16.08.1996

Mexiko oder Ein Land wird geplündert

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Mexiko oder Ein Land wird geplündert

■ Während sich gerade Intellektuelle aus aller Welt in Solidarität mit dem Kampf und den Thesen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und ihres Subco

Während sich gerade Intellektuelle aus aller Welt in Solidarität mit dem Kampf

und den Thesen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und ihres

Subcomandante Marcos vom 27. Juli bis 3. August in Chiapas getroffen haben,

herrscht in Mexiko weiterhin eine äußerst angespannte Situation. Noch immer sind die

Auswirkungen der Finanzkrise vom Dezember 1994 spürbar, die für Tausende von

Unternehmen den Bankrott bedeutete und den Verlust von rund 800000 Arbeitsplätzen

zur Folge hatte. Neue Enthüllungen über Polit- und Finanzskandale und

spektakuläre Bereicherungen der Mächtigen schüren den Zorn der Bevölkerung.

Immer deutlicher droht dem Land der politische Zerfall. Gegen den neoliberalen Umbau der

Gesellschaft hatte ein vom Mittelstand getragenes, dem nationalen Aufbau verpflichtetes

Mexiko mit einem starken öffentlichen Sektor keine Chance. Das seit über siebzig Jahren

vom Partido Revolucionario Institucional (PRI) kontrollierte Regime ist offenbar am Ende.

Es scheint unfähig, eine befriedigende Antwort auf die sozialen Bedürfnisse zu geben,

die Armut zu bekämpfen und gegen den weitverbreiteten Machtmißbrauch vorzugehen.

In den südlichen Bundesstaaten Guerrero, Oaxaca, Tabasco und natürlich Chiapas führen die

andauernden Ungerechtigkeiten dazu, daß die Bevölkerung und insbesondere deren ärmste

Schicht, die Indios, zur Gegenwehr übergehen und neue Guerrillabewegungen entstehen.

Der Konflikt in Chiapas hat zwar international Beachtung gefunden, doch die Situation

in Tabasco ist nicht minder aufschlußreich, wenn auch weniger aufsehenerregend.

In diesem reichen, erdölproduzierenden Staat haben die PRI-Führer Beziehungen

zu den großen kolumbianischen Drogenkartellen geknüpft und widersetzen sich strikt jeder

politischen Entwicklung, die ihnen eine Pfründe entreißen könnte,

deren Wert auf eine Milliarde Dollar jährlich geschätzt wird.

Von

JAIME

AVILÉS *

ALS im Dezember 1989 US-amerikanische Truppen in Panama einmarschierten, um General Noriega gefangenzunehmen, mußten sich die beiden großen kolumbianischen Organisationen, die den Kokainhandel kontrollieren – das Cali- und das Medellin-Kartell – neue Stützpunkte für ihre Lieferungen in die USA suchen. Sie entschieden sich für den Südosten Mexikos, insbesondere für die vom Dschungel bedeckten Regionen der Bundesstaaten Campeche, Quintana Roo und Chiapas, sowie für die „Erdölstaaten“ Tabasco und Veracruz an der Golfküste.1

Noch bevor Präsident George Bush den Angriff auf Panama befahl, hatte das State Department in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Drug Enforcement Administration (DEA) Maßnahmen ergriffen, die panamesische Wirtschaft – durch Druck auf die Banken und die wichtigsten Gesellschaften, mit deren Hilfe die Drogenhändler ihre Gewinne reinwuschen – in die Knie zu zwingen. Gleichzeitig engte die kolumbianische Polizei den Handlungsspielraum von Pablo Escobar Gaviria, dem berüchtigten Chef des Medellin-Kartells, immer mehr ein. Kurz darauf wurde er verhaftet, entkam und wurde schließlich erschossen.

Im Gegensatz zum eher ländlichen Medellin-Kartell mit seiner wenig kultivierten Führungsriege ist das Cali-Kartell ein Unternehmen nach dem Vorbild moderner multinationaler Konzerne. Es verfügt über hochqualifizierte Mitarbeiter und eine weit raffiniertere und komplexere Strategie. Lange vor der Invasion in Panama hatte das Kartell der Brüder Rodriguez Orejuela bereits Verhandlungen mit den höchsten Autoritäten Mexikos aufgenommen, um im Süden des Landes seine Stützpunkte zu errichten.

