16.08.1996

Verkaufte Kindheiten

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Verkaufte Kindheiten

ES gibt Themen, die nicht leicht zur Sprache zu bringen sind. Aber die Ausbeutung von Kindern durch ein weltumspannendes Netz der Prostitution, die mit einer erschreckenden Ausbreitung des Sextourismus verbunden ist, zwingt Behörden und Menschenrechtsorganisationen dazu, sich endlich auf durchgreifende Maßnahmen zu verständigen. Auf Initiative des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) treffen sich vom 27. bis zum 31. August in Schweden die Vertreter von etwa hundert Regierungen sowie zahlreicher Institutionen, um eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung dieser Mißstände zu entwickeln.

Von CLAIRE BRISSET *

Es gibt „Prostituierte“, die noch keine fünf Jahre alt sind. Manche befinden sich gar noch im Säuglingsalter – ein in Belgien identifiziertes Opfer war nicht älter als neun Monate. Es ist an den Folgen des Mißbrauchs gestorben.

Eine Million Kinder werden jährlich weltweit zu Opfern von Sextourismus und organisierter Prostitution – eine Wachstumsbranche, die im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden des Planeten lukrative Geschäfte verspricht, die Gewinne in Höhe von Milliarden Dollar abwerfen: Schließlich ist die Nachfrage groß und das Angebot grenzenlos. Ein tödlicher Handel, der zerstörte Kindheiten, Vergewaltigungen und Aids einschließt.

Zum ersten Mal befaßt sich die Weltöffentlichkeit mit einem Problem, dessen internationale Dimensionen die politisch Veranwortlichen nicht länger übersehen können. Vom 27. bis zum 31. August tagt in Stockholm ein Weltkongreß über die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu kommerziellen Zwecken, eine gemeinsame Initiative der schwedischen Regierung, der Unicef und einer Vielzahl von regierungsunabhängigen Organisationen; die aktivsten unter ihnen sind im „End Child Prostitution in Asian Tourism“ (Ecpat; Beendigung der Kinderprostitution im Asientourismus)1 organisiert, einem Verband der sich schon seit Jahren in diesem Kampf engagiert. Über hundert Regierungen sowie Interpol haben ihre Teilnahme angekündigt, dazu auch zahlreiche Vertreter der Tourismusindustrie, die sich der Entgleisungen in ihrer Branche durchaus bewußt sind.

Die Tatsachen sind längst bekannt, und jeder schien sich damit abgefunden zu haben, Manila, Bombay oder Bangkok in riesige Bordelle verwandelt zu sehen.2 Sicher, hieß es, diese Hunderttausende von Opfern sind nicht ganz freiwillig bei der Sache, aber wenigstens haben sie einen Job; einige unter ihnen sehen in der Tat sehr jung aus, aber die Asiatinnen sind ja schon so früh reif... Kinder? Aber wie definiert man das? Fünfzehn Jahre? Zwölf? Wer soll das wissen! Acht Jahre? Fünf? In diesem Punkt wurde und wird geleugnet und vertuscht.

Man kann die Augen vor dieser Entwicklung aber nicht länger verschließen. Zu schnell und massiv breitet sich der Markt aus, jedes Jahr hört man von neuen Fällen. Die Kunden der Prostituierten haben solche Angst vor Aids, daß sie immer jüngere Mädchen verlangen, von denen sie annehmen, sie seien noch nicht infiziert. Sie unterschätzen dabei die Gerissenheit und die Geldgier der Zuhälter, die unberührte Kinder zu hohen Preisen anbieten, diese sehr einträgliche „Jungfräulichkeit“ jedoch mehrmals wiederherstellen lassen.

So gibt es nach Schätzungen der Unicef in Thailand ungefähr 300000 Kinder unter sechzehn Jahren, die in Bars und geschlossenen Häusern arbeiten. In streng verschlossenen Häusern, denn diese Kinder, die zumeist im armen und von Minderheiten bevölkerten Norden des Landes verschleppt oder gekauft wurden, sind Tag und Nacht eingesperrt. In einem überwachten Raum überläßt man sie ihren ersten Kunden, später kommen dann zehn bis fünfzehn pro Tag. Üblicherweise kommen zu diesen erzwungenen Sexualkontakten Schläge und Mißhandlungen jeder Art.

