16.08.1996

Autophagie: Als letzten Gang verspeisen wir uns selbst

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Autophagie: Als letzten Gang verspeisen wir uns selbst

■ "Autophagie" bedeutet "Sich selbst auffressen", und offenbar ist dies das wesentliche Merkmal des kapitalistischen Systems am Ende unseres Jahrhunderts.

„Autophagie“ bedeutet „Sich selbst auffressen“, und offenbar ist dies das wesentliche Merkmal des kapitalistischen Systems am Ende unseres Jahrhunderts. Ein System, das heute nirgendwo mehr auf Widerstand stößt und das die Gesellschaften immer stärker dazu antreibt, sich gegenseitig zu verschlingen. Wenn irgendwo etwas hinzukommt, wird es woanders weggenommen. Unternehmen gehen in anderen auf, weltweit fressen die Märkte sich gegenseitig an, und die Gewerkschaften sind nur noch dazu da, die Verteilung der Arbeit zu fordern. Der Bürger hat die Konsequenzen von all dem zu tragen: allgegenwärtige Umweltverschmutzung und Volksseuchen von tragischem Ausmaß sind die Folgen dieses wahnwitzigen Wiederverwertungssystems, der letzten Stufe des uralten Profitgesetzes.

Von

DENIS

DUCLOS *

KARL Marx glaubte, der Kapitalismus beziehe eine Art überschüssiger Energie aus dem Menschen, wobei der am Proletariat begangene Diebstahl den Mehrwert bilde. Für ihn bestand daher das Ziel darin, diesen Überschuß zurückzugewinnen und ihn zu vergesellschaften. Doch diese Vorstellung – wenn sie denn je richtig war – verliert allmählich an Bedeutung, denn inzwischen ist Kapitalismus, ein Begriff, unter dem man mehr denn je ein globales System der Wertzirkulation verstehen muß, der Verzehr der Menschheit durch sich selbst geworden. Die im Dienste der Nützlichkeit stehende Gesellschaft, dieses „System ohne Herren“, stellt den Menschen in den endlosen Kreislauf der Nutzung der Natur und macht so aus ihm eine verwertbare Ressource wie jede andere auch. Der Spätkapitalismus – in dem dieses System vielleicht seine wahre Form findet – wäre dann weniger durch den Verbrauch von Überschuß an gesellschaftlich notwendiger Arbeit als durch Autophagie geprägt.

Was sich eine Seite des menschlichen Wesens aneignet, entnimmt es immer offensichtlicher einem anderen Teil seiner selbst. Was auf der einen Seite durch Arbeit produziert wird, wird jetzt auf der anderen wieder abgeschafft. Ich kann meine Vorrechte nutzen, um anderen (ärmeren, jüngeren, älteren, fremderen) Menschen etwas wegzunehmen, aber die „Bumerangwirkung“ des Geldes wird früher oder später dafür sorgen, daß mir das gleiche widerfährt: Die Ursachen können am anderen Ende der Welt liegen, die Entwertung meines Vermögens kann mich ebenso treffen wie die Zerstörung der Umwelt als Folge der industrialisierten Produktions- und Verbrauchsformen.

Daß der autophage Charakter unseres derzeitigen Systems immer deutlicher hervortritt, liegt daran, daß solche Anlässe zur Selbstbesinnung immer häufiger, fühlbarer und unmittelbarer werden. Man errichtet dagegen immer stärkere Mauern des Unbewußten, man will das nicht wahrnehmen und weiter in den klassischen Begriffen des egoistischen Kalküls, und sei es des kollektiven Egoismus, argumentieren. Technische Geräte, Wohnungen, eine bequeme Fortbewegung, das alles entnehme ich aus Raum, Luft und Wasser: In meiner Eigenschaft als Arbeiter und Verbraucher füge ich mir als Lebewesen Wunden zu. Ich werde reicher an austauschbaren Gütern, aber immer ärmer an nicht erneuerbaren.

Auch im Sozialbereich entwickelt sich die Autophagie: Das System neigt dazu, ein jegliches legitimes Gemeinschaftsanliegen in Konkurrenz zu einem anderen Gemeinschaftsinteresse zu stellen. Als Jugendlicher bin ich von den – zweifellos hart erworbenen – Privilegien eines gesicherten Ruhestands ausgeschlossen. Da ich arm und eine leichte Beute der Modemacher bin, folge ich der Verlockung, meine Zukunft zu verpfänden, und unterhalte dadurch die Industrien, die von Überschuldung und Abhängigkeit leben. Wenn ich Beiträge einzahle, kann ich nicht mehr sicher sein, daß ich morgen meine Rente bekomme. Wenn ich alt bin, fürchte ich mich vor dem Zusammenbruch des Systems und werde damit konfrontiert, früher sterben zu müssen (wenn, wie in Rußland, ich mich von der in Rubeln ausbezahlten Rente nicht ernähren kann). Als US-amerikanischer Rentner bin ich unfreiwillig Teil eines riesigen Ungeheuers, das meine Pensionskasse verwaltet und das um des schnellen Profites willen jede Interessenvertretung untergräbt, die meinen Berufsstand und die Kollegen in meiner früheren Branche gegen eine maßlose Ausbeutung schützen könnte.