Der damalige mexikanische Präsident Miguel De la Madrid stand also seit 1988, dem letzten Jahr seiner Amtsperiode, an der Spitze eines Staatsapparates, der erheblich in den Kokainhandel verstrickt war. Laut vertraulichen Berichten der DEA überließ De la Madrid 1,5 Milliarden Dollar seines Privatvermögens einem Freund, der binnen kurzem zum reichsten Mann des Staates Tabasco aufstieg: Carlos Cabal Peniche. Inzwischen wird er von der mexikanischen Justiz verfolgt und scheint „irgendwo“ in Frankreich untergetaucht zu sein.

Cabal Peniches Odyssee ist in gewisser Weise typisch und gibt Aufschluß über die gegenwärtige moralische Verfassung der politischen Führungsschicht Mexikos. 1989 ließ er sich in Tabascos Hauptstadt Villahermosa mit der Absicht nieder, alles aufzukaufen, was ihm unter die Augen kam. In Rekordzeit erwarb Cabal Peniche dort die beiden Hotels Oviedo und Manzur (umbenannt in Hotel San Carlos) und die Supermarktkette Tu Casa, dazu zahlreiche Grundstücke in den an Chiapas grenzenden Gemeinden Teapa und Tacotalpa. Dort gründete er das Bananenunternehmen San Carlos, das schon bald mehr als 150000 Tonnen Früchte pro Jahr exportierte. Eine Ananaskonservenfabrik und Supermarktfilialen in Chiapas und im Bundesstaat Veracruz schlossen sich an.

Je mehr Geld er investierte, desto mehr schien ihm zuzufließen. Zu den Hotels, Geschäften, Konservenfabriken, Villen und Luxusautos kamen bald eine Zeitung, El Sureste, und eine Bank, die traditionsreiche Banco de Crédito Hipotecario (BCH), hinzu. Deren Privatisierung hatte die Regierung von Carlos Salinas de Gortari, der 1988 Miguel De la Madrid im Amt ablöste, gerade zur rechten Zeit beschlossen. Cabal Peniche, der Verbindungen zu Politikern in Tabasco, Chiapas, Veracruz und Mexiko-Stadt unterhielt – unter anderem zu dem Vater und dem Bruder von Präsident Salinas –, wandelte die BCH in die Banco Unión um; über sie besorgte er sich das nötige Geld, um die Kontrolle über den berühmten multinationalen Obst- und Gemüsekonzern Del Monte Fresh zu erlangen.

Aus geheimen Unterlagen des CIA in Washington ist inzwischen bekanntgeworden, wie dieses Wunder des Kapitalismus in Mexiko möglich wurde: Die Bananera San Carlos diente in Wirklichkeit dem Kokainexport. Sie nutzte das Verladen von Konserven, um tonnenweise Drogen für das Cali-Kartell über den Umschlagplatz Mexiko in die USA zu bringen. Der Transport erfolgte über die mexikanischen Filialen: das Matamoros- und das Golf-Kartell, dessen Chef Juan Garcia Abrego, die Nummer zwei unter den mächtigen lokalen Drogenbossen, heute in Houston, Texas, im Gefängnis sitzt.

Zwischen 1988 und 1992, als Carlos Cabal Peniche in Tabasco auf dem Scheitelpunkt seiner Macht stand, bereicherte sich die Führungsschicht dieses Staates in gewaltigem Ausmaß, eine Untersuchung der Umstände hat nie stattgefunden. Es gibt zahllose Beispiele wundersamen Aufstiegs. So wurde Ramón-Hipólito Hernández Aguayo, ein mittelmäßiger Anwalt aus Villahermosa und Besitzer eines Ladens für sogenannte chanchamiras, kleine Pasteten aus der Region, 1988 plötzlich zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes ernannt! Seit 1990 ist er Teilhaber von Cabal Peniches Banco Unión und kaufte ein Aktienpaket im Wert von 500 Millionen Pesos.

