16.08.1996

Das Media Lab - ein Fenster in die Zukunft

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Das Media Lab - ein Fenster in die Zukunft

■ Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat sich um Nicholas Negroponte eine Forschungsgruppe gebildet, die sich mit der Er

Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat sich um Nicholas Negroponte eine Forschungsgruppe gebildet, die sich mit der Erarbeitung von Kommunikationsformen der Zukunft beschäftigt. Im legendären Media Lab entwickeln Computergenies die Rechner der nächsten Generation, Cybermaschinen und intelligentere Netze. Hier versucht man, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie die Medien des nächsten Jahrtausends aussehen könnten. Aber werden all diese Science-fiction-Apparate die Menschen wirklich einander näherbringen?

Von

INGRID

CARLANDER *

COMPUTER sind taubstumme Idioten. Wir haben die Aufgabe, sie intelligent zu machen.“ Nicholas Negroponte und sein Team sind fasziniert von der Idee einer Symbiose von Mensch und Maschine. Das von Negroponte geführte Media Lab arbeitet in Cambridge bei Boston. Seine Forschungsgruppe, die ihre Antennen auf die Signale der Zukunft ausrichtet, gilt als der think tank des bekannten und renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Hier lebt man schon längst in der Cyberwelt des dritten Jahrtausends – seit mehr als zehn Jahren nutzen diese modernen Alchimisten die außergewöhnlichen Möglichkeiten, die ihnen hier geboten werden, um eine digitale Revolution einzuleiten, hinter die die Menschheit nicht mehr zurückfallen kann.

„Es ist durchaus denkbar, daß wir einmal Maschinen bauen werden, die wesentlich leistungsfähiger sind als das menschliche Gehirn“, meint Jérôme Wiesner, der frühere Leiter des MIT, der das Institut gemeinsam mit Negroponte gegründet hat. „Man sagt immer, daß Computer keine Seele haben, aber woher wollen wir wissen, ob sie nicht nur eine ganze andere Seele haben als wir?“1 Die Visionäre des MIT schauen in die Zukunft, und ihr Arbeitsfeld ist der Grenzbereich, in dem die Unterschiede zwischen Mensch und Maschine verschwimmen. Metaphysik interessiert sie allerdings weniger: Sie sind besessen von der Idee, die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns aufzuschlüsseln und so auf Computer zu übertragen, daß sie uns viele banale Aufgaben abnehmen könnten. Marvin Minsky, der im MIT Pionierarbeit geleistet hat, formuliert sein Erkenntnisinteresse schlicht so: „Wie sind die Millionen Dinge kodiert, aus denen sich das Weltbild schon eines Kindes zusammensetzt? Unser Forschungsziel ist einfach zu benennen: Wir wollen verstehen, was gesunder Menschenverstand ist.“

Die Räume, in denen die neuen Propheten sich solchen Fragen widmen, sind vollgepackt mit Apparaten. Überall winden sich Kabelschlangen, am Boden, an den Wänden und an der Decke. Alle sind mit Leidenschaft bei der Sache. Hier arbeiten nicht nur einige der besten Informatiker der USA, sondern auch Studenten des MIT, ungemein kreative junge Leute, die sich auch den unangenehmen Aufgaben begeistert zuwenden und oft die ganze Nacht damit verbringen, irgendeine Kleinigkeit auszutüfteln – „midnight workers“ ist ihr Spitzname. In die Projekte eingebunden zu werden, gilt als Zeichen besonderer Kreativität, und bewußt werden ganz unterschiedliche Leute ausgewählt. Forscher ganz verschiedener Bereiche können hier die verrücktesten Ideen ausspinnen, auch wenn nur einige davon zum Erfolg führen. Es findet ein permanentes Feuerwerk der Einfälle und neuen Projekte statt – jedenfalls ist das der Eindruck, den die Forschungsgruppe in der Öffentlichkeit erwecken möchte. Man darf sich nicht täuschen lassen: Hinter aller Lockerheit ist der Erwartungsdruck doch stets zu spüren, wie eine Giftwolke am Horizont. Förderer und Geldgeber wollen Ergebnisse sehen, und wer es nicht schafft, sie in einer praxisbezogenen Demonstration (einer demo, wie es im Jargon heißt) vom Nutzen seines Konzepts oder Experiments zu überzeugen, der wird hier nicht alt.

