13.09.1996

Schwierige Rückkehr in die Normalität

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Schwierige Rückkehr in die Normalität

Ende Juli hat sich in San Salvador die lateinamerikanische Linke versammelt, um sich einer Herausforderung des ausgehenden Jahrhunderts zu stellen, die auf diesem Kontinent eine spezifische Bedeutung hat: dem Aufbau einer neuen Gesellschaft in einer von den USA und dem Kapitalismus beherrschten Welt, doch in Abgrenzung zum kubanischen Modell. Weit von einem Konsens entfernt, schwankte die Haltung der verschiedenen Strömungen zwischen Revolutionsnostalgie und Demokratisierungswillen. Dieser Widerspruh prä die ehemalige salvadorianische Guerilla und die daraus hervorgegangenen Bewegungen: in einer Situation, die bestimmt ist von Wirtschaftskrise und der Auflösung der Ideologien. Es fällt den Compañeros schwer, ihren neuen Platz zu finden.  ■ Von MAURICE LEMOINE

AUF Seite 166 des amtlichen salvadorianischen Telefonbuchs finden sich zwischen dem Unternehmen Frenajes del Salvador S.A. und dem Frund-Zentrum die vier Adressen und dazugehörigen Telefonnummern des Frente Farabundo Marti de Liberación Nacional (FMLN). Noch vor kurzem hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen, wer in irgendeiner Weise zusammen mit jenem berüchtigten Kürzel FMLN – das für die bewaffnete Opposition stand – genannt worden wäre. Bei den letzten Wahlen in El Salvador (1994) trat die Rechte noch mit dem Slogan an: „Vaterland ja, Kommunismus nein. El Salvador wird das Grab der Roten sein.“1 Nun hat der FMLN von 27. bis 28. Juli 1996 in der salvadorianischen Hauptstadt das diesjährige Treffen des Forums von São Paulo organisiert, an dem Vertreter (nahezu) aller Kräfte der lateinamerikanischen Linken teilnahmen.

Etwas hat sich verändert in El Salvador. Das nach zwölfjährigem Bürgerkrieg am 16. Januar 1992 in Chapultepec (Mexiko) unterzeichnete Friedensabkommen hat eine politische Reform ermöglicht, die der sechzigjährigen Militärhegemonie ein Ende setzte. Zur Zeit findet eine regelrechte Neugründung des Staates statt, durch bisher beispiellose Maßnahmen: die Respektierung des allgemeinen Wahlrechts, die Reform des Justizwesens, eine Verfassungsreform, die Trennung von Verteidigung und öffentlicher Sicherheit, die drastische Reduzierung der Truppenstärke sowie die Gründung einer nationalen Zivilpolizei. „Ich glaube, viele Leute im Land unterschätzen die Bedeutung all dieser Maßnahmen“, meint dazu der Abgeordnete Eduardo Sancho (ehemals Comandante Ferman Cienfuego, Führer des Nationalen Widerstandes, einer der Teilorganisationen des FMLN)2, als wolle er auf ein heimliches Unbehagen antworten, das trotz allem in der Gesellschaft herrscht. „Tatsächlich handelt es sich um eine politische Revolution, und wie in jeder zu raschen Umwälzung ist es schwer, alle Folgen zu verarbeiten.“

Wie ein entferntes Echo klingen die Überlegungen, die von der Koordinatorin einer regierungsunabhängigen Organisation in der Bergregion von Chalatenango angestellt werden: „Wir verstehen den Frieden nicht als ein Geschenkpaket. Wir sprechen allenfalls von einem Waffenstillstand. Nun kommt eine andere Phase des Kampfes, in der die Ursachen, die zum Konflikt geführt haben, beseitigt werden müssen. Diese Ursachen sind noch nicht überwunden und mit der Globalisierung noch komplexer geworden.“

Das hoch gelegene, karge Chalatenango mit seinen ausgemergelten Böden stellt für die Regierung ein kümmerliches Wählerpotential dar (3,4% der Stimmen auf nationaler Ebene). Dauerelend, arme Arbeiter und chronischer Analphabetismus machen die Gegend für den Handel unattraktiv und somit auch für die Regierung uninteressant.

Guarjila, am 19. Juli 1996, eine zersiedelte Ortschaft ohne Atmosphäre. Vor dem Krieg lebten hier 500 Einwohner. Heute sind es 4000. Der Grund ist die massive Wiederansiedelung von Flüchtlingen, die aus Honduras zurückgekehrt sind und sich im August 1988, also noch während des Krieges, aus einem Überlebensinstinkt heraus hier zusammengefunden hatten. „Vereinzelt wären wir leichter zur Zielscheibe der Armee geworden.“ Unter Anwesenheit von Vertretern verschiedener Regierungsinstitutionen und der Gemeinden der Provinz wird der Abschluß des Programms zur Übertragung von Boden (PTT) an ehemalige Guerilleros des FMLN und an sogenannte tenedores aus Chalate – Leute, die aus Überzeugung in den von der Guerilla kontrollierten Gebieten geblieben waren – gefeiert. Im Friedensabkommen war festgelegt worden, daß die ehemaligen Kämpfer sowohl der Armee (es sind deren 8712) als auch des FMLN (5772), die zuvor Bauern gewesen waren, sowie die tenedores (22669) das Recht erhalten sollten, Grundstücke im Wert von maximal 30000 Colones (etwa 500 Mark) zu erwerben und zu diesem Zweck einen Kredit in gleicher Höhe aufzunehmen (bei 6% Zinsen und einer Laufzeit von 30 Jahren).