Erstaunlich auch der Fall von Feliciano Fojaco Sánchez, einem armen Teufel, der als Hausierer Lebensversicherungen verkaufte und von einem Tag auf den anderen zum Leiter des Tourismusinstitutes von Tabasco ernannt wurde, was ihm erlaubte, ebenfalls für 500 Millionen Pesos Aktien der Banco Unión zu erwerben. Oder die Metamorphose des einfachen Notars Carlos Elias Dagdud zum Staatssekretär für Industrie, Handel und Tourismus von Tabasco! Gemeinsam mit dem Generalsekretär der Regierung dieses Bundesstaates kaufte der Mann den Baseball-Club Olmecas für eine Summe von 300 Millionen Pesos. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Betrug im großen Stil

DIE Korruptheit der politischen Klasse in Tabasco ist nur ein lokales Beispiel. Daß in ganz Mexiko die Käuflichkeit immer weiter zunimmt, hat auch mit der Ablösung des alten, aus der Revolution von 1910 hervorgegangenen Staates durch jenes neoliberale Modell zu tun, das von Miguel De la Madrid befürwortet wurde. Vor seiner Amtsübernahme im Jahr 1982 waren etwa 1550 Unternehmen im Besitz des mexikanischen Staates, heute gibt es nur noch knapp hundert Staatsbetriebe. Aus den Überresten des staatlichen Sektors sind zehn große Finanzkonsortien hervorgegangen, die die gesamte Wirtschaft des Landes – Banken, Industrie, Außenhandel, Börsenwerte und Telekommunikation – kontrollieren: Teléfonos de México und Grupo Carso (im Besitz von Carlos Slim), Grupo México (Jorge Larrea), Cementos Mexicanos (Lorenzo Zambrano), Televisa (Emilio Azcárraga), Grupo Alfa (Dionisio Garza), Empresas La Moderna (Alfonso Romo), Industrias Peñoles (Alberto Bailléres), Kimberly Clark (Claudio X. Gonzalez), Grupo Cifra (Jerónimo Arango) und Banamex-Accival (Roberto Hernández).

Diese zehn Gruppen kontrollieren 71,2 Prozent der an der mexikanischen Börse notierten Aktien. Zwischen 1988 und 1994, also unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari, zog dieser Börsenplatz ausländische Gelder im Wert von 100 Milliarden Dollar an, von denen kein einziger in die Verbesserung der Infrastruktur geflossen ist oder zur Schaffung von Arbeitsplätzen verwendet wurde. Dieses Geld war allein zu Spekulationszwecken ins Land geflossen. Eines schönen Tages, im Dezember 1994, verschwand es wieder, vermehrt um saftige Gewinne. Mit ihm verschwanden auch die Gelder, die der Staat durch den Verkauf der öffentlichen Unternehmen eingenommen hatte.

Um den Verkauf der Staatsbetriebe zu rechtfertigen, hatte die Regierung unter De la Madrid argumentiert, diese seien „ineffizient und extrem kostenintensiv“, die meisten Unternehmen liefen auf Verlustbasis und die Regierung müsse sich deshalb „im Ausland verschulden“, was zu „Inflation und schweren Beeinträchtigungen der nationalen Wirtschaft“ führe. All dies mag stimmen, doch das Land blieb zumindest regierbar. Die politischen Probleme konnten gemeistert werden, und die Regierung fungierte als Schiedsrichter zwischen den Klassen (ohne aus ihren Sympathien für die Unternehmerseite einen Hehl zu machen). Der Lebensstandard von 1980 scheint trotz der schon damals bestehenden Ungerechtigkeit und Armut im Vergleich zu heute direkt beneidenswert.

Tatsächlich liquidierte Miguel De la Madrid die besonders maroden Staatsbetriebe, doch verkaufte er an seine Freunde auch gutgehende Unternehmen, so etwa solche der Kupferindustrie – mit der Begründung, diese Branche habe seit der Einführung von Mikrochip und Glasfaser „keine strategische Bedeutung“ mehr. Gegenwärtig gilt die Bergbaugesellschaft Industrial Minera México, die den Sektor billig aufgekauft hatte, als der weltweit erfolgreichste Kupferproduzent. Ihr Gewinn liegt bei zwei Millionen Pesos im Quartal, die Aktiva werden auf 18 Millionen Pesos geschätzt, und ihr Wert in Aktien macht 5 Prozent des inländischen Börsenwertes aus.

Die politische Klasse Mexikos hat die neoliberale Doktrin für ein Betrugsmanöver von gewaltigem Ausmaß benutzt: Sie hat den Staatsbesitz an eine Handvoll Familien verkauft. Damit ist ein äußerst gefährliches soziales Ungleichgewicht geschaffen worden. In Mexiko mit seinen 100 Millionen Einwohnern liegen 70 Prozent des Nationaleinkommens in den Händen von nur 10 Prozent der Bevölkerung, während sich die übrigen 90 Prozent den Rest teilen. Von den 37 Millionen der erwerbsfähigen Bevölkerung sind 21,5 Millionen ohne feste Anstellung; von den 15,2 Millionen, die ein regelmäßiges Einkommen beziehen, verdient die große Mehrheit weniger als drei Dollar am Tag. Als wolle sie Öl ins Feuer gießen, veröffentlichte die amerikanische Zeitschrift Forbes letzten Juli eine Liste von fünfzehn mexikanischen Milliardären, die alle ohne Ausnahme von den betrügerischen Privatisierungen profitiert hatten. Das in den USA deponierte Kapital mexikanischer Herkunft belief sich Ende 1995 auf 24,6 Milliarden Dollar, also auf genau doppelt soviel wie ein Jahr zuvor.

