16.08.1996

Globale Einmannbetriebe

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Globale Einmannbetriebe

AM Vorabend des 21. Jahrhunderts sehen sich die krisengeschüttelten Industriegesellschaften schutzlos einem neuen Schock ausgesetzt: der informationellen Revolution. Mit welcher Geschwindigkeit sich der Übergang von der industriellen zur informationellen Gesellschaft vollzieht, läßt sich daran ablesen, wie sich das Wachstum verlangsamt und die Arbeitslosigkeit zunimmt und wie die traditionelle Rolle der politischen und wirtschaftlichen Eliten in Frage gestellt wird. In dieser Phase der Umwälzungen bildet sich eine Macht der Gruppen gegenüber der Zentralgewalt heraus, und Computernetze und das Internet stärken das Individuelle gegenüber der Anonymität der Verbraucher. Kann ein besseres Verständnis dieser großen Entwicklungstendenzen dazu beitragen, die Welt von morgen mit Klugheit und Weitblick zu gestalten?

Von JOÄL DE ROSNAY *

Die typischen Merkmale der Industriegesellschaft bestehen in der Zentralisierung der Produktionsmittel, der massenhaften Verbreitung von standardisierten Gegenständen, der Teilung der Arbeit und ihrer hierarchischen Kontrolle. Ihre gesellschaftlichen Grundstrukturen stammen aus der Geometrie beziehungsweise der Mechanik, es sind die Pyramide beziehungsweise die Verzahnung. Der Arbeitsvertrag innerhalb eines Betriebes beruht auf der Verbindung der drei Grundeinheiten Ort, Zeit und Funktion.

Mit dem Einzug der elektronischen Informationsverarbeitung, der Digitalisierung der Daten und der Entwicklung interaktiver Kommunikationsnetze werden diese klassischen Bezüge hinfällig. Zeit, Ort und Funktion werden durch die Dezentralisierung der Funktionen, die Desynchronisierung der Tätigkeiten und die Entmaterialisierung des Austauschs ersetzt. Künftige Formen gesellschaftlicher Organisation werden eher Netzwerke als Herrschaftspyramiden sein, interdependente Zellen anstelle hierarchisch verzahnter Mechanismen, in einem „informationellen Ökosystem“, das die linearen industriellen Produktionsketten abgelöst hat. Die Politiker und hohen Staatsbeamten sind jedoch quantifizierbare, vergleichbare und extrapolierbare Entwicklungen gewohnt, dem allseitigen Wildwuchs und der rasenden Geschwindigkeit der neuen Entwicklungen stehen sie ratlos gegenüber. Besonders deutlich wird dieser Orientierungsverlust an dem Überraschungseffekt, den das Auftauchen eines internationalen Kommunikationsphänomens wie dem Internet bewirkt, und an den Bemühungen, es zu reglementieren.

Eine andere Umwälzung besteht in der wachsenden Bedeutung der Einzelpersonen. An den Knotenpunkten des Informationsnetzes agieren nun – gleichzeitig – unterschiedliche kommunizierende und potentiell kreative Personen: Sie sind die „Neuronen“ eines weltweiten Gehirns, das im Entstehen begriffen ist. Sie sind nicht mehr die „Verbraucher“ von einst, die passiv Angebote nutzten, welche andere ersonnen haben, sondern sie sind die Produzenten und Konsumenten neuer interaktiver Werkzeuge, durch die jeder einzelne an Macht und Effektivität gewinnt.

Für die informationelle Gesellschaft sind diese neuen Werkzeuge das, was die mechanischen Maschinen für die Industriegesellschaft waren. Die Grundausrüstung ist der private, multimediale und kommunizierende Computer. Ob tragbar oder fest installiert, ob fürs Büro oder für zu Hause, ob Netzwerkcomputer (NC) – ein auf ein Mindestmaß reduziertes Terminal – oder ein eigenständiger Personalcomputer (PC): der Einsatz von Rechnern und ihre Bedeutung für das Wirtschaftswachstum nimmt stetig zu. An erster Stelle dieser neuen Kommunikationsräume steht Internet mit seinem unglaublichen Aufschwung. Internet ist nicht, wie oft angenommen, ein Netz, sondern ein gemeinsames Protokoll aller Computer, das es ermöglicht, zahlreiche Netze – Telefon, innerbetriebliche Systeme, Kabelfernsehen, Satelliten, Glasfaserkabel und so weiter – gleichermaßen zu nutzen. Mit den künftigen Möglichkeiten hoher Datentransferkapazitäten wird die Interaktivität im Bildungs-, Informations- und Freizeitbereich Einzug halten. Konsequent weitergedacht, führt diese Entwicklung zum Konzept des „multinationalen Einmannbetriebs“: Ein einzelner, der diese Werkzeuge beherrscht, kann künftig mit bereits bestehenden Industrieunternehmen konkurrieren.

