16.08.1996

Wahrheit durch Fiktion

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Wahrheit durch Fiktion

„El sitio de los sitios“,

von Juan Goytisolo, Madrid 1996,

Verlag Alfaguara

208 Seiten, 1635 Peseten.

IN einem rasenden Wettlauf gegen die Zeit reist der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo durch die Welt, sucht Fluchten und Gefahren. Will er den vernichtenden Schicksalsschlag oder ist er auf der Suche nach „dem Werk“, das sich ihm immer wieder entzieht? Das letzte, was man von ihm hörte, war, er sei aus Tschetschenien zurückgekehrt, wohin er im Auftrag der Madrider Zeitung El Pais gefahren war. Zuvor hatte er sich bereits zweimal während des Krieges als Mitglied der Organisation Reporter ohne Grenzen in Sarajevo aufgehalten. Während seines zweiten Besuchs hatte ihn eine Szene tief berührt, die er von seinem Hotelzimmer aus verfolgt hatte: eine Frau, die versuchte, die von Freischärlern mit Maschinengewehrfeuer bestrichene Straße auf den Knien zu überqueren, um in einen Schutzraum zu gelangen.

Der Schriftsteller hatte schon viele Schreckensbilder in Sarajevo gesehen, das mörderische Spiel der internationalen Gemeinschaft und die Ruinen der Bibliothek mit Tausenden Büchern – in sämtlichen Sprachen der Kämpfenden –, die nun zu Asche verbrannt waren. Aber das Bild jener Frau, die in den Tod kroch, hörte nicht auf, ihn zu verfolgen. Journalistische Sachlichkeit allein hätte nicht ausgereicht, um ihn von diesem Schreckensbild zu befreien. Nur Fiktion, eine ins Extreme getriebene Fiktion konnte diese brutale Gewalt wiedergeben. In seinem neuen Roman „El sitio de los sitios“ („Die Belagerung der Belagerungen“, also die Belagerung par excellence, analog dem biblischen „Lied der Lieder“), wird ein Kunde von einer Handgranate getötet, während er der Frau zusieht, wie sie auf Knien rutschend den Unterschlupf zu erreichen versucht. Diese erste Erzählung ist in der dritten Person geschrieben. Neben Ereignissen, die ein anonymer Autor in Sarajevo erlebt, enthält sie auch Erinnerungen an die rue du Faubourg- Saint-Denis in Paris, in der der Betrachter offenbar wohnte. Beschreibungen und Träume, Berichte des Kommandanten der „Blauhelme“ und Gedichte, die im Gepäck des Verschwundenen gefunden werden, lassen die Zeitebenen durcheinanderwirbeln und Widersprüche aufkommen. Sie verweisen darauf, daß Juan Goytisolo sich in der Tradition von Cervantes sieht. Jegliche Parteinahme des Lesers wird durch dieses Vorgehen vereitelt.

Durch diesen Trick versetzt Juan Goytisolo uns, seine privilegierten Leser, unvermittelt in eine Struktur aus konzentrischen Kreisen, die sich aus Intoleranz, Rassismus, Marginalisierung und Ultraliberalismus zusammensetzen. Man muß den Text lesen, wieder lesen, zurückblättern, sich an ihm entlangtasten, um den Ausgang des Labyrinths zu finden. Darin gleicht er der Sonate von Brahms, die die erste Person des Romans am Klavier zu spielen versucht, zunächst nur mit einer Hand, dann mit beiden ...

RAMON CHAO

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Ramon Chao