Wahlkampf den Drogen!
OFFIZIELL geht nichts mehr zwischen Washington und Bogotá: Der kolumbianische Präsident Ernesto Samper ist vor kurzem aufgrund des Verdachts, seinen Wahlkampf über Drogenhändler finanziert zu haben, von den Vereinigten Staaten zur unerwünschten Person erklärt worden. Diese diplomatische Vernebelungstaktik soll wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen der US- amerikanischen Öffentlichkeit das Gefühl vermitteln, daß ein unerbittlicher Kampf gegen die Drogen im Gang sei. Jedoch verbirgt sie mehr schlecht als recht das Ausbleiben ernsthafter Maßnahmen gegen die Bankiers und Industriellen, die gemeinsam mit Kartellen und Mafias aus dem Drogengeschäft riesige Gewinne ziehen. Ein Geschäft, dessen Bekämpfung auch und vor allem ein Mittel zur sozialen Kontrolle der ärmsten Schichten der amerikanischen Gesellschaft ist.
Von NOAM CHOMSKY *
Kolumbien ist das Land Lateinamerikas, das hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte die schlechteste Bilanz aufweist. Dennoch ist es gerade die kolumbianische Regierung, die den Löwenanteil der Militärhilfe aus den Vereinigten Staaten erhält: rund die Hälfte der dem ganzen Subkontinent zur Verfügung gestellten Mittel! Da drängt sich die Frage auf, ob beide Phänomene nicht vielleicht zusammenhängen... 1981 kam eine von Lars Schoultz, einem auf Menschenrechtsfragen in Lateinamerika spezialisierten Hochschullehrer, veröffentlichte Studie zu dem Schluß, daß die amerikanische Hilfe „tendenziell vor allem denjenigen Regierungen zugute kommt, die ihre Bürger foltern, (...) und auf schamloseste Weise die Grundrechte verletzen“.
Ein oberflächlicher Beobachter könnte daraus schließen, daß man in Washington etwas für die Folter übrig hat. Man muß jedoch genau unterscheiden zwischen einem einfachen Zusammenhang und einer kausalen Verknüpfung, und demzufolge die Erklärung woanders suchen. Dies ist etwa zur gleichen Zeit in einer größer angelegten Untersuchung geschehen. Veröffentlicht wurde sie 1979 in einem Werk, dessen Autoren Edward Herman, Wirtschaftswissenschaftler an der Wharton School der Universität von Pennsylvania, und ich selbst waren. Herman untersuchte die Beziehungen zwischen Folter und ausländischer Hilfe im Weltmaßstab und stellte tatsächlich einen Zusammenhang fest. Er führte auch eine zweite Studie durch, die eine plausible Erklärung lieferte: Beim Vergleich zwischen dem Umfang der US-amerikanischen Hilfszahlungen und dem Bestehen eines „für Geschäfte günstigen Klimas“ entdeckte er, daß beide Faktoren eng miteinander verflochten sind.
Nimmt das jemanden wunder? Der Grund dafür ist einfach und allseits bekannt: Das Foltern, Morden oder Einsperren von Gewerkschaftsfunktionären, Bauernführern und Menschenrechtlern schafft ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis, das für das Kapital, für jenes berühmte „Geschäftsklima“, günstig ist. Kolumbien kann diesbezüglich als Schulbeispiel gelten, mit der „Fassade eines verfassungsmäßigen Regimes, hinter der sich eine militarisierte Gesellschaft verbirgt“ – um die Formulierung von Alfredo Vázquez Carrizoza aufzugreifen, dem Vorsitzenden des ständigen Menschenrechtskomitees in diesem Land. Kolumbien ist sehr reich, doch für die Mehrheit seiner Bevölkerung ist es sehr arm. Es ist ein Land, in dem Grundbesitz ein sehr großes Problem darstellt – nicht etwa, weil Grund und Boden knapp wären, sondern weil sie sich im Besitz einer winzigen Anzahl Menschen befinden und die 1961 beschlossene Bodenreform noch immer auf eine ernstzunehmende Umsetzung wartet.
Und das aus einem einfachen Grund: Regiert wird das Land von den Großgrundbesitzern und von einer Armee, die ihnen zu Diensten ist und die von den US- amerikanischen Steuerzahlern finanziert wird. Es war die Kennedy-Regierung, die das aktuelle System eingeführt hat – durch einen Beschluß im Jahr 1962, der für alle Länder des Subkontinents von ungeheurer Bedeutung sein sollte. Den lateinamerikanischen Armeen wurde eine neue Aufgabe zugewiesen: Sie sollten nicht mehr für die Landesverteidigung zuständig sein, sondern für die „innere Sicherheit“ – ein verschlüsselter Begriff, der den Krieg gegen die Bevölkerung meint.