Der Anteil von Drogengeldern am Nationaleinkommen ist schwer zu bestimmen; laut DEA handelt es sich um etwa sieben Milliarden Dollar.3 Es ist offensichtlich, daß seit Ende der achtziger Jahre die Rolle des Staates als Motor der Wirtschaft auf den Drogenhandel übergegangen ist. Nachdem die Regierung ihre wirtschaftliche Souveränität abgetreten hatte, begann sie, Finanzspekulationen zu privilegieren, und überließ die ärmsten Schichten der Bevölkerung ihrem Schicksal. Die Folge ist, daß sowohl die Schwachen wie die Starken in die Spirale des Drogenhandels gezogen werden.

In der Regierungszeit Miguel De la Madrids (1982-1988) hat das Geld aus dem Drogenhandel das Verschwinden des alten, paternalistischen Staates kompensiert, sich zugleich aber auch in den höchsten Rängen von Armee und Regierung eingenistet. Als De la Madrid 1988 als Präsident abtrat, stellte die DEA Haftbefehle gegen drei seiner engsten Mitarbeiter aus: den ehemaligen Innenminister Manuel Bartlett Diaz, den ehemaligen Verteidigungsminister Juan Arévalo Gardoqui und den ehemaligen Gouverneur von Jalisco, Enrique Alvarez del Castillo.

Während die Bilanz von Miguel De la Madrid am Ende seiner Amtszeit drei in hohem Maße verdächtige Staatsbeamte aufwies, beendete sein Nachfolger Carlos Salinas de Gortari sechs Jahre später seine Präsidentschaft mit drei prominenten Mordopfern: dem Kardinal von Guadalajara, Monsignore Juan José Posadas Ocampo, dem Präsidentschaftskandidaten der PRI, Luis Donaldo Colosio, und dem Generalsekretär derselben Partei, José Francisco Ruiz Massieu. Drei Verbrechen, die aufzeigen, auf welches Niveau während der ersten Jahre der neoliberalen „Modernisierung“ die politische Klasse gesunken war.

Im Mai 1993, nach dem Mord an Monsignore Posadas Ocampo in Guadalajara, begann Washington, Druck auf Präsident Salinas auszuüben, dem vorgeworfen wurde, die Ausbreitung des Drogenhandels zu tolerieren. Salinas zeigte sich bereit, den US-amerikanischen Forderungen nachzukommen – die Verhandlungen über das Nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta standen gerade vor ihrem Abschluß – und der Mafia einen spektakulären Schlag zu versetzen. Er handelte lediglich eine Bedingung aus: mehr Zeit.

Entschlossen, die amerikanischen Gesprächspartner zu überzeugen, nannte Salinas sogar den Namen desjenigen, den er zum Sündenbock auserkoren hatte: Carlos Cabal Peniche, den Milliardär von Tabasco. Aus den Geheimberichten der DEA geht hervor, daß der mexikanische Präsident nur deshalb um einen Aufschub bat, weil er die Spuren seines Bruders Raúl4 und seines Vaters Carlos Salinas Cozano verwischen wollte, die in die zweifelhaften Geschäfte mit Cabal Peniche verwickelt waren. Die dafür nötige Zeit wurde ihm eingeräumt.

Schulterschluß der Korruption

AM 5. September 1994 erhob der Finanzminister in einer „Überraschungsaktion“ Anklage gegen Cabal Peniche, den er beschuldigte, seine Bank, die Banco Unión, für betrügerische Machenschaften benutzt zu haben. Zwar erhob Cabal Peniche Einspruch vor Gericht, doch sicherheitshalber floh er zuvor ins Ausland. Das war das Startsignal für den Kampf um die Kontrolle über Tabasco.