Als Arbeiter, der hart schuftet und hohe Steuern und Abgaben zahlt, muß ich mich auch noch am Arbeitsplatz von einer Unternehmensführung terrorisieren lassen, die mich noch effektiver einsetzen will und diese gesteigerte Rentabilität wiederum für die Spekulationsgeschäfte des Unternehmens nutzt. Der Rentier und der Gläubiger bleiben zweifellos typische, erkennbare, verteufelbare Figuren: etwa der weltweit agierende Pressezar, der auch nach der Pensionskasse seiner Beschäftigen greift, oder jener halsbrecherische Spekulant, der bei seinem Sturz ganze Finanzgesellschaften mit sich reißt.

Doch wir wissen auch, daß der Gauner in Nadelstreifen, der superreiche Vermögensverwalter oder der Direktor mit dem astronomischen Gehalt nur die Schaumkrone auf einem Ozean aus Millionen kleiner Aktionäre sind, die mehr oder minder sparsam leben müssen. Und wenn sie nicht wollen, daß ihr Guthaben in einem bißchen Rauch aufgeht, der über den Altären der Börse aufsteigt, bleibt den Arbeitnehmern mit ihren kleinen Spareinlagen am Ende nichts übrig, als sich auf einen der verabscheuungswürdigen Schmarotzer aus der Führungsetage zu verlassen. Wie ein seltsamer Flaschengeist aus meiner eigenen Zukunft ist dieser Wächter des Profits in meiner Werkstatt, in meinem Büro präsent, um sicherzustellen, daß ich heute bis ans Ende meiner Kräfte arbeite und nur ja keinen Moment damit vergeude, etwa auf meinem Computer zu spielen.

Wenn ich krank bin und auf mein Recht auf Gesundheit poche, werde ich mit einer perversen Praxis konfrontiert, die früher oder später die beste Sozialversicherung aushöhlt: daß eine kostenbewußte Verwaltung (mit guten Gründen und durch einen Minister mit den besten Absichten) an die Stelle der ärztlichen Behandlung tritt, die prinzipiell keine Nachforschungen über die Ursachen für den Gesundheitszustand anstellte: Demnächst werde ich mein verantwortliches Verhalten in Vergangenheit und Zukunft bis in die intimsten Bereiche meines Körpers nachweisen müssen, um ein Recht auf Erstattung zu bekommen. Und wenn ich den genetischen Nachweis oder den Gesundheitspaß ablehne, werde ich dennoch einzahlen müssen: für die anderen, jene, die damit einverstanden sind, im Namen der Verantwortung für die Gemeinschaft das Verfügungsrecht über ihren eigenen Körper aufzugeben.

Wenn ich gezwungenermaßen mein Fahrzeug benutze, nehme ich an einer der schlimmsten je erdachten technischen Bauernfängereien teil und verstärke unfreiwillig die chronische Ausbreitung der Umweltverschmutzung, die ebenfalls dazu beiträgt, die Kosten für das Gesundheitssystem explodieren zu lassen. Je besser ich als Konsument mit Fleisch, Wasser oder Gemüse versorgt werde, desto weniger kann ich vergessen, daß ich damit zur schnelleren Ausbreitung einer industrialisierten Ernährungsweise beitrage, die ebenso wahnsinnig ist wie die Rinder, die sie hervorbringt, indem sie die Kadaver ihrer kranken Artgenossen an sie verfüttert.

Je mehr ich als Ökologe der Meinung bin, daß Recycling eine gute Sache ist, desto mehr schäme ich mich als Tierfreund, hinnehmen zu müssen, daß die Futterdosen für Hunde und Katzen mit Fleisch von Hunden und Katzen gefüllt sind, weil die Abdeckerei wenig Unterschied macht bei den Tieren, die auf unseren Straßen überfahren worden sind. Diese Praxis ist seit langem bekannt, auch wenn sie von der Tierfutterindustrie diskret verschwiegen wird.1

Wenn man jedoch die Rinderwahn-Affäre aufmerksam verfolgt, geht es bei dem Skandal gar nicht so sehr um die artenübergreifende Übertragung einer degenerativen Krankheit (die Tierärzte wissen seit langem, daß das Schafszittern und die spongioforme Enzephalopathie der Rinder wahrscheinlich übertragbar sind und daß eine Notschlachtung allein im Hinblick auf den Ort des Seuchenausbruchs erfolgen muß) oder gar um die Übertragung auf den Menschen. Das Gefühl des Abscheus entsteht letztlich dadurch, daß Tiere mit Proteinen gemästet werden, die von ihrer eigenen Art kommen.