Diese Veränderung wirkte sich bei den Streitkräften unmittelbar auf ihre Zielsetzung aus sowie auf ihre Ausbildung und die Art des Materials, das ihnen geliefert wurde. Sie war Auslöser für Repressionswellen von nie dagewesenem Ausmaß, und zwar in Ländern, in deren Geschichte es an blutigen Episoden wahrlich nicht mangelte. Charles Maechling, ein hoher Beamter, der während der Kennedy- Regierung und noch in der ersten Phase der Johnson-Regierung für Guerillabekämpfungsprogramme zuständig war, beschrieb einige Jahre später die Folgen dieser Entscheidung so: Mit dem Beschluß von 1962 ging man von der bloßen Tolerierung der „Raubgier und Grausamkeit der lateinamerikanischen Militärs“ zu einer „direkten Komplizenschaft“ mit jenen über, die „die Methoden der Sonderkommandos Heinrich Himmlers“ anwandten. Er ahnte nicht, wie recht er hatte: In seinem Buch „Instruments of Statecraft“ deckt Michael McClintock auf, wie nach 1945 Nazi-Spezialisten in den Vereinigten Staaten aufgenommen wurden, um an der Ausarbeitung von Trainingshandbüchern für die Guerillabekämpfungseinheiten mitzuwirken.
Die Intellektuellen aus dem Umfeld von John F. Kennedy bedienten sich einer besonderen Wortwahl, um das Problemfeld zu benennen. 1965 erklärte Verteidigungsminister Robert McNamara dem nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten, McGeorge Bundy, daß die Ausbildung, die das Pentagon den lateinamerikanischen Offizieren angedeihen ließ, ihnen „ein richtiges Verständnis der Ziele der Vereinigten Staaten und eine deutliche Sympathie für die USA“ eingeschärft habe. Das sei das Wichtigste, fuhr er fort, denn „im lateinamerikanischen Kulturkreis“ sei es eine anerkannte Tatsache, daß Militärs bereit sein müssen, „Amtsträger, die ihrer Ansicht nach durch ihr Verhalten das Wohl der Nation beeinträchtigen, von der Macht zu entfernen“. Sicherlich dachte McNamara dabei an den Staatsstreich von 1964 gegen die verfassungsgemäße Regierung Brasiliens, der für die Dauer mehrerer Jahre Folter, Mord und anderen Formen des Staatsterrorismus Tür und Tor geöffnet hat.
Doch daraus hervorgegangen ist ein „Wirtschaftswunder“, wie Lincoln Gordon, Botschafter der Vereinigten Staaten in Brasilien, richtig vorhergesagt hatte. In seinen Augen war der Putsch der Generäle „ein großer Sieg für die freie Welt“ und dazu geeignet, „ein erheblich günstigeres Klima für Privatinvestitionen herzustellen“. Tatsächlich hatten ausländische Investoren wie auch ein kleiner Teil der brasilianischen Gesellschaft gute Gründe, sich zu dem Wechsel zu beglückwünschen, und die wirtschaftliche Fachpresse fand der lobenden Worte nicht genug, um ihn zu beschreiben. Die Privilegierten lebten in einem solch außerordentlichen Luxus, daß man das Elend darüber vergessen konnte, in dem der größte Teil der Bevölkerung dahinvegetierte. Doch bedeutet der Begriff „Wirtschaftswunder“ nicht genau das? Auch Mexiko hat ein solches „Wirtschaftswunder“ erlebt, bis am 19. Dezember 1994 die Staatsfinanzen wie eine Seifenblase zerplatzten (siehe auch den Artikel von Jaime Avilés auf den Seiten 6 und 7). Wie gewöhnlich durfte sich der amerikanische Steuerzahler anschließend daran beteiligen, die Reichen vor den Unbilden des Marktes zu bewahren.
In Kolumbien erklärte der Verteidigungsminister eines Tages in einem Anfall von Aufrichtigkeit, der offizielle Terrorapparat diene dazu, „einen totalen Krieg im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich“ zu führen. Offiziell ging es indes lediglich darum, die Guerillaorganisationen zu bekämpfen. Ein hochrangiger Offizier plauderte 1987 ebenfalls Geheimnisse aus: „Die eigentliche Gefahr“, räumte er ein, liege in „dem, was die Aufständischen als politischen und psychologischen Krieg bezeichnet haben“; dem Krieg, der dazu dient, „die unteren Bevölkerungsschichten zu kontrollieren“ und „die Massen zu manipulieren“. In zwanzig Jahren werden wir uns sicherlich ein vollständigeres Bild von der „kolumbianischen Doktrin“ machen können. Doch einen kleinen Einblick gewährt uns schon jetzt der offizielle Bericht über das grauenhafte Massaker, das Armee und Polizei im März 1990 in einem Dorf namens Trujillo an rund dreißig Bauern verübten, die verdächtigt worden waren, mit der Guerilla in Kontakt gestanden zu haben.