Denn nachdem der sichtbare Kopf der Drogenmafia im Südosten beseitigt worden war, lieferten sich zwei politische Gruppierungen, die beide der PRI angehören, einen gnadenlosen Kampf um die Vorherrschaft in der Region: auf der einen Seite das riesige, von Salinas aufgebaute Netz von Komplizenschaften, das lokal durch die einunddreißig Gouverneure der Bundesstaaten getragen wird; auf der anderen Seite der enge Kreis persönlicher Freunde eines schüchternen und unentschlossenen Mannes, der schon bald selbst Präsident werden sollte, nämlich Ernesto Zedillo.

Letztlich wurde mit der Schlacht um Tabasco ein Kampf zwischen Salinas und Zedillo eröffnet, bei dem nichts Geringeres auf dem Spiel stand als die Kontrolle über ganz Mexiko. Am 20. November 1994, zehn Tage vor dem Amtsantritt Ernesto Zedillos, fanden in Tabasco Gouverneurswahlen statt. Zedillo hegte keinerlei Sympathien für den von Salinas designierten PRI-Kandidaten Roberto Madrazo Pintado, dem in allen Prognosen eine Niederlage vorausgesagt wurde. Dessen Gegner Andrés Manuel López Obrador, den Kandidaten des Partido de la Revolución Democrática (PRD), konnte der künftige Präsident allerdings auch nicht unterstützen: Obrador vertrat die Opposition des linken Zentrums, die das neoliberale Credo radikal ablehnt.

Hinter López Obrador stand eine neue Kraft. Mehrere Jahre lang hatte er in geduldiger politischer Arbeit den Indio-Gemeinden der Chontalpa-Region geholfen, in der sich die zentralen Anlagen der Erdölgesellschaft Petróleos Mexicanos (Pemex) befinden. Dieses Unternehmen hatte aus dem Boden Tabascos zwischen 1973 und 1992 8,5 Milliarden Barrel Rohöl im Gesamtwert von rund 130 Milliarden Dollar gefördert. Von dieser enormen Geldsumme wurde nicht das geringste in die Verbesserung der Lebensbedingungen der Indios investiert. Im Gegenteil: Die Aktivitäten der Pemex verseuchten das Wasser des Meeres, der Flüsse und der Lagune von Chontalpa und zerstörten durch den sauren Regen die traditionelle Landwirtschaft. Die bäuerliche Wirtschaft wurde zerrüttet, eine Korruption gigantischen Ausmaßes machte sich breit. Unterdessen wohnen die Indios nach wie vor in Häusern mit Lehmböden, ohne Abwasserentsorgung und Elektrizität. Ihnen fehlt es an Arbeit, an Schulen für die Kinder und Spitälern für die Kranken. Auf ihre Forderungen und Proteste erhalten sie grundsätzlich nur Drohungen, Prügel und Gefängnisstrafen zur Antwort.

Unermüdlich war López Obrador von einem Dorf zum nächsten gezogen, hatte ein Programm entwickelt, um dem Land und insbesondere der Regierung zu zeigen, daß es – sofern die Regierung auf Wahlbetrug verzichten würde – möglich sei, einen politischen Wechsel zu vollziehen, ohne zu den Waffen zu greifen, wie dies Anfang desselben Jahres die Indios in Chiapas getan hatten, die sich in der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) zusammenschlossen. Immer wieder betonte López Obrador, daß andernfalls die soziale Unzufriedenheit auf den gesamten Staat übergreifen und die Bevölkerung sich früher oder später dem Aufstand in Chiapas oder der Guerilla im Staat Oaxaca anschließen werde. In den lakandonischen Wäldern wartete Subcomandante Marcos, der gerade seine zweite militärische Offensive vorbereitete, auf das Votum der Wähler Tabascos, um die politischen Absichten der zukünftigen Regierung Zedillo im Hinblick auf die zapatistische Forderung nach einem demokratischen Wechsel ohne Blutvergießen beurteilen zu können.

Im Zuge der Verhandlungen vor den Wahlen hatte sich Zedillo dazu verpflichtet, daß weder die Regierung noch die PRI die Wahlen in Tabasco manipulieren würden. „Die Bürger werden in völliger Freiheit wählen, und die Ergebnisse werden durch niemanden beeinflußt werden“, versprach er. So traf am Wahltag eine von Zedillo eingesetzte Beobachterkommission in Tabasco ein, um faire Wahlen zu garantieren. Vergeblich: weitreichende Manipulationen, an denen sich mit Salinas' Einverständnis Beamte des Bundesstaates und der Zentralregierung beteiligten, verschafften Roberto Madrazo entgegen aller Erwartung 100000 Stimmen mehr als López Obrador. Damit war ein Konflikt unvermeidbar geworden.