Im Grunde ist es die Autophagie, die Schrecken einjagt, verunsichert und empört. Das Gespenst der Autophagie führt dazu, daß nun all diese Ausdrucksformen eines Utilitarismus angeklagt werden, in dessen Namen man einen Austausch von Genen, Organen und Geweben innerhalb ein- und derselben Art betreibt. Und wir stehen in vorderster Reihe: Je mehr ich damit einverstanden bin, auf dem Operationstisch Knochen, Augen, Eingeweide, Blut und Neuronen von meinem Nachbarn zu erhalten, desto mehr ahne ich in meiner wissenschaftlichen Unkenntnis, daß ich dazu beigetragen habe, eine Epidemie zu verbreiten, gegen die Aids nur ein Heuschnupfen ist. Je zufriedener ich als Konsumentin von Kosmetikartikeln bin, desto weniger darf ich über die Herkunft der Verjüngungscremes wissen wollen. Denn diese sind mit Erzeugnissen aus menschlichen Körpern angereichert und stammen von Patienten, die sich dessen nicht immer bewußt sind. Verführung findet so auf (geringe) Kosten der Gebärenden statt, mit deren Plazenta neben den Hormonen ewiger Jugend etliche andere Aspekte des Lebens und viele andere symbolische Eigenschaften des Menschlichen in Umlauf gebracht werden.

Daß für den Körper eine Gefahr besteht, beweist die Vielzahl der Verbote, die schwangeren Frauen auferlegt werden (letzte Anzeichen dafür, daß es für den Tausch von allem gegen alles Grenzen gibt?): Tabak, Alkohol, aber auch ein Großteil der Pharmaka und alle Schönheitsprodukte, deren hormonelle Beigaben den Ablauf der Schwangerschaft stören könnten. Als ob ich nur noch bei der Fortpflanzung, dem einzig geheiligten Moment des Zyklus, das Recht hätte, mich den alltäglichen Giftgaben zu entziehen – wobei selbst hier das Geburtsdatum immer häufiger chemisch gesteuert wird. Symbolisch gesehen ist der Effekt, auch wenn er aus empirischen Gründen außer acht gelassen wird, durchaus gegenwärtig: Durch die Autophagie wird die Frau über die Annehmlichkeiten des Systems dazu gebracht, sich selbst zu konsumieren oder, genauer gesagt, sich in verschiedene Persönlichkeiten aufzuteilen, wobei eine der anderen dient: Die Gebärende wird von der Frau genutzt, die in der Liebe Erfolg haben will, und die schwangere Frau wird zur Gefangenen der weiblichen Hormonausschüttungen, die ihr dann von der Industrie angeboten werden.

Der Mensch als Ersatzteillager für die Maschine Mensch

DIE Spezialisten der Branche finden solche Aussagen über die Selbstkonsumierung besonders empörend, weil sie von ihr leben. Sie stellen fest, daß man sich des Phänomens in seiner Gesamtheit immer mehr bewußt wird, und versuchen nun verzweifelt, die beunruhigende Botschaft zu verbieten, etwa so, wie die amerikanischen Nahrungsmittelkonzerne, die es geschafft haben, Gesetze gegen die „Verleumdung“ von Lebensmitteln durchzubringen. Von nun an riskiert man einen Prozeß, wenn man erklärt, daß ein „angereichertes Weizenbrot“ (in Nordamerika gang und gäbe) ein Skandal sei, oder daß eine Tomate genetisch verändert worden ist, damit sie eine Würfelform bekommt.

Doch solche Vergeltungsmaßnahmen nützen wenig gegen die erdrückende Logik, die den Mechanismus der Autophagie bloßlegt. Dagegen sind auch die Bataillone von Rechtsanwälten machtlos, die nachweisen sollen, daß Fingernägel, Haare, Hautfetzen und so weiter nicht gleichbedeutend sind mit dem menschlichen Körper, oder daß jeder das Recht hat, seine Zehen zu verkaufen, weil er ja immer noch, selbst mit abgeschnittenen Zehen, er selbst bleibt?

Zwar gehört die Plazenta weder zum Körper des Kindes noch zu dem der Frau, aber das ist nicht die Frage: Es geht vielmehr darum, was es auf der sozialen Ebene bedeutet, wenn alle damit einverstanden sind, die Plazenta für die Kosmetikindustrie zu nutzen, anstatt sie den Müttern zu geben, die sie vielleicht in ihrem Garten verteilen wollen. Und wenn man (im Zusammenhang mit den erschreckenden Nachrichten über den Rinderwahn) erfährt, daß zwei Entbindungskliniken in Zürich2 menschliche Plazenta liefern, die dem Tiermehl beigemischt wird, welches als Futter für Schweine und Hühner vorgesehen ist – muß man sich nicht fragen, was da eigentlich vorgeht?