Das Media Lab ist dem MIT angeschlossen (und sogar berechtigt, akademische Titel zu verleihen), aber es kann sich auch auf eine eindrucksvolle Reihe finanzstarker Sponsoren aus Amerika, Europa und Japan stützen: neben Sony, Sega, Disney, JCPenney, Olivetti, Volvo und vielen weiteren Firmen sind auch die US- amerikanische Armee und das Verkehrsministerium engagiert. Firmen, die sich eigene Forschungseinrichtungen dieser Art nicht leisten können, lassen sich aus der Ideenküche des Media Lab mit kühnen Projektvorschlägen und leicht verrückten Konzeptionen versorgen. Auch wenn Ideen auf dem industriellen Markt keinen Preis haben: Nicolas Negroponte soll inzwischen 29 Millionen Dollar schwer sein – auf diese Summe wird jedenfalls der Wert seiner Anteile an dem Computermagazin Wired geschätzt, in dem er eine eigene Kolumne unterhält.2 Sein Buch „Total digital“3 ist zu einer Art Bibel geworden. „Das findet man auf den Schreibtischen aller wichtigen Leute im Silicon Valley“, meint ein Banker aus San Francisco. „Es ist eine Pflichtlektüre für alle Investoren und jeden, der mit Risikokapital zu tun hat. Dieser Markt ist äußerst unbeständig und kann von einem Tag auf den anderen zusammenbrechen.“

Digital sein oder nicht sein

VORBEI sind die Zeiten, als man sich an der Westküste über den Direktor des Media Lab lustig machte und ihn als den „Barnum der Wissenschaft“ und „Handlungsreisenden der Datenverarbeitung“ bezeichnete. Heute ist der Mann, dessen Augen so blau sind wie die Streifen der Hemden, die er zu tragen pflegt, ein hochgeachteter Prophet der Digitalisierung. Er gilt als der Papst des „Netzes der Netze“ und als ein kompromißloser Verfechter der unbeschränkten Freiheit im Cyberspace.

Negroponte kennt sich im Wissenschaftsbetrieb bestens aus: Er kommt vom MIT, und abgesehen von einer zweijährigen Tätigkeit bei IBM hat er die universitären Zirkel nie verlassen. Seit über dreißig Jahren beschäftigt sich Negroponte intensiv mit der Zukunft des Gespanns Mensch und Maschine. Er besitzt ein außergewöhnliches Talent: Er ist nicht nur ein äußerst geschickter Geschäftsmann, sondern versteht es auch auf glänzende Weise, seine Ideen zu vermitteln.

Negroponte hat es auf die Generation abgesehen, die gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzt, die sogenannten neuen Analphabeten des Computerzeitalters. Damit meint er keine Geringeren als die Entscheidungsträger, die das Schicksal des Planeten bestimmen. Ihnen will er Punkt für Punkt deutlich machen, wie ihr tägliches Leben im nächsten Jahrtausend auszusehen hat. In der „Negroponte- Bibel“ wird ohne Umschweife erklärt, daß in den Führungsetagen der Welt die Schicksalsfrage bald lauten wird: Digital sein oder nicht sein!

Negroponte ist nicht nur millionenschwerer Bestseller-Autor, er hat selbst als Reisender im Cyberspace schwer zu tragen. Die Koffer mit all den Zauberapparaten, die ihm Anschluß nach überallhin garantieren, wiegen schon ein paar Dutzend Kilo. Der Professor ist ständig unterwegs, von einem Seminar zum anderen und von einem Vortrag vor Unternehmensvertretern zum nächsten. So reist er von hier nach überall und nirgendwo, und das Hier begleitet ihn in Form einer elektronischen Adresse selbst auf seine griechische Insel, von der aus er mit der ganzen Welt in Verbindung treten kann – und sich „auf dem Boot in der griechischen Sonne zu frischen Seeigeln einen Montrachet aus einem guten Jahrgang schmecken läßt“4. So läßt es sich leben ...

