Eine kurze Geschichte des Einheitsdenkens
DIE Palette stereotyper Denkmuster, die gegenwärtig die politische Öffentlichkeit beherrscht und mit Unterstützung der Medien allgemeine Verbreitung findet, ist keineswegs „naturwüchsig“ entstanden. Als der Neoliberalismus unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aus Versatzstücken unterschiedlichster Herkunft zu einer Theorie geformt wurde, war er bestenfalls ein dünner Aufguß von Doktrinen des frühen neunzehnten Jahrhunderts und fand keine besondere Aufmerksamkeit. Die wirtschaftlichen Maßnahmen, die nach neoliberalen Kriterien durchgeführt wurden, hatten in der Regel katastrophale Folgen. Dennoch ist die neoliberale Theorie durch strategisch geschicktes Vorgehen ihrer Befürworter – und Finanzmittel in Höhe Hunderter Millionen Dollar – nach einigen Jahrzehnten zur Grundlage des neuen Einheitsdenkens geworden.
Von SUSAN GEORGE *
Die Neoliberalen1 und das Einheitsdenken2 scheinen heute das ideologische Terrain unangefochten zu beherrschen, doch das war nicht immer so. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg spielte der Neoliberalismus in keinem Land eine bedeutende Rolle. Seine Gründungsväter in den USA waren in einer schwachen Position, aber sie hatten sich ein wichtiges Prinzip zu eigen gemacht: Gedanken haben Konsequenzen. So lautete auch der Titel eines Buches von Richard Weaver, das 1948 erschien und später jenseits des Atlantiks eine begeisterte Aufnahme und anhaltenden Erfolg erlebte.3
Es war kein Zufall, daß Weavers Buch von der University of Chicago Press verlegt wurde, denn an der Universität dieser Stadt4 formte sich der harte Kern des Neoliberalismus. August Friedrich von Hayek, ein exilierter österreichischer Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph, hatte dort 1944 ein sehr einflußreiches Buch veröffentlicht: „Der Weg in die Knechtschaft“5. Später kamen die Werke eines brillanten jungen Ökonomen namens Milton Friedman in diesem Verlag heraus, wie auch die anderen Arbeiten der neuen Stars der neoliberalen Bewegung.6 Die Chicago Boys, wie die Ökonomen der Chicagoer Schule oft genannt wurden, kamen zu Ruhm und zogen hinaus in die Welt, vor allem in das Chile des Generals Pinochet. Heute wird ihre wirtschaftliche, aber auch philosophische und soziale Doktrin urbi et orbi verkündet. Milton Friedmans Bücher, wie zum Beispiel „Capitalism and Freedom“7, sind zu Bestsellern geworden.
Für die Neoliberalen ergibt sich die Freiheit des Individuums keineswegs aus der politischen Demokratie oder den vom Staat garantierten Rechten: Frei sein bedeutet im Gegenteil Freiheit von jeglichem staatlichen Einfluß. Der Staat muß sich damit begnügen, die Rahmenbedingungen für das freie Spiel des Marktes zu sichern. Unverzichtbare Grundvoraussetzung ist das Privateigentum an allen Produktionsmitteln und folglich die Privatisierung aller staatlichen Betriebe. Man geht davon aus, daß der Markt für die optimale Verteilung von Ressourcen, Investitionen und Arbeitskraft sorgt. Die staatliche Fürsorge für sozial benachteiligte Gruppen soll weitgehend durch Eigeninitiative und private Wohlfahrtseinrichtungen abgelöst werden, damit der einzelne sein Schicksal wieder ganz in die eigenen Hände nimmt.
Den Neoliberalen war stets bewußt, daß sich ein solches Programm – das dem New Deal oder der Idee des Sozialstaats diametral entgegengesetzt ist – nur umsetzen läßt, wenn zuvor ein anderes geistiges Klima erzeugt wird. Ideen müssen verbreitet werden, bevor sie Folgen für das Leben der Bürger und der Gemeinschaft haben. Sie müssen unter den bestmöglichen Bedingungen produziert, veröffentlicht, gelehrt und an die Öffentlichkeit gebracht werden. Deshalb hat die neoliberale Bewegung seit 1945 unaufhörlich Denker und Geldgeber rekrutiert und sich mit bedeutenden finanziellen und institutionellen Mitteln gewappnet. Zu ihrem Arsenal gehören auch einige think tanks, die einflußreichsten unter ihnen in den USA. Die Aktivitäten einiger dieser Denkfabriken sollen hier noch einmal8 umrissen werden.