Um gewalttätigen Zusammenstößen zuvorzukommen, rief López Obrador seine Anhänger zu einem friedlichen Marsch nach Mexiko-Stadt auf. Seine Forderung war simpel: die Wahlen sollten annulliert werden. Die „Karawane für die Demokratie“ erreichte nach einem Marsch von mehreren tausend Kilometern durch das ganze Land schließlich die Hauptstadt. Doch sie bewirkte nichts. Der neue Präsident Zedillo begnügte sich mit der Erklärung: „Legen Sie Beweise für den Wahlbetrug vor, und wir werden die Wahl annullieren.“ López Obrador sammelte also die nötigen Unterlagen, darunter den Bericht von Wahlbüros, in denen tausend Stimmen für die PRI und keine einzige für die PRD gezählt wurden, obwohl die Zahl der eingeschriebenen Wähler fünfhundert nicht überstieg. Doch seine Bemühungen erwiesen sich als vollkommen fruchtlos.

Während sich der Konflikt zuspitzte, begannen am 19. Dezember 1994 die Zapatisten in Chiapas ihre zweite Militärkampagne, in deren Verlauf sie im übrigen keine einzige Offensive durchführten und jeglichen direkten Zusammenstoß mit den Regierungstruppen vermieden. Präsident Zedillo ging in dieser Angelegenheit so ungeschickt vor, daß er eine massive Kapitalflucht auslöste, die eine Börsenkrise und den Einbruch des Pesokurses nach sich zog. Schließlich willigte der von allen Seiten bedrängte Präsident in Verhandlungen mit den Zapatisten ein. Am 15. Januar 1995 stellte Subcomandante Marcos der Regierung bei einem Zusammentreffen mit Innenminister Esteban Moctezuma in Chiapas zwei Bedingungen für die Wiederaufnahme des Dialogs: die Annullierung der Wahlen in Tabasco und den Rückzug der zentralen Bundesarmee hinter die drei an das Gebiet der Zapatisten grenzenden Gemeinden. Moctezuma nahm die Bedingungen an.

Zwei Tage später, am 15. Januar, traf der Innenminster in Mexiko-Stadt den umstrittenen Gouverneur von Tabasco, Roberto Madrazo, und unterbreitete ihm das Angebot, ihn für seinen Rücktritt als Gouverneur mit dem Posten des Erziehungsministers zu belohnen. Madrazo erklärte sich einverstanden. Doch bevor er nach Villahermosa zurückkehrte, wo er seine Entscheidung offiziell bekanntgeben sollte, suchte er Carlos Hank González auf, einen der reichsten, korruptesten und mächtigsten Männer des mexikanischen Politsystems. Hank Gonzáles war gewissermaßen Salinas' graue Eminenz in Tabasco, wo er, parallel zum Imperium von Cabal Peniche, seinen eigenen Einflußbereich aufgebaut hatte. Und so war er es, der das Machtvakuum in der Region ausgefüllt hatte, nachdem der Geschäftsmann Cabal Peniche geflohen war.

Niemand weiß, was an diesem 17. Januar zwischen Roberto Madrazo und Hank Gonzáles besprochen wurde. Jedenfalls erklärte zum gleichen Zeitpunkt Esteban Moctezuma vor Journalisten in der Präsidentenresidenz in Los Pinos, die Regierung Zedillo werde in Kürze ein politisches Abkommen von nationaler Tragweite treffen, gewissermaßen eine mexikanische Version des Paktes von Moncloa, mit dem 1976 der demokratische Übergang in Spanien eingeleitet worden war. Doch das sollte eine Illusion bleiben. Hank González wußte – und konnte wohl auch Roberto Madrazo davon überzeugen –, daß der Verzicht auf die Kontrolle über Tabasco der Schließung einer prosperierenden Goldmine gleichgekommen wäre. Zwischen 1977 und 1992 hatte die Regierung dieses Bundesstaates über ein Budget von insgesamt 6,8 Milliarden Pesos verfügt, von denen nur 343 Millionen produktiv investiert worden waren. Der Rest war durch die Bürokratie aufgebraucht worden oder im Strudel der Korruption verschwunden. Sollte Ernesto Zedillo ernsthaft die Macht in diesem Eldorado übernehmen? Das würde Carlos Salinas nicht zulassen.