Es ist tatsächlich etwas im Gange – eine längst überfällige gesellschaftliche Debatte über die kollektiven Beweggründe unserer Handlungen hat begonnen, die keineswegs irrational geführt wird. Es geht vor allem um die Folgen einer Verabsolutierung des Nützlichkeitsdenkens, darum, daß es undenkbar ist, die Kultur, die symbolische Grundlage des Handelns, auslöschen zu wollen, in diesem Bereich, in dem Gewißheit über unsere Identität als menschliche Subjekte fraglich wird und der Vernunft nichts bleibt als die ethische Entscheidung, die bewußte Grenzziehung.

Zu dieser Frage gehört auch der Handel mit menschlichen Organen zu medizinischen Zwecken. Eine Familie, die etwas verspätet nach dem Tod eines Verwandten eintrifft, wird wohl selten darum ersuchen, daß man den Leichnam auf den Bauch legt: Es wird also der Rücken geöffnet, um Herz, Lunge und die anderen inneren Organe zu entnehmen, um sie dann als „Spende“, dem gesellschaftlichen Verwertungskreislauf zuzuführen. Doch dieser verstohlene Akt, der nur die Kehrseite einer Gesetzgebung darstellt, die sich zu einer entschiedenen Ablehnung dieser Körperindustrie nicht entscheiden kann, wirft eine Frage auf: Kann dem geheiligten Gesellschaftskörper überhaupt das legitime Recht zugesprochen werden, Teile aus dem Inneren eines Menschen, tot oder lebendig, in Umlauf zu bringen? Was für eine Art Mensch bin ich eigentlich, wenn ich, sobald ich krank werde, mich eines anderen menschlichen Wesens als Ersatzteillager bedienen kann? Wie kann ich erwarten, von der Gesellschaft respektiert zu werden, wenn ich mich selbst als ein Konstrukt aus verwertbaren Teilen empfinde?

Die Antwort darauf ist sicherlich nicht einfach, und über die Entwicklung dieser Technik der Thanatophagie (Totenverspeisung), die zweifellos auf Kosten anderer medizinischer Bereiche geht, läßt sich kein moralisches Urteil fällen. Die Frage kann aber auch nicht im Namen einer Spenderethik ausgeräumt werden, die ihre Kehrseite nicht zur Kenntnis nehmen möchte: Nämlich die Schaffung einer umfangreichen Apparatur, die dazu dient, Menschen für andere auszunutzen, natürlich auch gegenseitig.

Die Organindustrie und die Hersteller von Nahrungssubstanzen sind nur ein spektakulärer Teilbereich des Systems und seiner Tendenz zur Vernetzung innerhalb der gleichen Branche oder zwischen mehreren Branchen. Aber vielleicht ist es nicht der wichtigste. Denn auch abgesehen von der Empörung der Medien über den Freßwahn, die Gefahren, die vom Asbest ausgehen, das Ansteckungsrisiko innerhalb der Arten oder die allgemeine Umweltverschmutzung gibt es Anzeichen dafür, daß ein allgemeiner Glaube an das Allgemeinwohl besteht.

So zum Beispiel der Glaube an die Segnungen, die die erzwungene Zerstückelung nicht allein des Körpers, sondern auch der Kompetenzen, Tätigkeiten, Freuden, Menschenleben und letztendlich der menschlichen Wesen an sich mit sich bringen soll. Da ein solcher Glaube durch die Folge von Skandalen bei der Industrialisierung des Lebens und der Intimität in seinem rationellen Bewußtsein nicht erschüttert wird, fällt er in Form einer irrationalen Bedrohung auf uns zurück.

Zwar sagte schon ein Psychoanalytiker: „In meinem Herzen bin ich ein Schwein, also stört mich die Vorstellung nicht, ein Spenderherz aus einem Schwein transplantiert zu bekommen, wenn ich herzkrank bin.“ Doch der Anthropologe weiß, daß die Sache so einfach nicht ist: Wenn das Schwein mittels einiger genetischer Veränderungen dazu gebracht wird, für unsere Herzkranken Spenderorgane zu produzieren, wird ein unabwendbarer symbolischer Effekt auftreten. Das Schwein wird dann Teil jener großen, universell gedachten Menschheitsfamilie sein. Doch dieses Universelle ist die logische Entsprechung einer Gegenüberstellung des Einzelnen mit sich selbst, und niemand kann das kollektive Unbewußte mehr daran hindern, folgende Überlegung anzustellen: Wenn das Tier sich selbst ißt und ich das Tier esse, dessen – industrialisierten – Körper ich somit benutze, um mich zu regenerieren, dann kann ich auch in Betracht ziehen, mich selbst zu essen.