Die Hoover Institution on War, Revolution and Peace, 1919 von dem späteren Präsidenten Herbert Hoover gegründet, hat ihren Sitz an der Stanford Universität und ist berühmt für ihr Archiv über die russische und die chinesische Revolution. Ihre wichtigsten Aufgaben erfüllte sie im Kalten Krieg (zum Beispiel durch die Herausgabe der Zeitschrift International Communist Affairs). Seit 1960 gibt es auch eine Wirtschaftsabteilung. Aus dem Jahresbudget von etwa 17 Millionen Dollar ist unter anderem die Arbeit von Edward Teller (einem der Väter der Atombombe) gefördert worden, ebenso die der Ökonomen George Stigler und Milton Friedman, die in Stanford ebenso wie in Chicago tätig sind.
Eine altehrwürdige Institution ist auch das American Enterprise Institute (AEI) in Washington. 1943 von Geschäftsleuten ins Leben gerufen, um gegen verschiedene Aspekte des New Deal anzugehen, hat das AEI besonderes Geschick in der intellektuellen Öffentlichkeitsarbeit und der Vermarktung von Ideen bewiesen. Es arbeitet direkt mit Kongreßabgeordneten, der staatlichen Bürokratie und den Medien zusammen. In den achtziger Jahren beschäftigte das Institut etwa hundertfünfzig Personen, von denen sich fünfzig ausschließlich mit Forschungsvorhaben und dem Schreiben von Büchern, Berichten und sonstigen politischen und wirtschaftlichen Analysen oder Empfehlungen beschäftigten. Inzwischen hat es etwas an Einfluß verloren, was sich daran ablesen läßt, daß sein Jahresbudget (12,8 Millionen Dollar 1993) kaum das Niveau des Budgets von vor zehn Jahren erreicht.
Die Heritage Foundation hat ihren hohen Bekanntheitsgrad der Tatsache zu verdanken, daß sie mit Ronald Reagans Präsidentschaft eng verknüpft war. Sie besteht seit 1973, verfügt über ein Jahresbudget von circa 25 Millionen Dollar und gibt jährlich etwa zweihundert Dokumente heraus. Sie pflegt besonders gute Kontakte zu den Medien, wird mehr zitiert als jede andere Einrichtung und veröffentlicht auch ein Expertenjahrbuch zum politischen Geschehen, das in siebzig verschiedenen Rubriken die Namen von fünfzehnhundert neoliberalen Forschern und Experten enthält. Ein Gottesgeschenk für den gehetzten Journalisten, der sich auf sie berufen und seinen Artikel „wissenschaftlich“ fundieren möchte.
Zwei weitere intellektuelle Zentren dürfen nicht vergessen werden: das aufstrebende Cato Institute, das als Anwalt einer „minimalistischen Regierung“ auftritt und sich auf Privatisierungsstudien spezialisiert, sowie das Manhattan Institute for Policy Research, das 1978 von dem späteren CIA-Direktor William Casey gegründet wurde. Seine Kritik der Regierungsprogramme zur Einkommensneuverteilung hat sehr großen Einfluß ausgeübt. Diese beiden „tanks“ empfehlen unweigerlich den Markt als Lösung aller sozialen Probleme. Zwischen den think tanks und der Regierung gibt es ein System kommunizierender Röhren, dessen sich die alten Kämpfer der Nixon-Administration während Jimmy Carters Regierungszeit bedienten, während es heute, unter Clintons Mandat, die Reagan-Bush- Veteranen nutzen.
Außerhalb der USA ist das Netz der intellektuellen neoliberalen Institutionen weniger dicht geknüpft. In Großbritannien haben allerdings „Mrs. Thatchers Elitetruppen“, wie sie sich gerne nannten, im ideologischen Kampf wichtige Geländegewinne gemacht. Zu erwähnen wäre das Centre for Policy Studies, das Institute of Economic Affairs (dessen Publikationsliste sich liest wie ein Who's Who der konservativen Wirtschaftswissenschaftler) und vor allem das Adam Smith Institute in London, das nach Ansicht von Brendan Martin, einem Experten in diesen Fragen, „mehr für die Förderung der Privatisierungsdoktrin auf der ganzen Welt getan hat als jede andere Pressure-group innerhalb der Neuen Rechten“9.