Die Bedeutung des einzelnen ist ein grundlegender und wichtiger Bestandteil des Informationszeitalters. Die Politiker, die bislang an ein Universum der Statistiken, der Wahrscheinlichkeiten und der Meinungsumfragen gewöhnt waren, werden in Zukunft mit einer fast grenzenlosen Vielfalt und Verschiedenheit umgehen müssen. Ein Politiker von Rang räumte kürzlich ein: „Bislang haben wir die politische Macht des Bürgers in zwei Formen erlebt: Wahlen und Demonstrationen. Damit kannten wir uns aus. Die Wähler mußte man umschmeicheln, die Demonstranten fürchten. Die einen hatten den Wahlzettel, die anderen die Straße und das Fernsehen. Um die einen im Griff zu behalten, benötigte man Wahlversprechen und spektakuläre, von den Medien begleitete Aktionen, (...) gegenüber den anderen brauchte man Zeit oder die Polizei. Mit der explosionsartigen Ausbreitung interaktiver Multimedia-Netze wie dem Internet betritt ein neuer Typ des Bürgers die Bühne: Eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelpersonen, die sich Ausdruck verschaffen wollen. Doch diese neuartige Situation können wir nicht meistern!“

Das Eingeständnis zeigt die Ratlosigkeit der Politik angesichts einer neuen Form von Demokratie, die aus den Netzen hervorgeht. Dieser Bruch ist die Folge eines Paradigmenwechsels, eines kulturellen Umschwungs. Die Mehrzahl der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger folgt noch immer dem herkömmlichen kartesianischen, analytischen, linearen und proportionalen Denken. Die Kultur der Komplexität, ein integraler Bestandteil des neuen Paradigmas, bezieht sich jedoch auf ein systemisches, nichtlineares und multidimensionales Denken und schließt die Dynamik ein, die durch das Anwachsen kommunikativer Verflechtungen entsteht.

Jene, die in den alten Formen leben und denken, können die Besonderheiten des neuen immateriellen ökonomischen, sozialen und kulturellen Raums, der auch „Cyberspace“ genannt wird, nicht begreifen — dafür fehlt ihnen einfach der Blick. So gibt es jetzt zwei Kulturen innerhalb der Schicht der Entscheidungsträger. Es tut sich eine neue kulturelle Kluft auf, die oft tiefer ist als die traditionellen politischen Divergenzen. Es handelt sich nicht nur um einen Graben zwischen den Generationen, sondern auch um eine neue Herangehensweise an die Komplexität und die immaterielle Umgebung. Wir befinden uns gegenwärtig in einem informationellen Ökosystem, innerhalb dessen die Staaten, die großen Institutionen und die Unternehmen kooperieren oder miteinander konkurrieren oder auch in eine „Koopkurrenz“ (Kooperation-Konkurrenz) zueinander treten.

Diese kulturelle Diskrepanz wird deutlich am Aufschwung der neuen Ökonomie der Netze. Die Kriterien der Industriegesellschaft und der Marktwirtschaft sind nicht mehr anwendbar. Dennoch könnten Wachstum, Beschäftigung und „nicht rentable“ Aktivitäten einander ergänzen, sofern man einen veränderten Blick auf die derzeitige Krise werfen würde.

Das immaterielle Universum erlernen

IM Rahmen der klassischen Marktwirtschaft hatte der Staat das Recht, diverse Steuern und Sozialabgaben einzutreiben. Die „Motoren“ für das Wachstum sind Forschung, Industrieentwicklung und Vielfalt der Märkte. Diese sorgen für den wirtschaftlichen Fortschritt und die soziale Sicherheit. Wettbewerb und Konkurrenz stimulieren die Wirtschaft, während das Wachstum die Schaffung neuer Arbeitsplätze erlaubt, die für das Überleben des Systems notwendig sind. Dieses Schema war lange Zeit gültig für ein materielles Universum, das auf der Produktion und Verteilung industriell hergestellter Gegenstände basierte. Für die informationelle Gesellschaft taugt es jedoch nicht mehr. Denn nach den Kriterien der herkömmlichen Ökonomie kommt inzwischen das Gesetz der sinkenden Erträge zur Anwendung. Enorme staatliche Anstrengungen sowie bedeutende finanzielle, industrielle und menschliche Investitionen sind nötig, um auch nur einen schwachen Anstieg der Gewinne, Marktanteile oder wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Die Entwicklung der letzten Jahre folgt einem gnadenlosen Gesetz: Der Anstieg der Produktivität durch Automatisierung und Informatisierung führt zu einem Anstieg dauerhafter Arbeitslosigkeit.