Ob auf einer griechischen Insel oder in der Antarktis: Zu den unveräußerlichen Rechten des Cyberweltbürgers soll es fortan gehören, in Echtzeit Zugang zu allem zu haben, was er wünscht. Sein Recht auf Information kann er jederzeit und unmittelbar in Anspruch nehmen. Soll man das nun Information, Desinformation, Überinformation oder die Überwindung der Information nennen?

„Warum soll es nicht 500000 verschiedene, auf Einzelpersonen zugeschnittene Ausgaben von Le Monde geben? Jedem Leser sein eigenes Blatt!“ überlegt Walter Bender zwischen zwei Schlucken Cappuccino.

Bender leitet das Projekt „News in the Future“. „Schluß mit der Einförmigkeit und der politischen Linie, die von einem Chefredakteur bestimmt wird – und weg von den Medienimperien. Heute geht der Trend zu einer Vielfalt kleiner, individuell gestalteter Publikationen. Der Durchschnittsleser nutzt seine Zeitung nicht optimal. Statt dessen könnte jeder seine ,maßgeschneiderte Tageszeitung‘ bekommen. Das würde dann für den Leser bedeuten, daß auf seinem Bildschirm eine Ausgabe erscheint, die vom Wirtschaftsteil bis zum Sport an seinen persönlichen Interessen und Wünschen ausgerichtet ist. Es geht nicht darum, die Informationen zu filtern, sondern sie auszuweiten.“

Ein Interface-Agent, ein Programm, das die Netzzugriffe des Nutzers auswertet, wird nach dem so gewonnenen Interessenprofil die Agenturmeldungen und Zeitungen, die Radio- und Fernsehprogramme durchsehen, um dann auf Wunsch ein ausgewähltes Informationsangebot zusammenzustellen – immer auf dem aktuellen Stand. „Auf diese Weise entwickelt sich das Lesen von einem passiven zu einem interaktiven Vorgang.“ Walter Bender erläutert sein Projekt PLUM (Peace, Love, Understanding and Media): „Nehmen wir als Beispiel eine Agenturmeldung über eine Katastrophe an irgendeinem entfernten Ort. Das muß Sie zunächst nicht interessieren, aber wenn Sie Hypertext benutzen, können Sie bestimmte Begriffe anklicken und erhalten dann eine Vielzahl von geographischen, politischen und psychologischen Detailinformationen, Dinge, von denen Sie bislang nichts wußten. Dadurch eröffnen sich Ihnen völlig neue Bereiche.“

„Der Computer wird sich in einen perfekten englischen Butler verwandeln!“ Nicholas Negroponte gibt diesen Spruch gern zum besten, um anschließend zu schildern, wie die Maschine lernen kann, ihren Meister an der Stimme und an seinen Gesten zu erkennen, wie sie ihm jeden Wunsch erfüllt, morgens den Kaffee aufsetzt und dafür sorgt, daß Milch im Kühlschrank ist.

Zur Feier seines zehnjährigen Bestehens hat das Media Lab mit großem Medienrummel die Ära der „intelligenten Dinge“, der drei „T“ (Things That Think), eingeläutet: „In der Entwicklung der Elektronik besteht der entscheidende Trend heute darin, die Computer immer winziger zu machen, und das wird weitreichende Folgen haben“, erklärt Alex Pentland aus der Abteilung Perceptual Computing.