Man glaube ja nicht, daß dieser Gedanke, der in uns spukt, durch irgendein akademisches Vernunftdenken verdrängt werden könnte, auch durch die Geisteswissenschaften nicht. Wo sich diese Frage stellt, erschüttert sie den tiefsitzenden Gleichmut der Fachleute. So zum Beispiel in den siebziger Jahren, als sich die Anthropologen in der Frage der Anthropophagie spalteten: in eine „revisionistische“ Schule, die den Kannibalismus leugnete, und in eine „ökonomische“ (oder ökologische), die behauptete, daß die Menschenopfer, welche von den aztekischen Aristokraten verspeist wurden, lediglich auf einen Mangel an tierischen Proteinen in diesen Gesellschaften zurückzuführen seien. Hier handelt es sich um die klassische Bewußtseinsspaltung des Bürgers im Spätkapitalismus, angesichts des Grauens, das er selber hervorruft: Entweder man verneint es schlicht und einfach (typisch dafür ist die Leugnung der Gaskammern), oder man behauptet, es gebe vernünftige Gründe für die Vernichtung.

Menschenfresserei als vernünftige Lösung

DIE Zunft der Wissenschaftler war sich bei diesem Thema uneins und konnte nicht wirklich Stellung beziehen. Einige meinten zögernd, selbst in den schlimmsten bekannten Fällen habe die Verspeisung von Feinden (sogar von Verwandten) einen so geringen Ertrag an Proteinen erbracht, daß das ökologische Argument nicht aufrechtzuerhalten sei. Aber darum geht es nicht (selbst wenn das Bemühen verdienstvoll ist). Vielmehr stellt sich die Frage, auf welches Gesellschaftsmodell sich ein Anthropologe stützt, der vernünftige Gründe dafür findet, daß man sich von seinesgleichen ernährt (selbst wenn ihn das hoffnungslos befremdet, und zwar um so mehr, als erwiesen ist, daß in den gleichen Gesellschaften die Adoption besiegter Feinde an Sohnes oder Tochter Statt die Regel war!). Es geht darum, daß ein Wissenschaftler als Mitglied einer empiristischen Gesellschaft die Werte derselben verherrlichen kann, indem er sie auf die Menschenfressergesellschaften anwendet, die er erforscht. Denn was er damit sagt, ist klar: Meine Gesellschaft ist diejenige, die sich historisch die Menschenfresserei als vernünftige Lösung ihrer Probleme vorstellen kann. Meine Gesellschaft ist eben die, welche zu dem Schluß kommen kann, daß die Ernährung eines Lebewesens durch sich selbst nützlich ist.

Mit anderen Worten: das Problem liegt nicht in der (vollkommen unbegründeten und sogar ziemlich dummen) These, sondern in der Tatsache, daß manche Leute – aus den intellektuellen Eliten eines sich universell verstehenden Kapitalismus – tatsächlich glauben, daß eine Gesellschaft dem Paradox von Handlungen, die sich selbst zerstören, entkommen kann.

Die Anthropologie beweist es ja: Die Menschenfresserei ist eng verbunden mit der Faszination des Schreckens, die der Mensch angesichts dessen empfindet, was seine eigene Identität darstellt. Sie stellt selbst die Möglichkeit des Überlebens einer Gesellschaft in Frage, in der der Mensch nicht eine radikale Abschirmung seines Selbst nach außen, eine vollkommene Unzugänglichkeit gegenüber jedem Zugriff auf sein eigentliches Wesen bewahren würde.

Echte Autophagie, erdachte Autophagie, Zwischenformen physischer, wirtschaftlicher oder kultureller Autophagie: Es ist das eigentliche Schlüsselwort des spätkapitalistischen Systems oder vielmehr die Schlüsselfrage. Und doch bedurfte es nicht des gelehrten Menschen, sondern des wahnsinnigen Rindes, um die Phantasie in Gang zu setzen und bei aller Hysterie und Angst vor dem Fleischverzehr einige wesentliche Dinge zu sagen.

Außergewöhnlich ist sie schon, diese von England ausgehende Ausbreitung der vegetarischen Ängste, einem bis vor kurzem noch puritanischen, von indischer Kultur getränkten, von tausendjährigem Purismus durchdrungenen Land! Deren Bedeutung zu analysieren ist wichtiger, als die endlose Kritik an unverantwortlichen Gesundheitsbehörden fortzusetzen, welche die Autophagie bei Tieren zuließen. Denn die allgemeine hysterische oder ängstliche Reaktion gegenüber einem gesellschaftlichen Aspekt, der schlagartig Ablehnung hervorruft, ist ebenso bezeichnend wie der Aspekt selbst. Wenn die Autophagie einen solchen Ekel hervorruft, daß der Fleischmarkt zusammenbricht, bedeutet das, daß im kollektiven Unterbewußtsein etwas im Gange ist.

