Bürgernähe statt Zynismus
DER bürgernahe Journalismus („civic journalism“) entstand in den USA als ein Versuch, den Wahlstrategien und den Pseudoereignissen der traditionellen politischen Gruppierungen nicht das Feld zu überlassen. Die Bürger, allzu häufig in die Rolle von Zuschauern gedrängt, sollten wieder das Wort erhalten und während des Wahlkampfs ihre Probleme zur Sprache bringen.
Die Vorgehensweisen des civic journalism ähneln sich fast überall. Die Zeitung, die an dem Projekt teilnimmt, finanziert eine Meinungsumfrage über die Probleme von Bevölkerungsteilen, die von den Medien ihres Gebiets oder ihrer Stadt vernachlässigt werden. Auf der Grundlage dieser Informationen veröffentlicht das Blatt ausführliche und gut aufgemachte Reportagen zu den aktuellen sozialen Problemen. Mitunter geht man sogar noch weiter und organisiert öffentliche Gesprächsrunden, bei denen die Bürger vor anwesenden Spezialisten und Abgeordneten ihre Lösungsvorschläge unterbreiten können. Einige dieser Veranstaltungen werden dann im Fernsehen oder Radio übertragen. Die Journalisten halten sich bei diesen Veranstaltungen im Hintergrund und begnügen sich damit, Faktenmaterial beizusteuern oder präzise Fragen aufzuwerfen. So soll an die Stelle rhetorischer Ergüsse ein Dialog treten, der den Meinungsaustausch fördert.
Es kommen auch kleine Diskussionsrunden zusammen. Persönlichkeiten, die für ihren Lebenskreis repräsentativ sind, tauschen sich über ihre Einschätzungen aus. Dadurch kann sich die Presse auch solchen sozialen Problemlagen widmen, die den Umfrageinstituten entgangen sind. So haben sich in dem people project der Tageszeitung The Eagle Bürger aus Wichita (Kansas) in Gesprächen, die insgesamt 192 Stunden dauerten, über ihr Leben, ihre Ängste und ihre Meinung zu den Formen der Politik geäußert.
Manchmal werden die Kandidaten auch direkt mit den Fragen der Bürger konfrontiert; mitunter kommen viele Fragen zusammen, in Seattle zum Beispiel waren es sechsundsiebzig. Das Presseorgan veröffentlicht dann die Antworten an prominenter Stelle. Kandidaten, die darauf nicht eingehen, finden unter ihrem Namen einen weißen Leerraum...
DIE Politik ist nicht der einzige Aktivitätsbereich des civic journalism. In Charlotte, einer Stadt in North Carolina, wurde nach der Ermordung zweier Polizisten das Projekt „Taking Back our Neighborhoods“ (Erobern wir unsere Viertel zurück) ins Leben gerufen. Es ging darum, die Ursachen von Gewaltverbrechen herauszufinden und die Bevölkerung aufzufordern, Lösungen für das Drogenproblem, die Arbeitslosigkeit, den Waffenbesitz und das Problem alleingelassener Kinder zu finden. Die „bürgernahe“ Presse wird über die Ergebnisse berichten.
Der Erfolg all dieser Initiativen ist zur Zeit noch schwer abzuschätzen. Die Presseunternehmen, die sich diese Projekte einiges kosten ließen, waren nicht bereit, noch mehr auszugeben, um die Wirkungen zu untersuchen. Immerhin weiß man bereits, daß 54 Prozent der befragten Personen erklärt haben, sie seien jetzt besser darüber informiert, worum es bei der betreffenden Wahl gehe. Paradoxerweise war zugleich ein gestiegenes Mißtrauen der Bürger gegenüber der Politik festzustellen. Sollte es daran liegen, daß sie den außergewöhnlichen Charakter des Experiments, an dem sie teilnahmen, begriffen haben?
MARC-FRANÇOIS BERNIER,
Verfasser von „Ethique et déontologie du journalisme“,
Sainte-Foy (Les Presses de l'université Laval) 1994.