„Nehmen wir das Beispiel der ,Computer zum Anziehen‘ – die dürften schon bald auf dem Markt sein. Irgendwann in naher Zukunft wird man ein Jacket tragen, oder vielleicht sogar ein Schmuckstück, in das der Taschenkalender, die Notiz- und Adreßbücher, die Kamera und der portable Computer eingearbeitet sind. Solche intelligenten Kleidungsstücke (wearable computers) könnten als Sender und Empfänger für alle Informationen dienen, die man im Alltag braucht. Vielleicht wird schon mein Sohn den Personalausweis im Kragen seiner Jacke tragen. Und wenn mir zu warm wird, lockert sich automatisch der Knoten meiner Krawatte. Es wird neue Farbstoffe geben – ein Kostüm, das mittags noch grau war, kann auf Wunsch am Abend erdbeerfarben sein. Und gibt es einen geeigneteren Ort, um Daten verfügbar zu halten, als die Kleidung? Unser Körper wird Teil eines Netzwerks sein: Uhren oder Brillen dienen als Bildschirm, und jedermann ist dann Sender und Empfänger. Wir arbeiten in diesem Bereich auch mit Créapole, einem Forschungsinstitut in Paris, zusammen.“5

Virtuelle Prothesen für die Menschen von morgen

NEGROPONTE, der ideensprühende Leiter des Media Lab, erzählt auch gern folgende Geschichte: Schon bald wird der Informationsaustausch über Ohrstecker oder Manschettenknöpfe vonstatten gehen. Man muß sich nur vorstellen, welche Vorteile das zum Beispiel für Berufspolitiker hätte – sie könnten auf jeder Wahlveranstaltung sofort feststellen, wer zu ihrer Wählerschaft gehört, und sich die Lebensdaten übermitteln lassen.

„Auch die Häuser werden wir integrieren“, meint Alex Pentland, „und zwar in naher Zukunft, vielleicht in vier oder fünf Jahren.“ Er erinnert sich, wie es anfangs Kritik von allen Seiten hagelte: Es sei nicht erlaubt, in dieser Weise in das Leben der Menschen einzugreifen! Und heute? „Unzählige Firmen unterstützen uns, selbst Unternehmen von der Westküste.“

„Der Mensch hat sich zu allen Zeiten bestimmter Prothesen bedient“, meint Joäl de Rosnay6 in seinem Büro in der Pariser Cité des sciences et de l'industrie, der über die Arbeit des Media Lab bestens informiert ist. „Heute können wir neue, elektronische Hilfsmittel einsetzen wie die Datenverarbeitung, das Fernsehen oder die Kommunikation über Satelliten und Telefon. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir uns bio-elektronischer Mittel bedienen – etwa indem wir Verbindungen zwischen dem menschlichen Gehirn und Maschinen herstellen, die mit uns in einer unmittelbaren symbiotischen Beziehung stehen. Die Computer zum Anziehen, die das Media Lab entwickelt, werden dabei eine wichtige Rolle spielen.“

Wie intelligent ein Computer sein kann, hängt vor allem von seiner Fähigkeit ab, etwas zu erkennen und wiederzuerkennen. Justine Cassell von der Abteilung Gesture and Narrative Language im Media Lab ist promovierte Psychologin und Linguistin. Sie weist in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Aspekt hin: „Die Kommunikation zwischen Menschen beruht auf zwei entscheidenden Faktoren: dem Gesichtsausdruck und den Gebärden.“ Um allgemein einsetzbar zu sein, müßte der Computer also Gesten und Mienenspiel interpretieren können. Ein Rechner könnte zum Beispiel Taubstummen als Übersetzer dienen, wenn er in der Lage wäre, ihre Zeichensprache zu verstehen. Justine Cassell sieht noch eine ganz andere Aufgabe für die Zukunft: „Es wäre wichtig, daß Mädchen von Anfang an mit der Informationstechnologie vertraut gemacht werden. Bislang ist das eine Domäne der Jungen. Und außerdem muß dringend etwas gegen die Zunahme von Sexismus und Gewalt in den Videospielen unternommen werden.“

So sieht es auch Phillippe Quéau7, ehemaliger Forschungsdirektor am Institut national de l'audiovisuel (INA), der kürzlich die Leitung der Abteilung für Information und Datenverarbeitung bei der Unesco übernommen hat. Quéau verfolgt die Arbeit von Media Lab seit langem mit großem Interesse. „Die Frauen müssen sich den virtuellen Raum erschließen. Es ist wichtig, daß dort alle menschlichen Werte vertreten ist. Wir dürfen nicht zulassen, daß die weiblichen Werte dabei fehlen.“