Dabei entwickelt sich der Bereich der Aktivitäten ständig weiter. Die informationelle Gesellschaft läßt neue Formen des Austauschs, andere Formen von Transaktionen zwischen Personen entstehen und verstärkt die immateriellen Handelsströme. Nach den Begriffen der herkömmlichen Ökonomie sind diese neuen Aktivitäten nicht immer rentabel. Dennoch sind sie Ausdruck einer deutlichen Nachfrage in der Gesellschaft. Wie läßt sich die klassische Marktwirtschaft, die aus der Industrialisierung hervorgegangen ist, mit dem expandierenden Bereich der Aktivitäten in Einklang bringen, die mit der Computerisierung verbunden sind? Das Verhältnis von Zeit und Art der Arbeit muß grundlegend neu überdacht werden.

Gegenwärtig beinhaltet der Arbeitsvertrag die Wachstumslogik in einer eindimensionalen Form: Zeit gegen Lohn. Die traditionellen Regeln der Einheit von Ort, Zeit und Funktion blockieren die Entfaltung der informationellen Ökonomie. Doch wenn man an einem anderen Ort arbeiten kann, so kann man es auch zu einer selbstgewählten Zeit, und man kann überdies unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Hier zeichnet sich also ein neuer sozialer und ökonomischer Typus ab: die „freiberuflich Beschäftigten“. Mal haben sie mehrere Arbeitgeber, mal sind sie Berater, mitunter Vortragende oder Unterrichtende, und dank ihrer Ausrüstung im Bereich Kommunikation und Informationsverarbeitung sind sie die Champions aller Bildschirmaktivitäten.

Untersuchungen zeigen, daß viele Beschäftigte unterschiedlichen Formen des Geldverdienens, die einander ergänzen, aufgeschlossen gegenüberstehen. Einer Gehaltserhöhung zieht manch einer eine Verbesserung der Lebensqualität vor oder eine Zusatzausbildung, eine Verkürzung seiner Arbeitszeit oder die Schaffung eines „Zeitkontos“. Die Nutzer der Multimedia-Netze praktizieren bereits eine neue Wirtschaftsform: den „Infotausch“. Ein originäres Produkt (Software, ein Text, Tips, Musik, eine grafische Darstellung, eine audiovisuelle Kreation) wird den Nutzern kostenlos zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung wird der Urheber mit Informationen von höherem Mehrwert „bezahlt“. Das konventionelle Muster erweitert sich also. Den beiden bisherigen Begriffen des Arbeitsvertrags – Zeit und Lohn – stehen die neu eingeführten Elemente gegenüber: Information, Werte, Anerkennung, Zeit.

Zu den grundlegenden Merkmalen der informationellen Gesellschaft gehört, daß sie neue Formen des Tauschs und des Warenverkehrs mit sich bringt. Das Engagement bei freiwilligen und ehrenamtlichen Tätigkeiten, humanitären Hilfsorganisationen und Vereinsaktivitäten nimmt deutlich zu. Diese Aktivitäten schaffen ein „Zeitkapital“, dessen „Zinsen“ sich fruchtbar einsetzen lassen, und ein „Informationskapital“, das es dank der investierten Zeit ermöglicht, die Teamarbeit, bei der zahlreiche Einheiten parallel tätig sind, zu beschleunigen und effektiver zu gestalten.

Genau diese gegenwärtigen Übergangsphänomene spielen zweifellos eine Schlüsselrolle für die wirtschaftliche Entwicklung des kommenden Jahrhunderts: Wenn aus dem Kernbereich der traditionellen Ökonomie offenbar keine Wachstumsimpulse mehr möglich sind, warum sollte man es nicht von außen versuchen, von jener Sphäre neuartiger Tätigkeiten her, die wiederum indirekt Arbeitsplätze schafft? Durch die Dichte der Tauschgeschäfte und der Kontakte in der informationellen Gesellschaft wird genau diese Verbindung hergestellt. Die Befürworter der Entwicklung internationaler interaktiver Netze – fälschlich „Datenautobahnen“ genannt – haben dies sehr genau begriffen. Die Autobahn mit ihren Mautstellen und ihrer Verkehrsüberwachung gehört zu den längst überwundenen schwerfälligen Infrastrukturen der industriellen Gesellschaft. Was sich abzeichnet, ist eher eine Verflechtung von Kapillaren, Venen und Arterien, die sich stark verästeln und alle Zweige der Gesellschaft versorgen – nicht die Arterien, sondern die Kapillaren standen am Anfang. Es ist die Verflechtung der Zellen zu Geweben, Organen und Organismen, welche die Intensivierung der Leistungen notwendig gemacht hat. Doch die ursprüngliche Funktion war die „Regenerierung“ der Zellen, dieser Grundeinheiten des Lebens.

