13.09.1996

Clinton reformiert Armut zu Elend

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Clinton reformiert Armut zu Elend

■ Zum ersten Mal seit 1991 hat Präsident Clinton am 20. August den Mindestlohn erhöht, damit, wie er betonte, Arbeit attraktiver wird als Sozialhilfe. Zweifellos geht es ihm auch darum, die fortschrittlichen Wähler davon abzuhalten, ihm bei der Wahl die Quittung für seine „Reform“ der bundesstaatlichen Armenfürsorge zu präsentieren, denn diese „Reform“ ist die rückschrittlichste Sozialmaßnahme in der jüngsten Geschichte der USA.

Von LOÏC WACQUANT

MIT der Kühnheit einer neuen Gesellschaft, die aus den großen interkontinentalen Migrationsbewegungen der Moderne entstanden ist und getreu ihrem Image als Versuchslabor für soziale Erneuerungen sind die Vereinigten Staaten dabei, die erste „Gesellschaft der hochentwickelten sozialen Unsicherheit“ der Geschichte zu schaffen. Den Hauptpfeiler im Rohbau dieses neuartigen sozialen Gebäudes hat Präsident William Clinton soeben abgesegnet: Den ärmsten Amerikanern wird das ohnehin dünne soziale Netz fast vollständig weggezogen. Im Wahlkampf von 1992 hatte der frühere Gouverneur von Arkansas noch den Schlachtruf angestimmt „End welfare as we know it“ (Weg mit dem alten Wohlfahrtssystem) – unter Kennern auch „Ewawki“ genannt – aber heute hat die welfare reform, die immerhin seine Wiederwahl sichern soll, mit einer Reform nur noch den Namen gemein. In Wahrheit handelt es sich um eine Gegenrevolution, wie es sie in einem demokratischen Land noch nie gegeben hat: Sie schafft das Recht auf Sozialhilfe ab (nicht zuletzt auch die im Social Security Act von 1935 festgeschriebene staatliche Hilfe für gefährdete Kinder); die Annahme unterbezahlter Jobs wird zur Staatsbürgerpflicht und für die Armen zum einzigen Mittel, den Lebensunterhalt zu bestreiten, wenn sie nicht kriminell werden wollen.

Diese „Reform“ der Sozialhilfe, die sich auf den viktorianischen Mythos stützt, daß Armut auf die Nachlässigkeit der Bedürftigen und auf das schlechte Funktionieren eines zu großzügigen Wohlfahrtsstaates zurückzuführen ist, will „den Zyklus der Abhängigkeit durchbrechen“, indem sie „Arbeit und Verantwortung zum höchsten Gesetz der Nation“ erhebt. Die neue Errungenschaft, die der Präsident als „einen wirklichen Fortschritt für unser Land, unsere Werte und für die Sozialhilfeempfänger“1 bezeichnet, weist drei tragende Elemente auf.

Das erste betrifft die Pflicht eines Sozialhilfe empfangenden Haushaltungsvorstands, nach zwei Jahren eine Arbeit anzunehmen, sowie eines Anrechts auf Beihilfe von insgesamt fünf Jahren – auf das ganze Leben verteilt. Als zweites wird die Verantwortung für die Sozialprogramme auf die fünfzig Bundesstaaten und, eine Stufe darunter, auf die Tausende von Counties rückübertragen: Diese können die Bundesmittel nach Belieben einsetzen, vorausgesetzt, sie bringen die Menschen dazu, „von der Fürsorge zur Arbeit zu wechseln“. (Sie können zum Beispiel einen maximalen Unterstützungszeitraum von weniger als fünf Jahren festsetzen und einer alleinerziehenden Mutter die Beihilfe kürzen, wenn sie ein weiteres Kind bekommt.) Ein System von Geldstrafen und –prämien ist eingeführt worden, um die Zahl der Hilfeempfänger zu reduzieren. Schließlich werden diejenigen, die keine amerikanischen Staatsbürger sind, sogar legale Einwanderer, sowie Bedürftige, die mit dem Rauschmittelgesetz in Konflikt gekommen sind, von den meisten Sozialprogrammen ausgeschlossen. Weitere Bestimmungen wie die automatische Kürzung der Unterstützung für Frauen, die den Vater ihres unehelichen Kindes nicht angeben wollen, und die Verpflichtung minderjähriger Mütter, ins Elternhaus zurückzukehren, bestätigen den zutiefst repressiven und regressiven Charakter dieser Gesetzgebung.