Die älteste und auf lange Sicht einflußreichste Institution ist jedoch die Mont- Pélérin-Gesellschaft. Im April 1947 trafen sich auf Einladung von Professor Friedrich von Hayek rund vierzig amerikanische und europäische Persönlichkeiten in diesem Schweizer Dorf bei Montreux und nahmen an einem zehntägigen Kolloquium teil. Die Gruppe betonte zunächst den Ernst der Lage – „Die zentralen Werte der Zivilisation sind in Gefahr“ – und erklärte dann, die Freiheit werde bedroht vom „Mangel an Konzepten, die für Privateigentum und Marktkonkurrenz eintreten, denn ohne die Dezentralisierung von Macht und Initiative, die durch diese Faktoren möglich wird, ist es kaum denkbar, daß in einer Gesellschaft die Freiheit effektiv gewahrt bleiben kann.“10
Zwischen 1947 und 1994 ist die Mont- Pélérin-Gesellschaft sechsundzwanzigmal zusammengetreten, jeweils eine Woche lang und jedesmal in einer anderen Stadt. 1994 fand das Treffen in Cannes statt, nächsten September wird sich der von seinerzeit vierzig auf mehr als vierhundertfünfzig angewachsene Mitgliederstamm in Hayeks Heimatland Österreich, in Wien, treffen. Die Gesellschaft verweist mit Vorliebe darauf, daß aus ihren Reihen sechs Wirtschaftsnobelpreisträger hervorgegangen sind, doch die Liste ihrer Mitglieder, die alle als Privatpersonen dabei sind, gibt sie nur ungern preis. Sie verzichtet lieber auf „Werbung und Mediatisierung“.11
Seit vielen Jahren werden Hunderte Millionen Dollar zur Entwicklung und Verbreitung der neoliberalen Ideologie aufgewandt. Woher kommt dieses Geld? Ganz am Anfang, in den vierziger und fünfziger Jahren, spielte der William Volker Fund eine zentrale Rolle. Dieser Fonds rettete untergehende Zeitschriften, finanzierte viele der in Chicago veröffentlichten Bücher, zahlte die Schulden der einflußreichen Foundation for Economic Education oder organisierte Kolloquien in verschiedenen amerikanischen Universitäten. Es war auch der Volker Fund, der die Reise der amerikanischen Teilnehmer zum ersten Treffen der Gesellschaft des Mont-Pélérin finanzierte.
Seit den sechziger Jahren sind die Neoliberalen nicht mehr wirklich marginal. Zahlreiche amerikanische Familienstiftungen begannen, sie zu unterstützen, und finanzieren seither ihre Institutionen. Die Ford-Stiftung – ein „Gigant“ unter den Stiftungen – hatte ein Beispiel für andere Geldgeber aus dem mittleren und rechten Spektrum gesetzt, indem sie dem American Enterprise Institute eine Subvention von 300000 Dollar gab. Die Bradley-Stiftung (1994 stellte sie 28 Millionen Dollar bereit) finanziert unter anderem die Heritage Foundation, das American Enterprise Institute und mehrere Magazine und Zeitschriften.12 So haben zwischen 1990 und 1993 vier der wichtigsten neoliberalen Magazine (The National Interest, The Public Interest, New Criterion, American Spectator) aus verschiedenen Quellen 27 Millionen Dollar bekommen. Zum Vergleich: Die vier einzigen fortschrittlichen US-amerikanischen Zeitschriften mit landesweiter Verbreitung (The Nation, The Progressive, In These Times, Mother Jones) haben im selben Zeitraum Spenden von zusammen nur 269000 Dollar erhalten.13
Käufliche Intellektuelle
STIFTUNGEN, die aus großen alten amerikanischen Industrievermögen stammen, wie Coors (Brauereien), Scaife oder Mellon (Stahl) und vor allem Olin (Chemie), finanzieren auch Lehrstühle an den berühmtesten amerikanischen Universitäten. Es geht darum, „die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Institutionen zu stärken, auf denen die Privatwirtschaft beruht“. So jedenfalls liest es sich in der Broschüre der Olin-Stiftung, die bereits 1988 55 Millionen Dollar für dieses hehre Ziel aufbrachte. Es versteht sich von selbst, daß der großherzige Geldgeber bei solchen Summen die Professoren bestimmen kann, die die Lehrstühle innehaben und die Studienzentren leiten werden.14 Es gibt heute Olin-Lehrstühle für Recht und Wirtschaftswissenschaften unter anderem in Harvard, Yale, Stanford und natürlich Chicago.15 Der französische Historiker François Furet bezog als Direktor des John-M.-Olin-Programms zur politischen Kulturgeschichte an der Universität Chicago 470000 Dollar und ist einer der bekannten Nutznießer dieser Großzügigkeit.