Kevin Brooks forscht in der Abteilung Interaktives Kino des Media Lab. Auch er begeistert sich für die Möglichkeit, den geistigen Horizont zu erweitern – und sieht die Gefahr, daß die Menschen durch die Computersysteme in eine geschlossene Welt geraten, die sie nicht mehr verlassen können. „Die Leute werden narzißtisch und provinziell. Man muß ihnen eine Vorstellung von den Ereignissen und von der Geschichte in ihrer ganzen Vielfältigkeit nahebringen. Ob es um den Palästinakonflikt geht oder um den Roman ,Vom Winde verweht‘, stets gibt es viele verschiedene Lesarten.“

Das symphonische Gehirn

BROOKS, der erst vor kurzem in Stanford sein Diplom gemacht hat, arbeitet an einer Art Fortsetzungsgeschichte (oder Drehbuch) mit einer beinahe unbegrenzten Zahl unterschiedlicher Handlungsvarianten. Das Projekt heißt „Crossing the Street“: der Benutzer kann durch Anklicken bestimmter Bildelemente (einer Person, einer Situation, einer Tätigkeit und so weiter) den Ablauf der Sequenz verändern und das System dazu bringen, die Geschichte neu zu erzählen – nach dem Muster der „Hunderttausend Milliarden Gedichte“ von Raymond Queneau. Aus den gleichen Elementen entstehen mehrere Erzählungen: etwas mehr Liebe, etwas weniger Gewalt, vielleicht eine Prise Science-fiction... Die digitalen Helfer treffen ihre Auswahl, und es entsteht eine symbiotische Beziehung zwischen dem System und dem Autor einer Serie, eines Romans oder eines Drehbuchs. „Diese Werke sind nicht linear; es werden komplexe dezentrale Handlungsstränge geboten, die aus jedem Blickwinkel neu gesehen werden können.“ Im Sinne der postmodernen Theorien wäre Identität hier als dekonstruiertes, multiples System zu verstehen.8

Tatsächlich vertritt Marvin Minsky, Verfasser zahlreicher Bücher über künstliche Intelligenz, die Theorie, daß Intelligenz aus der Vielfalt entsteht: Entscheidungen ergeben sich aus Konflikten und Abwägungen. Dieser Gedanke steckt auch in dem phantastischen Projekt einer „Gehirn-Oper“ (Brain Opera), an dem der Komponist und Cellist Tod Machover arbeitet. Machover, der am MIT lehrt, kommt vom Ircam (Institut für musikalisch-akustische Forschung und Koordinierung) in Paris, wo er auch jetzt noch mit Pierre Boulez zusammenarbeitet. Diese Oper der Zukunft hatte in diesem Sommer am Lincoln Center in New York Premiere und ging anschließend auf eine Welttournee. Viele Jahre Arbeit und aufwendige Forschungen über das Wesen der Intelligenz und die Antriebskräfte der Kreativität waren nötig, um die „Brain Opera“ zu verwirklichen. Wie lassen sich Kreativität und Intelligenz digital umsetzen? Werfen wir einen Blick ins Allerheiligste der Musik der Zukunft.

In Begleitung von Joe Paradiso, dem genialen Erfinder hochempfindlicher Sensoren und Meßfühler, mit deren Hilfe er eine neue Generation von Musikinstrumenten geschaffen hat, und seinem Forschungsassistenten Eric Metois betreten wir das riesige Tonstudio im Gebäude des MIT, das sich vom Erdgeschoß über vier Etagen erstreckt. Die Mitte des Raumes nimmt ein gewaltiger Konzertflügel ein. Pierre Boulez und Oscar Peterson haben diesen Bösendorfer gewählt, weil er wie kein anderer die feinsten Klangfärbungen ihres Spiels wiedergibt – er ist gespickt mit Mikroprozessoren. Daneben das Hypercello, auf dem der berühmte Solist Yo-Yo Ma die unglaublichen Kompositionen von Tod Machover gespielt hat. Das Instrument, für das er ausnahmsweise auf seine Stradivari verzichtete, ist ein „intelligentes Objekt“, halb Computer, halb klassisches Musikinstrument – und schrecklich empfindlich. Joe Paradiso hat es mit allen Arten von Sensoren und Mikrofonen bestückt und elektronische Sonden an der Hand des Künstlers angebracht, die den Bogen führt.