Der Geiz des Wohlfahrtsstaats

WENN man diese „Reform“ wörtlich nehmen würde, dann wäre sie völlig unverständlich. Mit Ausnahme von Japan sind die Vereinigten Staaten unter den entwickelten kapitalistischen Ländern das Land mit den niedrigsten Sozialausgaben, das einzige, in dem es weder Familienbeihilfen noch staatliche Gesundheitsversorgung oder eine Bildungs- und Arbeitspolitik gibt, die diesen Namen verdient; zugleich weisen die USA den höchsten Grad an Privatisierung von Leistungen im öffentlichen Bereich auf.2 Schlimmer noch ist, daß das amerikanische Steuer- und Sozialsystem die ärmsten Haushalte systematisch benachteiligt. Während die Armutsquote in Kanada durch Umverteilung um 20%, in Deutschland um 36%, in Frankreich um 51% und in den Niederlanden um 62% gesenkt wird, haben die Steuern in den Vereinigten Staaten keine solchen positiven Auswirkungen. Sie führen vielmehr zu einer spürbaren Verschlechterung bei Haushalten mit Kindern.3 Die Programme für die Armen sind im Staatshaushalt immer sehr stiefmütterlich behandelt worden. Die 35 Milliarden Dollar, die Washington 1995 als Beihilfen für Familien mit minderjährigen Kindern (AFDC) bereitgestellt hat und auf die der Reformeifer hauptsächlich abzielt, machen nur 1% der Bundesausgaben aus, das heißt ein Zwölftel der Mittel, die der Staat der Social Security für Renten überweist, die vor allem der Mittelklasse zugute kommen. Der gleiche Betrag wird allein schon an die 5% der reichsten Haushalte im Land ausgeschüttet – als Steuernachlaß, wenn sie einen Wohnsitz erwerben. Der Grundbetrag der AFDC-Beihilfe, dessen realer Wert sich in den letzten 25 Jahren um die Hälfte vermindert hat und der 1993 durchschnittlich 377 Dollar im Monat betrug, liegt 55% (im Bundesstaat Mississippi sogar mehr als 87%) unter der offiziellen Armutsschwelle. 40% der Empfangsberechtigten erhalten keine Beihilfe, weil immer neue Verwaltungshindernisse errichtet werden, um die Antragsteller abzuschrecken.4 In den letzten drei Jahrzehnten ist der Hauptgrund dafür, daß die Armut in den Vereinigten Staaten zunimmt und nun auch Frauen und Kinder erfaßt, keineswegs die Freigebigkeit des Wohlfahrtsstaates gewesen, sondern vielmehr sein Geiz. Wirklich dringend wäre eine Reform, die die Zahl der Beihilfeberechtigten vergrößern und die ausgezahlten Summen erhöhen würde. Doch genau das Gegenteil geschieht: Die „Reform“, die Präsident Clinton im August verkündet hat, führt zum Ausschluß zahlreicher Kategorien von Antragsberechtigten und zu drakonischen Kürzungen (vor allem bei der Verteilung von Lebensmittelcoupons), was innerhalb von sechs Jahren zu Einsparungen in Höhe von 55 Milliarden Dollar führen soll. Und als gesichert gilt, daß die Bundesstaaten, wenn sie nicht mehr unter der Aufsicht Washingtons stehen, sich einen verbissenen Wettkampf um die „niedrigsten Hilfen im Sozialbereich“ liefern werden, aus Angst, zu einem welfare magnet zu werden, der die Armen aus den Nachbarstaaten anzieht – menschlichen Schrott, den niemand braucht. Mögen sich auch die Abgeordneten, die dieses Gesetz verabschiedet haben (in einem Verhältnis von drei zu eins; auch die Hälfte der Demokraten hat zugestimmt), rühmen, im wohlverstandenen Interesse der Ärmsten zu handeln (oder was sie dafür halten) – alle Prognosen besagen, daß diese „Reform“ die Lebensbedingungen für einkommensschwache Haushalte verschlechtern und mehrere Millionen Kinder in die Armut treiben wird (bis zum Jahr 2006 werden es schätzungsweise zwischen zwei und fünf Millionen mehr als heute sein) und daß die Zahl der Alten, Kranken, Gebrechlichen und Bedürftigen, die weder über Einkommensquellen noch über Zufluchtmöglichkeiten verfügen, steigen wird. Nur geht es eben nicht darum, die Armut zu reduzieren, sondern die Zahl der Unterstützungsempfänger zu verkleinern. Dieser kleine Unterschied ist von großer Bedeutung: War in der Vergangenheit nur ein toter Indianer ein guter Indianer, so ist heute nur ein unsichtbarer Armer, der für sich und seine Angehörigen selber sorgt und keine Ansprüche an die Gemeinschaft stellt, ein guter Armer. Ein Armer also, der sich so verhält, als gäbe es ihn nicht, und den Mythos vom amerikanischen Traum unbefleckt läßt.