Auf dieses Unterbewußte muß man hören, vor allem, weil es sich schon morgen als ebenso gefährlich erweisen kann wie die Praktiken, die es verurteilt. Es mag zunächst harmlos erscheinen, eine Religion der Selbstbeschränkung zu stiften, die sich auf neue Gebote stützt wie: „Du sollst keine eßbaren Tiere mit ihrem eigenen Fleisch ernähren; Du sollst keine Pflanzenfresser mit Fleisch ernähren; Du sollst keine Fische mit Tiermehl aus der Abdeckerei füttern.“

Dabei sollte aber nicht vergessen werden, daß in dem Moment, in dem diese Art von Geboten zur Norm erhoben wird, auch Kräfte entstehen, die sie erweitern, verallgemeinern und sie dem Privatleben aufzwingen. Es beginnt mit den besten Absichten, wird dann von der Panik aufgebläht, gerät zum Ausnahmezustand und schließlich zur allgegenwärtigen übergreifenden und zwingenden Diktatur. Es ist also höchste Zeit, sich auch die verrücktesten Meinungen anzuhören, um dann daraus jenseits aller wissenschaftlichen Gutachten die Schlüsse zu ziehen, die für ein Prinzip der Vernunft taugen.

Auf Hysteriker hört man im allgemeinen nicht: Man stopft sich die Ohren zu, schreit lauter, oder man bringt sie zum schweigen. Während der Inquisition verbrannte man sie. Wenn in Rom eine junge hysterische Frau angab, ihre Gebärmutter sitze in ihrem Hals, um sie zu ersticken, kümmerten sich Hebammen und Ärzte um sie und verordneten einen Aderlaß oder ein Sitzbad oder eine heftige Abreibung der Vulva. Aber niemand erhob die Stimme, um zu sagen, daß es sich hier um eine eindeutige Metapher handelte, den Ausdruck von Protest gegen die Eheschließung mit zwölf und eine Schwangerschaft mit dreizehn Jahren, gegen eine Diktatur der Genetik über die Sexualität: Das war „erstickend“ und entsprach somit genau dem, was diese ganz jungen Frauen sagten. Und ebenso sagten die Hexen, die am Ende des Mittelalters verfolgt wurden, schon im voraus, wie groß die Begierde der Inquisitoren war, sie brennen zu sehen, und wie wahnsinnig eine religiöse Ordnung, die sich auf die Verherrlichung eines solchen Begehrens gründete, das durch die Unterdrückung von Reformation oder Gegenreformation noch angefacht wurde.

Im neunzehnten Jahrhundert fragten sich Gelehrte wie der berühmte Nervenarzt Professor Charcot, warum die sogenannten hysterischen Patientinnen gegenüber dem Arzt, der den Geistlichen ersetzt hatte, ständig mit zuckenden Bewegungen vulgäre Gesten machten. Dabei lag die Botschaft auf der Hand: War die viktorianische Gesellschaft nicht auf Heuchelei aufgebaut, weckte sie nicht Lüste, die sie sodann eindämmte, um sie in gewinnträchtige Ausdrucksformen für Bürger und Arbeiter zu kanalisieren?

Aber was meint Hysterie heute, in dieser ultraliberalen Welt, in der alles erlaubt ist? Ist sie verschwunden? Es mag so scheinen, wenn man nach den Symptomen sucht, die im letzten Jahrhundert typisch waren. Anders sehen es jene amerikanischen Frauen, die eine multiple Persönlichkeit aufweisen und die Anerkennung ihres Syndroms durch Richter und Psychiater fordern. Und was sagen sie? Daß eine Persönlichkeit immer von einer anderen versteckt, gefangen, in Besitz genommen wird. Ganz wie in dem ausgezeichneten Gruselroman von Stephen King „The Dark Half“3, wo der Verbrecher sich im Gehirn des Opfers festsetzt.

Auch hier verliert man sich gelegentlich in Mutmaßungen. Dennoch, die Botschaft ist eindeutig: In dieser Gesellschaft der erfüllten Wünsche gibt es in uns allen den vielfältigen Wunsch nach dem ganz anderen. Da wir alles wollen, und zwar sofort, sind wir zwangsläufig früher oder später mit uns selbst, mit dem anderen Geschlecht, mit einer anderen gesellschaftlichen Stellung konfrontiert. Und dann geschieht das, worüber diese Frauen mit der multiplen Persönlichkeit ständig klagen: Jede dieser Persönlichkeiten wirft den anderen etwas vor, bekämpft sie, nimmt ihnen etwas weg und enttäuscht sie, um sogleich selbst enttäuscht zu sein von dem, was sie den anderen genommen hat.

