16.08.1996

Seitenaltäre der Moderne

zurück

Seitenaltäre der Moderne

Von

EMMANÜEL SOUCHIER

und YVES JEANNERET *

WENN es zu spät, die Bank geschlossen oder zu weit weg ist, dann holt man sich einfach ein paar Scheine am Automaten. In einer Gesellschaft, die das Geld zur Staatsreligion erhoben hat, geht man zum Geldautomaten wie zur Beichte. Allerdings trifft man an dem Ort, wo man Plutos, den Gott des Reichtums, anbetet, auf keinen Priester: Die Fürsprache erledigt eine Maschine.1

Es gibt zwei unterschiedliche Arten solcher Apparate, die auch deutlich verschiedene Verhaltensweisen erzeugen: Die einen sind in eine Hauswand eingelassen, die anderen stehen in einem abgeschlossenen Raum. Diese neue Mischform einer Dienstleistung, die Anbieter und Verbraucher gemeinsam abwickeln, ist für die Banken in jeder Hinsicht rentabel: Indem sie dieses Geschäft „nach draußen“ verlagern, können sie Arbeitszeit und Arbeitsplätze einsparen. Zudem lassen sie den Kunden für sich arbeiten, der diese Dienstleistung selber in Gang setzt und durchführt. Der entscheidende Vorteil des Geldautomaten liegt in seiner ständigen Verfügbarkeit; und doch erzeugt er, wie er da an der Mauer der Bank hängt, zugleich eine Utopie, einen Nicht-Ort.2

Zunächst wurde der Automat zur Straße hin installiert und als bloßes technisches Gerät verstanden, das mit einem rudimentären Bildschirm ausgestattet war, der den Benutzer ohne Umschweife zu bestimmten Bedienungsschritten aufforderte. Damit waren seine Möglichkeiten aber nur unzureichend genutzt. Schon bald wurde die Bedeutung der sozialen Kontaktaufnahme begriffen und entsprechend berücksichtigt: Man verlegte den Geldautomaten ins Innere des Bankgebäudes und verpaßte ihm einen Farbbildschirm, der nun Grafiken und benutzerfreundliches Layout zeigte. Wiederholungsfunktionen und Auswahlmöglichkeiten addierten sich zu einem aufwendigen Bedienungsprogramm. An die Stelle der ultrafunktionalen Kargheit, die mit menschlicher Kommunikation nichts zu tun hatte, trat eine barocke Vielfalt der Gesprächsangebote – vom Minimaltext im mattgebürsteten High-Tech-Aluminiumrahmen ging man über zum bunten Plakat der Produktwerbung.

Nachdem also zunächst der Mensch nur als ausführendes Organ begriffen wurde und nichts weiter tun sollte, als auf Informationen zu reagieren, versucht man jetzt, etwas überstürzt, seine eigentlichen Qualitäten wie kulturelles Gedächtnis und soziale Fähigkeiten wieder ins Spiel zu bringen. Was bereits abgeschrieben schien, wird nun wieder in aller Unschuld auf dem Bildschirm der Geldautomaten präsentiert.3 Diese pragmatische Wende zeigt, daß sich die Entwickler überhaupt keine Gedanken darüber gemacht haben, welcher Logik die hier stattfindende Kommunikation folgt – letztlich dominiert ein Technikerbewußtsein, das den Menschen, die „fehlerhafte Maschine“, am liebsten wegrationalisieren würde.

Die Weiterentwicklung der Geldautomaten ist letztlich nur eine Fußnote in der langen Geschichte der menschlichen Beziehungen zum Geld. Die einfache Handlung des Geldentnehmens muß als Teil von Geschichte, von Ritualen und Symbolen gesehen werden. Vor dem Automaten wird ein besonderer Widerspruch deutlich: einerseits ist der Vorgang abstrakt und von Distanz bestimmt, andererseits ist unsere aktive Teilnahme gefordert. Vom Edelmetall über die Münze und den Geldschein bis zum Scheckheft, vom direkten Kontakt zur zunehmenden Ferne der Beziehungen ist unser körperliches Verhältnis zum Geld immer abstrakter geworden. Inzwischen träumen manche Geldpolitiker schon vom völligen Verschwinden des Bargelds – „Cybercash“ ist das neue Schlagwort. Doch gleichzeitig gewinnt das öffentliche persönliche Handeln wieder an Gewicht: Wer vor dem Geldautomaten steht, muß körperlich in Aktion treten, und zwar vor aller Augen.

