das Wirtschaftswachstum wird 1,3 Prozent nicht übersteigen, und das Realeinkommen wird zum ersten Mal seit fünfzig Jahren sinken. Die Zahl der Firmenschließungen (34000 im ersten Halbjahr, 11 Prozent mehr als im Vorjahr) wird weiter wachsen. Auch die zahlreichen Skandale um Persönlichkeiten aus dem Umfeld der Macht tragen zur allgemeinen Erbitterung bei und untergraben das Vertrauen des Landes in seine Eliten, die nur allzu oft in Korruption, Unterschlagung und Vetternwirtschaft verstrickt sind. Der Unmut richtet sich auch gegen den technokratischen Apparat, der in den Augen der Öffentlichkeit für die soziale Tragödie ebenso verantwortlich ist wie die Regierung.

VON dem Pulverfaß herab, auf dem sie sitzt, wettert die Regierung gegen das „Anspruchsdenken“, ohne sich von dem Drama, das jeden vierten Haushalt betrifft, beirren zu lassen. Beharrlich verfolgt sie eine Politik nach den Maßgaben der Weltwirtschaft und der Einführung einer europäischen Einheitswährung. Auf Weisung von Jean- Claude Trichet hält die französische Notenbank an der Währungsparität zwischen D-Mark und Franc fest und macht damit dem Wachstum den Garaus. Die Senkung der Zinsen, die den Aufschwung bringen sollte, hat sich als wirkungslos erwiesen: Von Oktober 1995 bis Juli 1996 sind sie von 7 auf 3,55 Prozent gefallen und damit auf den niedrigsten Stand seit 25 Jahren. Dennoch wuchsen in derselben Zeit Arbeitslosigkeit und Defizite weiter. Wenn es nach den internationalen Finanzmärkten ginge, müßten die Zinsen in den USA und Japan steigen, in Deutschland und Frankreich jedoch weiter sinken. Sehr gegensätzliche Bedürfnisse zu einem Zeitpunkt, da die Börsenkurse in aller Welt im Gefolge der Turbulenzen vom 15., 22. und 24. Juli nach unten tendieren und sich die Möglichkeit eines Börsenkrachs, wie im Oktober 1987, immer deutlicher abzeichnet.

Unterdessen gehen überall in der Europäischen Union (mit ihren 18 Millionen Arbeitslosen und 50 Millionen Armen) die Massenentlassungen weiter. Die Deutsche Telekom wird 70000 Arbeitsplätze abbauen, Volkswagen 30000, Daimler-Benz 15000, National Westminster 15000, Glaxo 7500, Telefonica 7000, Iberia 5200, Olivetti 5000, und so weiter. Überall breiten sich Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung aus, die Löhne stagnieren, und die Sozialausgaben werden im Namen der sakrosankten Wettbewerbsfähigkeit drastisch beschnitten.

Kann ein Desaster dieses Ausmaßes ohne Gegenwehr hingenommen werden? Der Widerstand der Gewerkschaften formiert sich bereits. In Frankreich werden sie ab dem 21. September zu Demonstrationen „für die Verteidigung der Arbeit“ aufrufen. Wird das die Gemüter beruhigen? Wie werden die von der Krise Betroffenen ihrem Zorn Ausdruck verleihen? Wird Jacques Chirac, wie es einige Soziologen voraussagen, der erste Präsident der Republik sein, den der Druck von unten zum Rücktritt zwingt?

1 Le Figaro Magazine, 1.Juni 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Von IGNACIO RAMONET