Marie-France Botte, eine junge belgische Sozialarbeiterin, hat ihr Leben riskiert, als sie mit Hilfe thailändischer Gruppen 1400 Kinder aus diesen geschlossenen Häusern in Bangkok befreite. „Sie werden vergewaltigt, mit Zigaretten verbrannt, man verletzt sie durch Schläge mit dem Gürtel oder durch Messerstiche, man foltert sie, weil sie die sogenannte „neue Liebe“ nicht wollen. Und am Schluß läßt man sie an den Folgen dieser Mißhandlungen und an Aids krepieren.“3

Diese „neue Liebe“ wird von Pädophilen nicht nur im Westen immer wieder in höchsten Tönen gepriesen und allen gesetzlichen Bestimmungen zum Trotz auch praktiziert. Zwar sieht die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (vom 20. November 1989) das Verbot jeder Form der Kinderprostitution vor und drohen nach französischem Strafrecht fünf Jahre Gefängnis für bezahlte sexuelle Beziehungen zu Kindern unter fünfzehn Jahren sowie zwanzig Jahre Zuchthaus für jede Art des „sexuellen Übergriffs“ auf Kinder unter fünfzehn Jahren, sei er nun „mit Gewalt, unter Drohungen oder durch Überrumpelung“ ausgeführt. Doch gedeckt durch den Kunstvorbehalt floriert andererseits das Geschäft mit einschlägiger Literatur, ohne daß die Autoren das Geringste zu befürchten hätten.

So kann man etwa lesen, was ein gewisser Gabriel Matzneff nach einer Reise auf die Philippinen zu berichten hat: „In puncto Liebe ist, was mir in Asien begegnete, dem, was ich aus Frankreich kenne, weit unterlegen, auch wenn die elf- oder zwölfjährigen Jungs, die ich mir dort ins Bett legte, eine seltene Würze sind. Jawohl, Würze, aber auch nicht mehr: eine bloße Zugabe, nicht das Hauptgericht.“4

Die „Kunden“ der prostituierten Kinder sind durchaus nicht allesamt Perverse. Die meisten sind gewöhnliche Bürger ohne besonders auffällige Gewohnheiten. Sie leben ihre sexuellen Neigungen im Ausland leichter aus als zu Hause, wo das Risiko größer ist. Mit den Jungen und Mädchen der Dritten Welt ist alles so einfach... Das Kind als Gebrauchsgegenstand, das Kind, das man kauft, mietet und dann wegwirft – ohne jede Rücksicht auf die Folgen.

Diese Folgen sind jedoch inzwischen weitgehend bekannt: Da ist die rapide Verbreitung von Aids in ganz Asien, insbesondere in Thailand und Indien, wo die Kinderprostitution nie gekannte Ausmaße annimmt. Da werden Kindheiten ein für allemal zerstört durch die Pädophilen aus dem Westen oder aus Japan, noch häufiger aber aus dem eigenen Land. Und als Begleiterscheinung dieser Kupplergeschäfte etabliert sich ein schwunghafter Handel mit Kinderpornographie.

Es ist schließlich derselbe Kundenkreis: Diejenigen, die Kinder verlangen, filmen sie auch und bringen dieses Material, das dank der neuesten Videotechnik für Amateure immer leichter herzustellen ist, anschließend in Umlauf. Interpol zufolge ist Deutschland der wichtigste Produzent dieser Art von Filmen, Holland und England sind große Umschlagplätze und die Vereinigten Staaten der größte Markt, mit einem jährlichen Umsatz von über einer Milliarde Dollar. Bei anhaltender Nachfrage in Europa und Nordamerika weitet sich dieser Handel allmählich nach Asien aus.

Alles deutet darauf hin, daß von Kinderprostitution und Kinderpornographie kein Gebiet der Erde mehr verschont ist. Kambodscha und Vietnam sind stark betroffen, ebenso ganz Lateinamerika, insbesondere Brasilien und Kolumbien (siehe den Artikel von Eduardo Galeano auf den Seiten 4 und 5). In Afrika breitet sich das Phänomen vor allem in Kriegsgebieten aus, da umherirrende Flüchtlingskinder jeder Art von Zwang und Gewalt nahezu schutzlos ausgeliefert sind. Sexuell ausgebeutet werden dort auch minderjährige Heimarbeiter, da man sie zu jeder Art von Diensten für verpflichtet hält. Im Vorderen Orient und im Maghreb betrifft das häufig auch minderjährige Hausangestellte, obwohl die Regierungen das bestreiten, oder es wird der Weg gewählt, Kinder zu heiraten, um die Sexualkontakte mit ihnen zu legitimieren und sie, wenn auch teuer bezahlt, gesellschaftsfähig zu machen.