Es gibt auch eine verdeckte Gewalt in diesem Wandel. Was einst, vermittelt durch den Bankkassierer, als private Transaktion vollzogen wurde, ist zum rein mechanischen Vorgang gemacht und aus dem Innenraum, der sowohl für den sozialen wie für den privaten Bereich steht, auf die Straße verlegt worden – den Ort der Bewegung, der Gefahren, des Unbekannten und der Fremden. Nur durch die Maschine konnte der Bankier den Kunden zwingen, ein persönliches Geschäft auf offener Straße zu tätigen, sich aus dem geschützten Innenbereich ins ungewisse Draußen zu begeben und ein erhebliches physisches und psychisches Risiko einzugehen. Erst durch die Maschine war es möglich, den Bankier von der Verantwortung für den sozialen Akt des Austauschs zu entbinden. Die Bank zieht sich hinter das kalte Auge einer Kamera zurück und löst einseitig die einst vertrauliche Interaktion mit dem Kunden; ein außerordentlich gewaltsamer Eingriff in die Beziehung der Menschen zum Geld, dessen Roheit von der Technik überspielt wird. Seit man dazu übergegangen ist, die Geldautomaten im Eingang der Bank zu installieren, gewissermaßen in einem Vorraum zum Allerheiligsten, hat sich diese Situation etwas zum Besseren gewendet, ohne ihr ein grundsätzliches Moment von Unmenschlichkeit zu nehmen. Äußerlich betrachtet heißt das, der Vorgang findet hinter verschlossener Türe statt, ist dem Zwang zur Eile enthoben, und ein gewisses Gefühl der Sicherheit stellt sich ein. Psychologisch bedeutet es, sich in einem abgeschlossenen Raum zu befinden, also an einem archetypisch positiv besetzten Ort: dem Drinnen, im Unterschied zum Draußen. Gaston Bachelard hat darauf hingewiesen, daß die Begriffe Draußen und Drinnen „sämtliche Gedanken des Positiven und des Negativen beherrschen“4.

Scheinbare Verfügbarkeit des Geldes

DIE gläserne Schleuse ist allerdings zwiespältig. Wer sie durchschreitet, hat keinen privaten Ort erreicht und bleibt sozial sichtbar. Wenn es stimmt, daß „der Mensch sein Eigenes als abgeschlossenen Raum wahrnimmt“5, dann könnte man dies auch für den Raum behaupten, in dem der Geldautomat steht, mit der Einschränkung, daß es keinen Sichtschutz gibt. Eine ähnlich zweideutige Situation besteht auch bei der Beichte nach traditionellem katholischem Ritus. Während der Beichtvater den Blicken entzogen ist, bleibt der Beichtende sichtbar. Die Art, dem Geheimnis gegenüberzutreten, ist am heiligen Ort des Automaten jedoch eindeutig bestimmt: Der einzelne ist für alle sichtbar, doch er allein besitzt die geheime Formel. Die Rolle des Beichtvaters übernimmt eine Maschine, und das Geheimnis besteht nur aus vier Zahlen. Dennoch bleibt die Qualität des Geheimnisses erhalten, und das steht in deutlichem Gegensatz zur Utopie der Machbarkeit und ihren Mythen.

Zu den mythischen Versprechungen, mit denen der Geldautomat lockt, gehört die Utopie der unendlichen Verfügbarkeit des Geldes – überall und rund um die Uhr – und die der absoluten Gleichheit vor dem Geld. Indem jeder in gleicher Weise Zugang erhält, werden soziale Unterschiede und Reichtum belanglos. Es ist der Mythos um die Deregulierung: Wenn der Handel floriert, ist alles möglich, und wenn unbeschränkte Geldzirkulation stattfindet, heißt das Reichtum und Besitz für jeden. Das klingt auch in der Bezeichnung „Geldautomat“ an. Die Maschine ist das unerschöpfliche Füllhorn, das alle gleichermaßen versorgt und den Geldverkehr als Bescherung inszeniert.

Diese Mythenbildung soll vor allem das berechnend Geschäftsmäßige verschleiern, das dem Gegenstand, seiner Aufmachung, den Bildschirmen und Werbebotschaften anhaftet. Gleichheit? Nicht jeder hat eine Scheckkarte, schon gar nicht diejenigen, die auf dem Gehweg vor oder gleich in dem kleinen Geldtempel herumhängen. Verfügbarkeit? Die Kreditlinien werden nicht angezeigt, und wer überzieht, bleibt im wahrsten Sinne außen vor. Aber wenn man abschlägig beschieden wird, bezieht sich der Apparat nicht auf die sozio-ökonomische Wirklichkeit („Sie sind arm!“), sondern verweist auf sich selbst: „Der Vorgang konnte nicht ausgeführt werden“.