Der kollektive Aspekt der individuellen Hysterie

AUTOPHAGIE: genau das hat die persönliche, die individuelle Hysterie seit einigen Jahrzehnten zu beschreiben begonnen. Und jetzt sind wir dabei, mit Hilfe der großen Ängste, die die Medien kurz vor dem Jahre 2000 schüren, zu den Kollektivformen dieser Überzeugung überzugehen. Sich damit menschlich auseinanderzusetzen, ist jedoch weit schwieriger, denn hier besteht die Tendenz, die individuellen Ängste durch eine allgemeine Schuldzuweisung zu „heilen“. Noch sind wir nicht die Beute von Phobie und Hysterie geworden, die angesichts der vielfältigen Gefahren in unserer Gesellschaft vor der Jahrhundertwende über uns lauern – noch stoßen sie nicht hinab wie Raubvögel, um uns zu packen. Vielleicht ist noch Zeit, zu verhindern, daß der in Erwartung des dritten Jahrtausends bereits entstandene Chiliasmus Ausschreitungen ungeheuerlichen Ausmaßes erzeugt. Doch dafür müßte man zunächst mit der Hysterie einen Dialog eingehen und sie dahin führen, wo ihr eigentliches Ziel erkennbar wird: das Selbstverschlingungsprinzip des Spätkapitalismus.

Vegetarier zu werden nützt nicht viel, denn das Gemüse (wie auch das Wasser und das Getreide) ist oft voller Schwermetalle, die die Keimdrüsen belasten, was zum Teil den Rückgang der Befruchtungsfähigkeit des Spermas erklärt (anders als bei den von Prionen ausgelösten Krankheiten, die nur anhand von vier atypisch verlaufenen Fällen des Creutzfeldt-Jakob-Syndroms beobachtet wurden, basiert diese Erkenntnis auf einem Mittelwert, der über mehrere Jahrzehnte aus Tausenden von Spendern in der ganzen Welt ermittelt wurde).

Es wäre kaum ratsam, Hoffnungen auf einen ordentlichen Krieg oder einen erlösenden Weltuntergang zu setzen. Und es wird auch nichts nützen, vom Ansteigen des Meeresspiegels durch das Abschmelzen der arktischen Gletscher zu träumen, selbst wenn die britische Presse das jeden Tag beschwört, denn wenn es dann wirklich ernst wird, werden wir alle schon längst tot sein. (Und bis dahin werden wir wegen der Verlangsamung des Golfstromes frieren.) Die Vorstellung, daß Afrika durch Aids von seinen menschlichen Bewohnern gesäubert wird, ist auch nicht gerade intelligent, denn zum einen ist sie falsch, und zum anderen wäre es besser, an diesem Punkt nach dem rassistischen Hintergrund dieser Analyse zu fragen sowie nach den vielfältigen Gefühlen, die gleichsam aus Unachtsamkeit zum Völkermord führen können.

Und was soll eigentlich dieser Widerstand? Dieses Unvermögen, ohne Ausflüchte dem ins Auge zu sehen, was verändert werden muß. Durch unsere Selbstverwirklichung als universelle und abstrakte „totale Untertanen“, als Fleisch gewordene Ideale des allgemeinen Austausches, kurz, als Verwirklichung des Ideals der Moderne, dem von unseren großen Philosophen im 17. und 18. Jahrhundert klar aufgezeigten Ziel, haben wir geradewegs einen anthropologischen Irrweg eingeschlagen, den die primitiven Gesellschaften von jeher mit der Idee der Totalität verknüpft haben: die Autophagie. Die Autophagie ist aber keine aus den Umständen sich ergebende, zufällige Auswirkung des Kapitalismus. Sie wohnt ihm als Menschheitsentwurf inne.

Hier müssen nun neue Denkansätze gefunden werden, hier muß eine neue Aufklärung stattfinden und nach möglichen Lösungen gesucht werden. Und das muß jetzt geschehen, denn wir sind uns darüber einig, daß in etwa vier Jahren eine Art Seite im großen Geschichtsbuch umgeblättert werden wird. Bis dahin muß noch viel getan werden, um eine triumphale Wiederkehr des Obskurantismus zu verhindern.

Kann die Welt demokratisch sein, ohne sich aufzufressen?

DESHALB muß man den Grundwiderspruch unseres Systems ernst nehmen: Eben weil es demokratisch ist, hebt es alle Regeln auf, um die Entdeckung von neuen Profitquellen zu ermöglichen. Eben weil es demokratisch ist, schwächt es die Interessenverbände und die sozialen Sicherungen, löst es die individuellen und kollektiven Beschränkungen beim Zugriff auf den Körper auf. Aber deshalb trifft es auch auf die Autophagie: Sonst könnte es sich damit zufriedengeben, wieder an die klassischen Formen der Aristokratie, der Sklaverei oder der Landnahme durch Krieg anzuknüpfen.