Madrazo kehrte also am 18. Januar nach Villahermosa zurück, versammelte seine Vertrauten und Helfershelfer um sich und stürmte am nächsten Morgen mit Hilfe von Polizei und Armee den Regierungspalast und den offiziellen Sitz des Gouverneurs, den Anhänger von López Obrador seit zwei Wochen besetzt gehalten hatten. Nach mehrstündigen Auseinandersetzungen, während derer die Freunde von López Obrador friedlichen Widerstand leisteten, übernahm Madrazos Truppe erneut die Kontrolle über die beiden Gebäude und ließ verlauten, der Staat werde sich vom restlichen Land unabhängig erklären, sollte Ernesto Zedillo versuchen, „den souveränen Willen des Volkes von Tabasco zu brechen“.

Zu dieser dramatischen Rede gesellte sich die lautstarke Solidaritätserklärung der Kongreßabgeordneten des Bundesstaates Puebla, dessen Gouverneur Manuel Bartlett Diaz jener korrupte Minister der Regierung De la Madrids war, den die DEA der Komplizenschaft mit den Drogenkartellen beschuldigt. Einige Stunden später erhielt Roberto Madrazo auch die Unterstützung des Gouverneurs von Guerrero, Rubén Figueroa Alcocer, einer weiteren zwielichtigen Hauptfigur in Carlos Salinas' Machtapparat.

Protestaktionen

ANGESICHTS dieser Machtdemonstration gab die Regierung Zedillo klein bei. Esteban Moctezuma dementierte, auch nur den Gedanken an eine Rücktrittsaufforderung an Madrazo gehegt zu haben. Und so nahm die alte, durch den Neoliberalismus korrumpierte politische Klasse Präsident Zedillo als Geisel. Drei Wochen später begannen die Truppen der Zentralarmee einen Vernichtungsfeldzug gegen die Zapatisten. Wenn diese Offensive scheiterte, so deshalb, weil es sowohl in Mexiko als auch in den europäischen Hauptstädten zu Demonstrationen kam, in denen skandiert wurde: „Wir alle sind Marcos!“

Einige Monate später entdeckte ein Anhänger von López Obrador in einem verlassenen Haus in Villahermosa ein aus mehreren Kisten bestehendes Archiv mit der Buchführung über den Wahlkampf von Roberto Madrazo. Darin fanden sich Spesenabrechnungen, eine Aufstellung von Schecks und Bankdepots sowie Rechnungen und Lohnlisten. Dieses Material belegt Ausgaben in Höhe von 241 Millionen Pesos (72 Millionen Dollar). Ein Vermögen wurde verschleudert, nur um 290000 Stimmen zu kaufen – umgerechnet 250 Dollar pro Stimme! Mitte Mai erhob daraufhin López Obrador Anklage bei den Bundesbehörden und wies nach, daß der PRI-Kandidat das Gesetz über die Begrenzung von Wahlkampfmitteln übertreten hatte.

Das Gericht gab der Klage von López Obrador statt, doch Roberto Madrazo erhob Einspruch vor dem Obersten Gerichtshof und konnte den Prozeß damit hinauszögern. Bei Madrazos Gönnern kam der Verdacht auf, Innenminister Esteban Moctezuma habe López Obrador die Unterlagen zugespielt, um sich damit für die Gehorsamsverweigerung vom 19. Januar zu rächen. Man beschloß, den Minister zu stürzen.

Am 28. Juni 1995, sechs Wochen nach Entdeckung der Unterlagen, tötete in den Bergen des Staates Guerrero an der Flußquerung von Aguas Blancas die örtliche Polizei auf Befehl des Gouverneurs Rubén Figueroa Alcocer, eines Freundes von Roberto Madrazo, aus einem Hinterhalt siebzehn unbewaffnete Bauern und bewirkte damit einen Skandal, der in weniger als vierundzwanzig Stunden zum gewünschten Ergebnis führte: Der Innenminister demissionierte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dieses ungesühnte Verbrechen sich in einem Aufstand entladen würde: Zum Jahrestag des Massakers am 28. Juni 1996 trat in den Bergen von Guerrero eine neue Guerillabewegung auf den Plan. Rund sechzig Mann stark, mit Sturmgewehren bewaffnet und das Gesicht nach Art der Zapatisten von Chiapas vermummt, machte es sich die Revolutionäre Volksarmee (EPR) zur Aufgabe, die „unpopuläre, undemokratische und illegitime Regierung, die im Dienst des nationalen und ausländischen Großkapitals steht“, zu stürzen.