Die Argumente, mit denen diese tiefgreifende Veränderung der Sozialhilfe gerechtfertigt werden soll, lauten wie folgt: Die bedürftigen Sozialhilfeempfänger sind passiv, ja sogar faul und wollen nicht arbeiten. Die welfare, die als Sprungbrett für eine „zweite Chance“ dienen sollte, hat sich in einen verderblichen way of life verwandelt, in dem „ganze Familien über Generationen hinweg“ gerne verharren.5 Man muß nur ihre Not vergrößern und sie, notfalls mit unsanften Mitteln, auf den Arbeitsmarkt stoßen: Dort werden sie dann die wirtschaftlichen und auch moralischen Werte der Arbeit entdecken. Sie gewinnen ihre Unabhängigkeit zurück und können für sich selbst sorgen. Diese Argumentation ist in jeder Hinsicht falsch.

So verweilen die meisten Sozialhilfeempfänger nur kurze Zeit unter dem Schutzschirm des Staates. Die Hälfte der AFDC-Unterstützungsberechtigten scheidet nach längstens einem Jahr und drei Viertel längstens zwei Jahre nach ihrer Antragstellung wieder aus dem Programm aus. Ferner schließt der Bezug von Beihilfen nicht aus, daß ein Sozialhilfeempfänger arbeitet, sei es offiziell oder in der sogenannten Schattenwirtschaft. Und dies aus gutem Grund, denn keine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern kann von den 5000 Dollar leben, die ihr der knauserige Staat bestenfalls pro Jahr gewährt. Das Schlagwort von der „Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat“, mit dem man den Amerikanern unaufhörlich in den Ohren liegt, ist ein Widerspruch in sich. Tatsächlich leben die meisten der einkommensschwachen Haushalte gleichzeitig oder abwechselnd von Arbeit und Fürsorge, je nach der Lage auf dem Arbeitsmarkt.

In drei Vierteln der armen Familien gibt es mindestens einen Beschäftigten, und bei einem Drittel verfügt ein Familienmitglied das ganze Jahr über einen Vollzeitarbeitsplatz. Mehr als 40% der alleinerziehenden Mütter, die eine AFDC- Beihilfe erhalten, arbeiten mindestens einen Teil des Jahres, ungeachtet ihres niedrigen Ausbildungsniveaus und der wenigen Hortplätze für Kleinkinder. Eine vor kurzem in Chicago durchgeführte Umfrage hat gezeigt, daß ausnahmslos alle von ihnen schwarzarbeiten müssen, um über die Runden zu kommen.

Schwarz- oder Heimarbeit, Hehlerei und Geldeintreiben, Verkauf von Lebensmitteln und Alkohol, Glücksspiel, Prostitution und Drogenhandel: die Armen rackern sich im Bereich der Schattenwirtschaft ab, die in den Ghettos der amerikanischen Großstädte zum Alltag gehört.6

Nicht am Wunsch zu arbeiten mangelt es also, sondern an Arbeitsplätzen, und vor allem an solchen, die sicher und einträglich genug sind, um eine Familie zu ernähren. Denn seit einem Vierteljahrhundert stagniert der Durchschnittslohn, und der Mindestlohn sinkt unaufhörlich. Gleichzeitig hat die Zahl der unsicheren und schlechtbezahlten Gelegenheitsjobs im Dienstleistungssektor enorm zugenommen. Diese Verschlechterung der Lohnbedingungen ist der zweite wichtige Grund für die geringeren Lebenschancen jener Amerikaner, die am Rande des Arbeitsmarktes stehen, weil sie nicht qualifiziert sind (wegen des Zusammenbruchs des öffentlichen Schulsystems), weil die Rassentrennung fortbesteht und weil bei der Einstellung insbesondere Schwarze und ... Sozialhilfeempfänger diskriminiert werden.7