Es wird mehr als eine Premiere sein: etwas nie Gesehenes und nie Gehörtes. Ein großes Publikum kann die Aufführung dieser außergewöhnlichen Komposition für Hyperinstrumente live oder im Internet miterleben. Man spricht bereits überall davon – es könnte ein historischer Moment werden.

Freundliche Agenten in einer immateriellen Welt

DIE wahren Zauberer des kommenden digitalen Jahrtausends, die im Herzen der Computer wohnen und ihnen die Seele ersetzen, sind die intelligenten Agenten, auch liebevoll „bots“ (vom Wort robots) genannt. Ihnen wird es zu verdanken sein, wenn die Computer zu unseren Dienern, unseren Vertrauten und Führern durch die Netzwerke werden, wenn sie die Stimme, Gesten und Bewegungen ihrer Meister erkennen – und bald werden sie auch unsere geheimsten Gedanken lesen können. Im Media Lab dreht sich alles um die bots, merkwürdige virtuelle Geschöpfe, denen man jede beliebige Gestalt geben kann.

Pattie Maes leitet hier ein ganzes Forschungsteam: Die Gruppe Autonome Agenten ist Tag und Nacht nur damit beschäftigt, neue Generationen dieser Geschöpfe zu erzeugen. Tatsächlich sind robots Systeme, die von Spitzeninformatikern, wahren Zauberlehrlingen, entwickelt werden. Für die Computerindustrie könnte durch sie ein Traum wahr werden, phantastische Einkommensmöglichkeiten tun sich auf: Wenn die Agenten die Recherchen im World Wide Web übernehmen, spart man Tausende Arbeitsstunden im Internet. Die bots werden sich unentbehrlich machen.

„Die Leute integrieren diese bots in ihre Vorstellungswelt, sie haben keine Scheu mehr, ihnen typisch menschliche Eigenschaften und Absichten zu unterstellen.“ Leonard Foner, Verfasser einer aufsehenerregenden Studie mit dem Titel „What's an Agent, Anyway?“ (Was ist eigentlich ein Agent?) zeigt sich erstaunt. In seiner Forschungsarbeit hat er Gespräche im Netz mit einer „Agentin“ namens Julia aufgezeichnet, die über Eishockey diskutieren, aber auch hemmungslos flirten konnte. Auf die Frage „Julia, bist du eine Frau?“ gab sie etwa die Antwort „Natürlich bin ich weiblich!“ – und klimperte heftig mit den Wimpern.

Die Psychoanalytikerin Sherry Turkle, selbst eine erfahrene Weltreisende in allen Netzen, ist überzeugt: „Die heutige Bedeutung der Computer als kulturelle Objekte wäre nicht denkbar, wenn sich die Nutzer nicht in ihre Apparate und selbst in die Ideen verliebt hätten, die ihnen entspringen.“

Henry Lieberman verdanken wir die Existenz einer „Spitzenagentin“ namens Letizia (den Namen hat sie aus einer Erzählung von Jorge Luis Borges). Letizia besitzt das unschätzbare Talent, im richtigen Moment den kreativen Zufall ins Spiel zu bringen. „Letizia ist ein As“, meint ihr Schöpfer. „Eine sehr eigensinnige Agentin, die sämtliche gewünschten Verbindungen herstellt, aber außerdem – und das ist der entscheidende Punkt – noch ein paar unerwartete. Was eine Recherche so interessant macht, ist doch gerade die Möglichkeit, auf eine Information zu stoßen, die mit dem eigentlichen Thema überhaupt nichts zu tun hat. Der Zufall ist ein sehr schöpferisches Element!“ Intelligente Agenten sollen auch dazu dienen, den schrecklichen „Eisernen Vorhang“ zu überwinden, der die erfahrenen Programmierer von den einfachen Anwendern trennt.