Solange unsere Wirtschaft nur vom Sklavenhandel mit Ländern lebte, die so weit wie möglich von Europas Küsten entfernt waren, war der Rückschluß vom anderen auf sich selbst nicht ohne weiteres möglich. Solange ich davon ausgehe, daß ich den entlohnten Sklaven in sein Ursprungsland zurückschicken kann, kann ich mir immer noch vormachen, daß er nicht ich ist und daß die Katastrophe, in die ich ihn zwinge, nicht auf mich zurückfällt. Wenn aber ein englischer Arbeiter schlechter bezahlt wird als sein koreanischer Kollege, wenn mir bewußt wird, daß keine Grenze, keine Rechtsprechung, keine Schutzmacht mich davor bewahren kann, ein Rädchen in der riesigen Maschine zu werden, die den Arbeitsplatz macdonaldisiert, dann kommt für mich so etwas wie eine Verbindung von Demokratie und Autophagie zum Vorschein.

Im übrigen ist die Kritik der Liberalen an den Privilegien der Beamten oder der Mitglieder von Interessenverbänden nicht falsch. Denn hierbei handelt es sich ja durchaus um Versuche, der allgemeinen Proletarisierung zu entkommen; um die Hoffnung, durch Bremsen, Verlangsamung und durch die Einsetzung kollektiver Verbindlichkeiten des Staates oder der Berufsverbände die Mobilmachung der Weltmaschine oder jener „Cyberdemokratie“ zu blockieren, von der die visionären Technikfans träumen.

Die Kämpfe, die als Reaktion darauf stattfinden, sind ein gutes Zeichen (und die Bewegung vom Dezember 1995 in Frankreich war ein mutiges Beispiel), doch man muß den Verfechtern des Neoliberalismus, bei aller Doppelzüngigkeit dieser Theorie einer sich bereichernden Klasse, eine gewisse Logik zugute halten: Die Idee einer egalitären Menschheit, der Beziehungen von gleichberechtigten Individuen zueinander, bedeutet in der Tat, daß alle sich in einem gemeinsamen Kreislauf befinden. Und daß es keinen festen Ort mehr gibt, von dem aus man die anderen betrachten und sich über diese erheben könnte (ausgenommen natürlich der Platz desjenigen, der die Profite verwaltet).

Wenn man die tiefe Logik, die faszinierende Schönheit dieser Vorstellung vom Ganzen unterschätzt, läuft man Gefahr, das Wesentliche in der Kritik am heutigen Kapitalismus auszulassen und zu den hoffnungslos Gestrigen zu gehören, die kleine Einzelprivilegien verteidigen, anstatt sich mit Begeisterung in die Menge der Gleichen einzureihen, die auf dem Weg zur Erlösung sind, Monaden, endlich durch den Computergott vereint, wie bei Leibniz (oder seinem Prediger Michel Serres). Gerade weil keine Logik sich in sich selbst verschließen, sich selbst begründen kann, blockiert die schöne Metapher von der Weltgemeinschaft der Menschen sich selbst: Sie frißt sich selber um so sicherer, als sie demokratisch ist.

Die Notwendigkeit von Rückzugs- und Ablenkungsgefechten ist nicht zu leugnen, aber auf anderer Ebene kann man einen Schlag führen, der das „Einheitsdenken“ empfindlich treffen wird. Und zwar in Form einer Frage: Wie bleibt man entschieden demokratisch, ohne sich selbst aufzufressen? Wie ist das Ziel jeder menschlichen Politik, nämlich niemals die Gleichheit derer in Frage zu stellen, die daran teilhaben (und jeden einzelnen in die politische Gemeinschaft einzubeziehen), zu erreichen, ohne ein großes Blutbad anzurichten, in dem jeder unter dem Vorwand, sich in eine allgemeine gegenseitige Nützlichkeit einzuordnen, im anderen ein Stück seiner selbst, seiner Vergangenheit, seiner Zukunft, seines Geschlechts und seiner Unabhängigkeit verschlingt?

dt. Christophe Zerpka

1 Die sie angeblich selbst gerade abschaffen.

2 „Suisse, scandale autour de l'utilisation de placenta humain“, Le Monde, 9. April 1996.

3 Stephen King, „The Dark Half“, München (Heyne) 1991.

* Soziologe, Forschungsdirektor am CNRS, Paris. Verfasser von „Complexe du loup-garou“, Paris (La Découverte) 1994, und von „Nature, Démocratie, Passions“, Paris (PUF, coll. Sociologies) 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Denis Duclos