Dennoch spielen die Länder des Nordens weiterhin eine entscheidende Rolle in diesem Geschäft. Zunächst wegen der Masse von Touristen, die die Bars und „Massagesalons“ des Südens füllen. Dann aber auch, weil die Kinderprostitution in den westlichen Ländern selbst um sich greift, und zwar in zunehmendem Maße. An die 30000 minderjährige Prostituierte soll es in New York geben, zwischen 10000 und 15000 in Paris. Meist sind es Jugendliche aus zerrütteten Familien, die bereit sind, sich zu verkaufen, um sich Drogen zu verschaffen oder einfach nur die Konsumartikel leisten zu können, ohne die man heute nichts mehr gilt. Die Verarmung Osteuropas hat solche Formen des Überlebens auch in diesen Ländern aufkommen lassen, und sie haben bedrohlich schnell Verbreitung gefunden, vor allem in Rußland, Polen und Rumänien.

Was Frankreich betrifft, so haben die Veranstalter des Stockholmer Kongresses harte Kritik vor allem an Minitel (eine Art öffentliches Btx-Netz) geübt; es ist bekannt, daß Minitel – mit faktischer Billigung seiner Betreiberin, der France Télécom – ein beliebter Umschlagplatz der Prostitution ist, die Prostitution Minderjähriger eingeschlossen. Insgesamt geben die Möglichkeiten des Mißbrauchs modernster Kommunikationstechniken – vor allem im Internet – Anlaß zu größter Besorgnis. Weiterhin ist zu bedenken, daß die Banalisierung pornographischer Szenen durch ihre Verbreitung im Fernsehen dazu führt, daß alle, nicht nur die Pädophilen, meinen, mit Kindern ließen sich derartige Phantasien verwirklichen.

Ist diese Entwicklung noch in den Griff zu bekommen? Nach einhelliger Meinung sind gesetzliche Maßnahmen erforderlich. Die entsprechenden Bestimmungen müssen erweitert und verschärft, vor allem aber ihre Durchsetzung sichergestellt werden. Zwölf Länder – darunter Deutschland, die USA, Frankreich und Belgien – haben Gesetze mit extraterritorialer Geltung erlassen, was ihnen erlaubt, im Ausland begangenen sexuellen Mißbrauch Minderjähriger im eigenen Staatsgebiet zu ahnden. Großbritannien verschließt sich bislang einem solchen Verfahren, das unbedingt allgemeine Praxis werden sollte. Andererseits haben gewisse, vom Sextourismus besonders bevorzugte Länder, wie die Philippinen oder in jüngster Zeit Thailand, angefangen, diese Auswüchse zu bekämpfen. Auf den Philippinen trägt diese Einstellung erste Früchte. Eines der Ziele des Stockholmer Kongresses wird es sein, solche Bemühungen ganz energisch zu unterstützen.

Repression ist zwar unerläßlich, sie alleine genügt aber nicht. Der inhaftierte Pädophile wird eines Tages nach seiner Entlassung wieder rückfällig werden, wenn er nicht behandelt wird. Augenblicklich gibt es derartige Behandlungsmethoden noch kaum. Die internationale Zusammenarbeit sollte zu einer strengeren Überwachung der Täter führen und die Opfer schützen.

Denn die gegen ihren Willen in solchen Organisationen festgehaltenen Kinder sind natürlich als Opfer zu betrachten und dürfen nicht, wie etwa in Pakistan, verfolgt und ins Gefängnis geworfen werden. „Damit muß endlich Schluß gemacht werden. Denn es ist unerträglich und man kann etwas dagegen tun. Es soll eines Tages nicht mehr möglich sein, ein Hotel in Bangkok zu betreten, den Etagenkellner zu rufen, ihm ein paar Geldscheine in die Hand zu drücken, um bald darauf ein Kind mit abwesendem Blick ins Zimmer kommen zu sehen.“5 Opfer sind sie alle, ob durch ihre seelischen und körperlichen Verletzungen oder weil sie für immer das Vertrauen in die Welt der Erwachsenen verloren haben.

dt. Barbara Kleiner

1 Ecpat (Frankreich), 14, Rue Mondtour, 75003 Paris; Tel. (1) 40269151.

2 „Thailande: le sida envahit le plus grand bordel de la planète“, L'Evénement du jeudi, 6. August 1992.

3 Marie-France Botte und Jean-Paul Mari, „Le Prix d'un enfant“, Paris (Robert Laffont) 1993.

4 Gabriel Matzneff, „Mes amours décomposés: journal 1983-1984“, Paris (Gallimard-Folio) 1992.

5 Marie-France Botte, op. cit.

* Unicef, Paris.

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Claire Brisset