Koka statt Kaffee
ES ist der Beharrlichkeit der Organisation „Justicia y Paz“ („Gerechtigkeit und Frieden“) zu verdanken, daß die Tragödie von Trujillo schließlich Gegenstand einer Untersuchung wurde. Doch in den vier darauffolgenden Jahren kam es noch zu rund 350 weiteren Massakern, und nur in den allerwenigsten Fällen wurde irgend jemand dafür zur Verantwortung gezogen. Der damalige kolumbianische Staatspräsident, César Gaviria – später wurde er Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) – stellte bei dieser Gelegenheit das ganze Ausmaß seiner moralischen Integrität unter Beweis, indem er sich, wie Justicia y Paz berichtet, gegenüber allen Anträgen auf Untersuchung der Vorfälle „vier Jahre lang taub stellte“. Seinem Nachfolger Ernesto Samper muß man zumindest ein Verdienst zugute halten: Er hat eingeräumt, daß die Regierung für die Grausamkeiten verantwortlich ist, denen seine Mitbürger zum Opfer gefallen sind.
Hinter diesen Ereignissen stehe der Krieg gegen die Drogen, sagt man uns. Ende der siebziger Jahre wurde Kolumbien zum großen Kokainproduzenten. Aber weshalb? Warum produzieren die lateinamerikanischen Bauern mehr Koka, als sie für ihren Eigenbedarf benötigen? Die Erklärung liegt in der Politik, die den Ländern des Südens aufgezwungen wird. In der Tat werden sie im Gegensatz zu den reichen Staaten des Westens angehalten, ihre Märkte zu öffnen, insbesondere gegenüber den subventionierten Exportprodukten der US-amerikanischen Agrarwirtschaft, die ihre eigene, nationale Produktion ruinieren. Die einheimischen Bauern werden angehalten, nach den Regeln der modernen Ökonomie auf „rationelle Produktion“ umzustellen, das heißt, auch sie sollen für den Export produzieren. Und eben weil sie rationell sind, wenden sie sich den Produkten zu, die ihnen am meisten Geld einbringen werden: Koka und Marihuana.
Es gibt auch noch andere Gründe für dieses Geschäft. So zwangen die USA 1988 die Kaffeeproduzenten, eine Vereinbarung aufzukündigen, die die Kurse auf einem vernünftigen Niveau gehalten hatte. Der Preis für Kaffee, Kolumbiens hauptsächliches Exportprodukt, fiel schlagartig um 40 Prozent. Wenn über Nacht die Einkünfte ausfallen und die Kinder Hunger leiden, darf man sich nicht wundern, wenn die Kaffeeproduzenten sich den Absatzmöglichkeiten zuwenden, die der nordamerikanische Drogenmarkt ihnen bietet: Die neoliberalen Maßnahmen, die der Dritten Welt auferlegt werden, waren einer der Hauptgründe für die Ausweitung des Drogenhandels. Im übrigen hat auch die US-amerikanische Repressionspolitik gegenüber dem Gebrauch von Drogen eine Rolle gespielt: Sie hat die Konsumenten von Marihuana, einer vergleichsweise harmlosen Substanz, dazu getrieben, sich den harten Drogen wie Kokain zuzuwenden. Daraufhin stellte Kolumbien die Produktion von Marihuana ein, um sich auf Kokain zu konzentrieren, das obendrein rentabler ist und leichter zu transportieren.
Eine andere Frage muß hier aufgeworfen werden, wenn vom Drogenhandel die Rede ist: die Rolle der Banken. Nach einer Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belaufen sich die Gewinne aus dem Drogenhandel weltweit auf circa 500 Milliarden Dollar pro Jahr, wovon die Hälfte in den Kanälen des US-amerikanischen Finanzsystems endet. Der OECD zufolge gelangen von dem restlichen Geld nur 2 oder 3 Prozent nach Kolumbien, das heißt etwa sechs Milliarden Dollar jährlich. Dieser Umstand veranlaßte ein Mitglied der Juristenkommission der Anden und der lateinamerikanischen Menschenrechtsvereinigung in einem Beitrag für die mexikanische Tageszeitung Excelsior zu der Bemerkung, daß das Big Business des Drogenhandels vor allem nördlich des Rio Grande ansässig sei.