Die allgemeine Digitalisierung begünstigt exponentiell wachsende Auswirkungen: Was eben noch als winziger Unterschied erschien, als der Flügelschlag des Schmetterlings, kann morgen bereits die schrecklichsten Folgen haben. Paul Virilio hat bereits gewarnt: „Alarm im Cyberspace!“9

Auch die Investoren fürchten das Platzen von „Seifenblasen der Spekulation“. „Wir erleben derzeit eine sehr beunruhigende Entwicklung, die durch die ultraschnelle Technologie ausgelöst wurde“, meint Philippe Quéau. „Der Mensch ist langsam, ortsgebunden und wirklich, diese Welt dagegen schnell, global und virtuell. Man muß ständig auf der Hut sein.“ Ein weiteres Problem ist der „interaktive Autismus“ der Netzsurfer.

Eine digitale Fremdenlegion?

WIE soll man mit der wachsenden Kluft umgehen, die sich zwischen den Info-Reichen und den Info-Armen auftut? Vor allem in den Ländern des Südens fehlen die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Teilnahme an der digitalen Kommunikation.10

Was verbindet den Leser einer „maßgeschneiderten Tageszeitung“ mit dem, der seinen Fisch in altes Zeitungspapier einwickelt? Nicholas Negroponte hat dazu eine provokative Anregung beizutragen: „Man sollte unbedingt eine Friedenstruppe von 500000 jungen Informatikern aufstellen, die sich darum kümmert, daß die nächste Milliarde von Nutzern in der Dritten Welt darüber besser Bescheid weiß.“ Er hält die Zeit für gekommen, die Vereinten Nationen des Cyberspace zu gründen.

So besehen könnte man ebensogut ein Expeditionskorps fordern, das den „Computer-Analphabeten“, die uns regieren, den Umgang mit der neuen Technologie beibringt – wenn sie uns denn auch im nächsten Jahrtausend noch regieren müssen (siehe den Artikel von Joäl de Rosnay auf Seite 13). Vielleicht übernehmen diesen Job ja die intelligenten Agenten, die keinem Glauben oder Gesetz verpflichtete Truppe segensreicher oder unheilvoller bots, die im Internet mit uns machen, was sie wollen – unter den begeisterten Anfeuerungsrufen der Riesen der Unterhaltungsbranche und der Glücksritter des Risikokapitals?

„Das ist eine gefährliche Entwicklung“, meint Joäl de Rosnay. „Ethische Überzeugungen und Werte könnten auf der Strecke bleiben. Wir müssen die Klugheit und Weitsicht aufbringen, all das in eine künftige Weltkultur zu integrieren, die den Menschen und seine Bestimmung achtet.“

dt. Edgar Peinelt

1 Zit. nach Steward Brand, „The Media Lab“, New York (Viking) 1987.

2 „Die Zeitschrift Wired geht an die Börse: Teilhaber und Mitherausgeber Nicholas Negroponte kann von einem Tag auf den anderen 29 Millionen Dollar verdienen“, San Francisco Chronicle, 31. Mai 1996.

3 Nicholas Negroponte, „Total digital“, Gütersloh (Bertelsmann) 1995.

4 Ebd.

5 Créapole ESDI, (Private Studieneinrichtung), 128, rue de Rivoli, 75001 Paris.

6 Joäl de Rosnay, „L'homme symbiotique“, Paris (Le Seuil) 1995.

7 Siehe auch Philippe Quéau, „Virtuel“, Paris (Champ Vallon/INA) 1993.

8 Siehe Sherry Turkle, „Life on the Screen“, New York (Simon & Schuster) 1995.

9 Paul Virilio, „Alarm im Cyberspace!“, Le Monde diplomatique, August 1995.

10 Siehe Alain Gresh, „Internet auf der Südhalbkugel“, Le Monde diplomatique, Mai 1996.

* Journalistin und Autorin; von ihr erschien „Stars de Dieu: le scandale des télévangelistes“, Paris (Plon) 1990.

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von Ingrid Carlander