Mit Geld läßt sich Berühmtheit erzeugen und das Feld abstecken, in dem dann „Debatten“ inszeniert werden. 1988 lud Allan Bloom, der Direktor des Olin-Zentrums für Demokratiestudien an der Universität Chicago (das jährlich 36 Millionen Dollar von der Olin-Stiftung erhält), einen unbekannten Beamten des State Department ein, einen Vortrag zu halten. Dieser erledigte seinen Auftrag, indem er den totalen Sieg des Westens und seiner neoliberalen Werte im Kalten Krieg erklärte. Sein Vortrag wurde sofort als Artikel in The National Interest abgedruckt, einer Zeitschrift, die eine Million Dollar Olin-Subventionen bezieht und deren Direktor, Irving Kristol, ein sehr bekannter Neoliberaler ist, der zu diesem Zeitpunkt als Professor der Business School der New York University mit 326000 Dollar von der Olin-Stiftung finanziert wurde. Kristol bat dann Bloom und einen anderen bekannten rechten Intellektuellen, Samuel Huntington, den Direktor des Olin-Instituts für Strategische Studien in Harvard (seine Gründung verdankt sich einem Beitrag von 14 Millionen Dollar aus der Olin- Stiftung) den Artikel in derselben Nummer der Zeitschrift zu „kommentieren“. Auch Kristol steuerte seinen „Kommentar“ bei.
Die so von vier Nutznießern des Olin- Fonds in einer Olin-Zeitschrift geführte Debatte um eine Olin-Konferenz fand sich bald in der New York Times, der Washington Post und im Time Magazine wieder. Inzwischen kennt jedermann Francis Fukuyama und sein Buch über „Das Ende der Geschichte“, das in mehreren Sprachen zum Bestseller wurde. Der ideologische Kreis schließt sich, wenn man die Kommentarseiten der großen Tageszeitungen, die Rundfunksender und Fernsehkanäle besetzen kann. Dieser Triumph wurde fast kampflos erreicht. Wer nicht glaubt, daß Ideen Konsequenzen haben, wird diese schließlich tragen müssen.
dt. Christiane Kayser
1 Die Terminologie ist verwirrend. In den USA heißen die Neoliberalen „Neokonservative“ (oder neocon), denn dort ist ein „Liberaler“ eher ein Linker oder jedenfalls ein Wähler der Demokratischen Partei.
2 Der Begriff des „Einheitsdenkens“ („la pensée unique“) wurde von Ignacio Ramonet in die Diskussion um den Neoliberalismus eingeführt (Editorial der Monde diplomatique vom Januar 1995).
3 Richard Weaver, „Ideas have Consequences“, Chicago (University of Chicago Press) 1948.
4 Vgl. auch Serge Halimi, „L'université de Chicago, un petit coin de paradis bien protégé“, Le Monde diplomatique, April 1994.
5 August Friedrich von Hayek, „Der Weg in die Knechtschaft“, Landsberg (Olzog), 1994.
6 Zum Beispiel Russell Kirk, „The Conservative Mind“ (1953) und Leo Strauss, „Naturrecht und Geschichte“, Frankfurt (Suhrkamp) 1977.
7 Milton Friedman, „Kapitalismus und Freiheit“, 1971.
8 Vgl. dazu Serge Halimi, „Die ,Think Tanks‘ der amerikanischen Rechten“, Le Monde diplomatique, Mai 1995. Außerdem James Allen Smith, „The Idea Brokers: Think-Tanks and the Rise of the New Policy Elites“, New York (The Free Press) 1991, und George H. Nash, „The Conservative Intellectual Movement since 1945“, New York (Basic Books) 1976.
9 Brendan Martin, „In the Public Interest?“, London (Zed Books) 1993, S. 49.
10 „Statement of Aims“, Mont Pelerin Society, verabschiedet am 8. April 1947, zitiert nach George H. Nash, op. cit., S. 26.
11 Die Angaben über die heutige Tätigkeit der Mont-Pélérin-Gesellschaft sind uns freundlicherweise von ihrem jetzigen Vorsitzenden Pascal Salin zur Verfügung gestellt worden; er ist Professor an der Universität Paris-Dauphine und enger Berater von Alain Madelin (der als Wirtschafts- und Finanzminister am 25. August 1995 entlassen wurde, da sein ultraliberales Vorgehen selbst Juppé zu weit ging).
12 Siehe dazu Beth Schulman, „Foundations for a Movement: How the Right Wing Subsidises its Press“, EXTRA!, Fairness and Accuracy in Reporting (FAIR), New York, März-April 1995.
13 Siehe dazu David Callahan, „Liberal Policy's Weak Foundations“, The Nation, 13. November 1995.
14 Jon Weiner, „Dollars for Neocon Scholars“, The Nation, 1. Januar 1990.
15 Jon Weiner, ebenda.
* Beigeordnete Direktorin des Transnational Institute, Amsterdam. U. a. Autorin (gemeinsam mit Fabrizio Sabelli) von „Kredit und Dogma. Ideologie und Macht der Weltbank“, Hamburg (konkret Literatur) 1995.