Mit der Sprache der Maschine erreicht die Kommunikation den Nullpunkt, wo soziale und menschliche Dimensionen ausgeblendet sind. Die Utopie will sich neutral geben – darum die Pseudo-Sachlichkeit schmuckloser Flächen, die Bildschirmschrift unpersönlicher Formulierungen –, aber sie kann ihre geschäftemacherischen Wurzeln nicht abstreifen, und so kehrt wieder, was aus der Beziehung zum Geld verdrängt werden sollte: Psychologie, Geschichte und Gesellschaft. Kein Wunder also, wenn hinter all dem technischen Aufwand zuletzt auch die Tätigkeit des einfachen Bankangestellten erneut ins Bild kommt.

Was sich die Planer unter Schalterpersonal vorstellen, wird am Automaten sichtbar: Eine französische Bank läßt auf dem Bildschirm ihrer Geldautomaten einen livrierten Pagen auftreten, der dem Kunden dienstfertig bei jedem Bedienungsschritt zur Seite steht. Nur ein Klischee? Vielleicht, aber jedenfalls ein aufschlußreiches. Auf dem High-Tech-Bildschirm wirkt der Page, eine Figur des 19. Jahrhunderts, eigentlich deplaziert, aber bei dieser Kollision zweier Epochen wird auch deutlich, wie dauerhaft die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Ideologie hierarchischer sozialer Beziehungen nachwirkt. Das Symbol der Dienstbarkeit steht zunächst für die Maschine selbst, für den Maschinensklaven, und dahinter ahnt man die Vorstellungen der Banker von ihrem Kassenpersonal. Daß dieses Bild, ob naiv oder zynisch, in solcher Deutlichkeit gezeigt wird, hat zweifellos etwas damit zu tun, daß es auf einem Automatenbildschirm erscheint: Die vereinfachende Darstellung verrät, was der liberale Diskurs gerade zu verdecken sucht.

Die Bankangestellten, kleine Rädchen im Getriebe der Finanzgeschäfte, werden als Dienstpersonal präsentiert: Der Kunde ist König und der Kassierer sein Sklave. Entwicklungsingenieure und Grafiker haben offenbar unbewußt ihrer Verachtung für die Arbeit der Bankangestellten Ausdruck verliehen. Man kann es auch als heimliche Rache der lebendigen Arbeit sehen, die in diesem Bild die ideologischen Frontlinien wieder sichtbar macht, die man hinter funktionaler Technik gebannt wähnte.

Der Geldautomat ist keineswegs so wertneutral, wie er scheinen soll. Als eigenständiges Medium pointiert er die Eigentümlichkeiten der menschlichen Beziehung zum Geld. Stumm und blind – wie die Macht – verleiht er der Sozialtechnologie einen sakralen Charakter. Was die Utopie der Funktionalität zu verdrängen sucht, kehrt aber wieder: hinter der aufwendigen Technik zeigt sich der mißachtete Wert der Arbeit der Angestellten. Der Glaube an den Menschen als dienstbeflissene Maschine bekommt dem Bild von der heiligen Maschine denkbar schlecht ...

dt. Edgar Peinelt

1 1994 gab es in Frankreich 20500 Geldautomaten, 22,8 Millionen Kreditkarten waren im Umlauf. Das führte zu 2337 Millionen Zahlungsvorgängen mit einem Gesamtumsatz von 807 Milliarden Franc (234 Milliarden Mark).

(2 Siehe Frantz Rowe, „Des banques et des réseaux“, Paris (ENSPTT-Economica) 1994.

3 Die Bildschirmanzeige ist entweder zweisprachig (Englisch/ Französisch) oder sogar nur in Englisch, gewissermaßen in der „Herrschaftssprache“, wie Bernard Cassen es formuliert hat. Was soll man zum Beispiel davon halten, wenn ein Geldautomat an irgendeiner Grenzstation in den Pyrenäen die spanischen Nachbarn völlig ignoriert und sich nur englisch und französisch äußert? Siehe dazu Bernard Cassen, „Les nouveaux maitres du monde“, Manière de voir, Nr. 28, November 1995.

4 Gaston Bachelard, „Poetik des Raumes“, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 1987, S. 211.

5 Paul Zumthor, „La Mesure du Monde“, Paris (Le Seuil) 1993, S. 58.

* Mitglieder der Studiengruppe zur Untersuchung von Kommunikationsgewohnheiten (GAPC) an der Ecole nationale supérieure des télécommunications (Paris).

Le Monde diplomatique vom 16.08.1996, von E.Souchier und Y.Jeanneret