Der Mensch und die Inhalte der Nachrichten, die seinem Handeln Sinn verleihen, stehen im Zentrum der Netze von morgen. Nicht durch einzelne, miteinander unvereinbare Maßnahmen wird man künftig Arbeitsplätze schaffen, sondern durch veränderte Beziehungen von Zeit, Raum und Arbeit in einer interaktiven Gesellschaft, die neue Verantwortlichkeiten übernimmt. Mit anderen Worten: Das neue Paradigma muß sich Gültigkeit verschaffen. Die politischen Konzepte, die aus der Industrialisierung hervorgegangen sind, bleiben in einer aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Logik befangen: Verwaltung der Knappheit, Konzentration auf Produktion und Verteilung, Arbeitsteilung, Kontrolle und Planung der Tätigkeiten. In der informationellen Gesellschaft werden andere zentrale Kategorien gelten: Die Kompetenz im Umgang mit dem Überfluß (insbesondere an Information) und mit dem Überflüssigen sowie die Bedeutung von Transaktion, Steuerung und Katalyse. Es gilt, all das zu fördern, was die Beziehungs- und Transaktionsdichte erhöht: die Desynchronisierung der Aufgaben durch Teilzeitarbeit, Job-sharing, das Zeitkonto, freie Wahl der Arbeitszeit; die Tätigkeiten müssen durch eine Senkung der Kommunikationskosten, durch die Demokratisierung und Vereinfachung der Benutzung von Terminals und PCs und schließlich durch eine Neuorganisierung der Arbeitsstätten (mobile Büros, virtuelle Unternehmen) von ihrer bisherigen Bindung an einen Ort befreit werden. Die Funktionen müssen durch Beihilfen an die Unternehmer und den Aufbau von Avantgardebetrieben, durch Vergünstigungen für freiberuflich Beschäftigte und Neugestaltung des Arbeitsvertrags neu aufgeteilt werden. Die Erfahrung der älteren Menschen sollte aufgewertet werden, damit sie ihr Wissen weitergeben und lange in der Gesellschaft ausstrahlen können. All das steht im Gegensatz zu den Maßnahmen, die heute ergriffen werden. Doch man muß sich der Wirklichkeit stellen: Es geht nicht mehr darum, hier und heute Arbeitsplätze mittels staatlicher Entscheidungen und Subventionen zu schaffen, sondern vielmehr darum, Systeme zu begünstigen, die Arbeitsplätze erfinden. Arbeitsplätze, die an anderen Orten, zu anderen Zeiten, mit anderen Funktionen und auf anderen ökonomischen Gebieten entstehen werden. Dieser neuen Vision stehen allerdings die altgewohnten Strukturen in unseren Demokratien entgegen: die Einteilung der Wahlbezirke, die Dauer des Mandats der Politiker, oder auch die Einkommenssteuer, die den Gemeinden zufließt.

Die informationelle Gesellschaft stellt auch die klassischen politischen Maßnahmen zur Arbeitsplatzförderung in Frage. Die Politiker sollten Vielfalt nicht mehr fürchten, sondern sie fördern. Und wenn es ihnen auch nicht mehr gelingt, diese Vielfalt zu kontrollieren, könnten sie sie doch statt dessen „katalysieren“, das heißt zur Entfaltung der Fähigkeiten eines jeden beitragen. Das Problem des Übergangs von der industriellen zur informationellen Gesellschaft läßt sich in einer einfachen Alternative zusammenfassen: Entweder man bleibt bei den (mitunter einsamen) Entscheidungen einer gewählten Intelligenz, oder man fördert das solidarische Handeln der kollektiven Intelligenz. Die Komplexität läßt sich nicht auf einige simple Elemente begrenzen, wie die kartesianische Analyse sie definieren kann. Sie wird vielmehr gestaltet von einem gleichzeitigen Handeln verantwortungsbewußter, informierter und kreativer Personen. Der Erfolg des großen Übergangs ins 21. Jahrhundert hängt davon ab, daß die „Neuronen“ des weltweiten Gehirns, die Personen-Akteure von morgen, Verantwortung übertragen bekommen.

dt. Eveline Passet

* Leiter der Cité des sciences et de l'industrie; Verfasser von „L'Homme symbiotique“, Paris (Seuil) 1995, und Mitautor von „La Plus belle histoire du monde“, Paris (Seuil) 1996.

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Joel de Rosnay