Die chemische Industrie der USA wird diese Feststellung nicht dementieren. 1989 entdeckte die kolumbianische Polizei in den sechs Monaten, die der Kriegserklärung gegen die Drogen in Kolumbien vorausgingen, 5,5 Millionen Liter derjenigen Chemikalien, die für die Kokainproduktion verwendet werden. Viele davon trugen die Abzeichen großer US-Firmen. Der CIA hatte in einem Bericht darauf hingewiesen, daß die US-amerikanischen Exporte dieser Produkte nach Lateinamerika den zulässigen Bedarf bei weitem überstiegen. Die Forschungsstelle des US- Kongresses kam ihrerseits zu dem Schluß, daß über 90 Prozent der chemischen Substanzen, die in der Drogenproduktion verwendet werden, aus den Vereinigten Staaten kommen. Wenn der Krieg gegen die Drogen tatsächlich nur auf die Drogen abzielte, gäbe es hier vielversprechende Spuren zu verfolgen.
Im Grunde ist jedoch längst bekannt, daß dieser „Krieg“ außerhalb der Landesgrenzen als Deckmantel für die Guerillabekämpfung dient und daß er im übrigen der Rüstungsindustrie nicht zu vernachlässigende Absatzmärkte eröffnet. Im eigenen Land wird er als Vorwand benutzt, um einen Teil der Bevölkerung hinter Schloß und Riegel zu bringen. In einer Gesellschaft, die sich von Tag zu Tag mehr der Dritten Welt angleicht, in der die Sicherheitskräfte jedoch (noch) keine ethnischen Säuberungen vornehmen, muß man andere Mittel und Wege finden, um Bürger zu „entsorgen“, denen die Menschenrechte vorenthalten bleiben, weil sie nicht zur Erwirtschaftung von Profiten beitragen. Sie einzusperren entspricht einer gesunden Logik, erlaubt sie doch eine keynesianistische Ankurbelung der Wirtschaft (siehe auch den Artikel von Eduardo Galeano auf den Seiten 4 und 5).
Ein Großteil der Häftlinge hat Straftaten begangen, bei denen es keine Opfer gab. Nehmen wir zum Beispiel Kokain. Die in den Ghettos vorherrschende Droge ist das Crack, und dessen Besitz zieht schwere Strafen nach sich. In den exklusiven Wohngegenden der Weißen hingegen bevorzugt man Kokain, dessen Besitz wesentlich weniger hart bestraft wird. Ein typisches Beispiel für Klassenjustiz. All das erklärt, warum der Prozentsatz der Gefängnisinsassen in den Vereinigten Staaten deutlich höher liegt als in anderen entwickelten Ländern und warum damit gerechnet wird, daß er noch weiter ansteigt.
Alles paßt zusammen. Das schrieb mir eine kolumbianische Menschenrechtsaktivistin, Cecilia Zaraté-Laun. Obwohl ihr Brief keineswegs für die Veröffentlichung bestimmt war, ist es dienlich, einige Auszüge daraus zu zitieren: „Ich bin überzeugt, daß alles zusammenpaßt, insofern als die eigentliche Schuld beim ökonomischen System liegt. Es ist sehr wichtig, daß die amerikanischen Bürger beginnen, die Probleme der anderen und ihre eigene Wirklichkeit in Beziehung zu setzen, angefangen bei der Außenpolitik. Zum Beispiel im Fall der Drogen. Die Kinder armer Mütter, die in Kolumbien keinerlei Perspektive haben, weil die Gesellschaft sie aufgegeben hat, sind gezwungen, zu Handlangern der Kriminellen zu werden oder in den Laboratorien der Kokainproduktion zu arbeiten. Oder sie werden für die Todesschwadronen rekrutiert. Sie befinden sich in derselben Situation wie die Kinder armer Mütter in den Vereinigten Staaten, die gezwungen sind, Kokain an den Straßenecken zu verkaufen oder für Dealer Schmiere zu stehen, um zu überleben. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die einen spanisch sprechen und die anderen englisch. Sie machen dieselbe Tragödie durch.“
Cecilia Zaraté-Laun hat recht. Und die Tragödie wird in unseren beiden Ländern durch eine sorgsam ausgearbeitete Sozialpolitik auf die Spitze getrieben. Wenn wir uns dafür entscheiden, nichts zu unternehmen, um den Lauf der Dinge zu ändern, dann wird es nicht schwerfallen, sich auszumalen, was uns erwartet.
dt. Miriam Lang
* Professor am Massachusetts Institute of Technology. Dieser bisher unveröffentlichte Beitrag greift die wichtigsten Gedanken aus einem Vortrag auf, den der Verfasser am 13. März 1995 am MIT hielt.