1968 bekam ein Mindestlohnempfänger 1,40 Dollar pro Stunde, was 1996 6,70 Dollar entsprechen und ausreichen würde, daß ein Dreipersonenhaushalt zu 20% über der offiziellen Armutsschwelle läge. Heute verdient ein Mindestlohnempfänger 4,25 Dollar. Wenn er Glück hat und das ganze Jahr hindurch in einem Vollzeitjob arbeitet, dann verfügt seine Familie über ein Bruttoeinkommen von 6.375 Dollar, was nach Abzug der Sozialbeiträge, aber vor Steuern einem Nettoeinkommen von 5.887 Dollar entspricht. Damit liegt er mehr als 50% unter der Armutsgrenze.8 Die Teilnehmerinnen am AFDC-Programm, die das Privileg eines Arbeitsplatzes haben, verdienen pro Stunde durchschnittlich 4,29 Dollar. Bei den für sie typischen Beschäftigungen (Kellnerin, Putzfrau, Verkäuferin, Stationshilfe) gibt es in zwei Dritteln aller Fälle weder Krankenversicherung noch bezahlten Urlaub. Die „Reform“ der Sozialhilfe wird die unteren Lohngruppen noch weiter senken, weil die unteren Bereiche des Arbeitsmarktes mit neuen Arbeitsuchenden überschwemmt werden, die der Fronarbeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Dem Economic Policy Institute zufolge werden die Löhne der 30% Beschäftigten mit der geringsten Qualifikation bis zum Jahre 2000 um 12% sinken, was einem Einkommensverlust in Höhe der AFDC-Mittel entspricht. In jeder Hinsicht werden also die armen Beschäftigten für die „Reform“ bezahlen. Unter diesen Umständen ist Arbeit nicht der Weg zur Unabhängigkeit, sondern eine andere Bezeichnung für Armut.

In jedem Fall rechnen selbst die optimistischsten Voraussagen damit, daß nur ein Viertel der gegenwärtigen Sozialhilfeempfänger einen Arbeitsplatz finden wird. Wie könnte es auch anders sein, wenn die Hälfte von ihnen keinen Abschluß und keine Berufserfahrung hat und wenn in den größten Städten des Landes, wo sich die am meisten gefährdeten Familien konzentrieren, auf jeden noch so schlechten Arbeitsplatz zehn Bewerber kommen?9 Ein regelrechter Marshallplan wäre nötig, damit der Teil des neuen Fürsorgesystems, bei dem es um die „Eingliederung“ geht, konkrete Gestalt annimmt. Jedoch hat das Congressional Budget Office (CBO) kürzlich in einem Bericht festgestellt, daß die Bundesstaaten lieber Geldstrafen zahlen – und damit die geringen Mittel für Sozialhilfe weiter reduzieren würden –, als die Ausgaben für Bildung und Beschäftigungsförderung zu erhöhen.

Der „Vertrag“, den Clinton den Armen vorgeschlagen hat, ist Bauernfängerei: Für die meisten von ihnen führt die „Reform“ des neuen Demokraten wohl nicht von der Fürsorge zur Arbeit, sondern von der Fürsorge auf die Straße.

dt. Christian Voigt

1 Erklärung von Präsident Clinton zur Sozialhilfereform, The New York Times, 1. August 1996.

2 Gösta Esping-Andersen, „The Three Worlds Welfare Capitalism“, Princeton (Princeton University Press) 1990; Margaret Weir, „Politics and Jobs“, Princeton (Princeton University Press) 1992.

3 Katherine McFate, Timothy Smeeding und Lee Rainwater, „Markets and States: Poverty Trends and Transfer System Effectiveness in the 1980s“, in: Katherine McFate (Hrsg.), „Poverty, Inequality and Future of Social Policy“, New York (Russell Sage Foundation) 1995.

4 Ruth Sidel, „Keeping Women and Children Last“, New York (Viking) 1996.

5 Diese Äußerungen stammen von Präsident Clinton, als er seine Entscheidung verkündete, den Gesetzentwurf der Republikaner zu unterzeichnen. Eine universitäre Version dieses neokonservativen Gedankenguts findet man in dem pseudopolitologischen Werk von Lawrence Mead: „The New Politics of Poverty: The Nonworking Poor in America“, New York (Basic Books) 1992, in dem die Kategorie des „untätigen Armen“ kanonisiert wird.

6 „Few Welfare Moms Fit the Stereotype“, Institute for Women's Policy Research, Washington 1995; Kathryn Edin, „Surviving the Welfare System: How AFDC Recipients Make Ends Meet in Chicago“, Social Problems, 38, East Lansing, Michigan, November 1991; Philippe Bourgeois, „In Search of Respect“, Cambridge (Cambridge University Press) 1995.

7 Harry J. Holzer, „What Employers Want: Job Prospects for Less-Educated Workers“, New York (Russell Sage Foundation) 1996; William Julius Wilson, „When Work Disappears“, N.Y. (Knopf) 1996.

8 Barry Bluestone und Theresa Ghilarducci, „Rewarding Work: Feasible Antipoverty Policy“, The American Prospect, 26, Cambridge, Massachusetts, Mai-Juni 1996.

9 Vgl. Gordon Lafer, „The Politics of Job Training: Urban Poverty and the False Promise of JTPA, Politics and Society, 22, Madison/Wisconsin 1994, S. 349-388.

Soziologie-Professor an der Berkeley-Universität

Le Monde diplomatique vom 13.09.1996, von Loic Wacquant