Auch der Volkswiderstand in Tabasco geht weiter, ermutigt durch die Verhaftung von Juan Garcia Abrego, einem Komplizen Cabal Peniches, der sich als Verbindungsagent zur kolumbianischen Mafia betätigte und Chef des Golfkartells war. Garcia Abrego hatte sich freiwillig der mexikanischen Polizei gestellt, nachdem er mit der Regierung Zedillo (und der US-amerikanischen Staatsanwältin Janet Reno) seine Überstellung in die USA ausgehandelt hatte. Er ist noch immer in Houston in Haft.

Im Februar 1996 organisierte die demokratische Bewegung in Tabasco mehrere entschlossene Protestaktionen, um den Rücktritt von Gouverneur Madrazo zu erzwingen. Die Chontala-Indios, die an der Golfküste leben, wo sich die wichtigsten Erdölvorkommen des Landes befinden, besetzten mehrere Tage lang die Ölquellen. Der Gouverneur ließ daraufhin einige Dutzend Besetzer einsperren. Am 21. Juli 1996 wurde López Obrador zum Vorsitzenden der PRD gewählt, der er unter anderem eine Annäherung an die zapatistischen Aufständischen der EZLN vorschlug.

Mitte Juni veröffentlichte das Gericht erste Ermittlungsergebnisse: Die Hälfte des in den Unterlagen in Villahermosa verbuchten Geldes kam tatsächlich von der Banco Unión – Cabal Peniche ließ auf diesem Weg seine Drogengelder waschen. Was den Rest des Vermögens betrifft, konnten die Behörden seinen Ursprung offiziell nicht feststellen. Es wird jedoch angenommen, das Geld sei letztlich nicht für den Wahlkampf von Roberto Madrazo, sondern für den Präsidentschaftswahlkampf 1994 bestimmt gewesen, um die PRI und deren Kandidaten Ernesto Zedillo zu unterstützen.5 Seit sich der Präsident am 25. Juni 1996 persönlich nach Tabasco begeben hat, um dort Gouverneur Madrazo erneut seiner Unterstützung zu versichern, hat sich dieser Verdacht erhärtet. Seine ungewöhnliche Geste hat schwere Zusammenstöße ausgelöst, bei denen über dreißig Personen verletzt wurden, ganz zu schweigen von Sachschäden und den Dutzenden ausgebrannter Fahrzeuge.

Doch Roberto Madrazo ist, dank eigener und seiner mächtigen Freunde Mittel, noch immer Gouverneur von Tabasco. Man könnte daraus den Schluß ziehen, der mexikanische Präsident – noch gestern absoluter Souverän – verfüge nicht mehr über eine ausreichende Macht, um sich gegen die Gruppierungen durchzusetzen, hinter denen die Finanzmacht der Kartelle steht. Und diese Gruppierungen haben beschlossen, trotz des Protestes der Bevölkerung und des Widerstandes der Guerillas, die in den südlichen Bundesstaaten immer zahlreicher auftreten, Mexiko in aller Ruhe auszuplündern.

dt. Birgit Althaler

1 Vgl. Hubert Prolongeau, „Le Mexique confronté à la puissance des narcotrafiquants“, Le Monde diplomatique, August 1994.

2 Vgl. Ignacio Ramonet, „Le Mexique sur les rails du néolibéralisme“, Le Monde diplomatique, April 1986.

3 The New York Times, 29. Juli 1995.

4 Carlos Salinas, der gegenwärtig in Irland lebt, wird vorgeworfen, er sei nicht in der Lage gewesen, den unstillbaren Appetit der politischen Klasse und seiner eigenen Familie zu bändigen. Sein Bruder Raúl Salinas ist seit Februar 1995 in Haft und wird beschuldigt, den Auftrag für den Mord an PRI-Sekretär José- Francisco Ruiz Massieu gegeben zu haben. Daneben steht er in Verdacht, Hunderte Millionen Dollar, die aus dem Handel mit Suchtmittel stammen könnten, reingewaschen zu haben.

5 Präsident Ernesto Zedillo wurde kürzlich von der US-amerikanischen Presse beschuldigt, an der Gewährung einer „unbegründeten“ Zahlung von über sechs Millionen Dollar zugunsten des „Tortillakönigs“ Roberto González beteiligt gewesen zu sein.

* Chefredakteur der Tageszeitung La Jornada, Mexiko-Stadt.

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Jaime Aviles