Im Chalatenango ist die Landvergabe nun also abgeschlossen – vier Jahre hat es gedauert!3 Es wird ein wenig getanzt und gesungen, ein paar kurze Ansprachen werden gehalten, und der Vertreter der Landwirtschaftsbank macht sich feierlich an die Übergabe der ersten Besitzurkunden. Zwar sind die Böden schon seit längerem zugeteilt worden, doch die Aushändigung der Beglaubigungen läuft gerade erst an. Ergriffenheit kommt auf. „Nach all den großen Opfern haben wir endlich etwas erreicht“, sagt lachend ein zwanzigjähriger ehemaliger Guerillero und betrachtet seine neue Besitzurkunde. Wie um sich selbst zu überzeugen, fährt er mit gerunzelter Stirn fort: „Wir dachten, wir würden alles bekommen. Immerhin haben wir nun etwas bekommen.“

Nostalgie und Illusionen

LANGE hat es gedauert. Zu lange, klagt Shafik Handal, einer der FMLN-Führer: „Die Wiedereingliederung der ehemaligen Kämpfer wurde von der Regierung bewußt verzögert. Aus politischen Gründen. Um den FMLN in Schwierigkeiten zu bringen und das Bild zu vermitteln, er sei nicht in der Lage, die Probleme seiner Leute zu lösen.“ – „So einfach ist es nicht“, antwortet Hugo González, der Vertreter der Landwirtschaftsbank in der Provinz Chalatenango: „Erstens haben wir in dieser Provinz eine spezielle Situation, da es sich um Kleinstbauern handelt. Zum anderen war es sehr schwierig, die ehemaligen Besitzer ausfindig zu machen.“ In den Friedensverträgen ist klar festgelegt, daß nur solche Böden übertragen werden, deren Besitzer während des Konflikts in die Stadt abgewandert sind und sich mit dem Verkauf einverstanden erklären. Oft gab es hartnäckigen Widerstand, und viele haben sich geweigert, ihren Boden herzugeben. Ebensooft waren die ehemaligen Besitzer gar nicht im Grundbuch eingetragen. Oder sie boten Grundstücke an, die nicht zu ihrem Besitz gehörten. Ein wahres Geduldspiel für Behörden und Justiz.

Als Ausweg wurden den Anspruchsberechtigten manchmal Grundstücke in anderen als ihren Herkunftsgemeinden angeboten, die oft sogar besser waren. „Doch den Boden dort zu besitzen, wo man ihn besetzt hatte, das bedeutet eine Errungenschaft“, urteilt ein ehemaliger Guerillaführer. Viele lehnten das Angebot ab. Andere wiederum, die sich einverstanden erklärten und nun in San Vicente in der Provinz Usulutan im Exil leben, haben jeden organisatorischen Zusammenhalt verloren. „Lieber sterben, aber dafür im Kreis der Unsrigen bleiben.“ So kommen sie mit Sack und Pack – beziehungsweise mit der Waffe, wie es hier heißt – wieder zurück. „Und wir getrauen uns nicht, ihnen zu sagen, daß sie überzählig sind“, erklärt Lisandro Monte, ein ehemaliger Kämpfer und heute FMLN-Bürgermeister von San Antonio Los Ranchos. „Wir haben zur Zeit 140 Familien ohne Grundstück, Unterkunft und Kredit. Die Gemeinde muß für sie alle aufkommen.“

Den Blick auf einen nahe gelegenen Hügel gerichtet, auf dem sich ein Kreuz erhebt, beschwört eine Handvoll ehemaliger Guerilleros die erbitterten Kämpfe, die sie sich dort oben mit der Armee geliefert hatten. Während das Bier reichlich fließt, werden Revolutionslieder angestimmt. Erinnerungen, Umarmungen, Sehnsucht. Vertraulich wird gelegentlich Ärger geäußert und Dampf abgelassen: „Das ist doch alles beschissen. Ich war im Stadtkommando, und wir waren gegen das Friedensabkommen!“ Ein pathetischer und schrecklicher Moment. Bald jedoch lassen sich alle von Bier und Frustration übermannen.

Vor allem der FMLN hatte sich große Illusionen gemacht. „Nach dem Friedensabkommen gingen wir in die Lager, und die Leute dort bestürmten uns regelrecht mit ihren Forderungen. Wir mußten ihnen erklären, daß wir keine Möglichkeiten hatten...“, erzählt der Vertreter einer internationalen Organisation. Die Guerilla hat den Krieg nicht verloren, aber auch nicht gewonnen. „Man hat diese Siegesrituale mit den Kämpfern veranstaltet, um sie bei Stimmung zu halten“, analysiert scharfsinnig Raúl Mijango, ehemaliger Kommandierender der Sondereinheiten der Revolutionären Volksarmee. „Ein siegreicher Kämpfer hat immer gewisse Privilegien. Die Compañeros glaubten, sie würden in die militärischen Strukturen eingegliedert, bestimmte Vorteile genießen usw. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Trotz ihrer Bedeutung messen die Leute den erreichten Wiedereingliederungsprogrammen wenig Bedeutung bei. Sie erwarten etwas anderes.“

Sie kommen aus den Bergen zurück und haben nichts als ein Hemd und ihren Rucksack. Dank der Unterstützung der Gemeinschaft können sie überleben. Im allgemeinen Elend fällt jedoch auch der Familie – nach anfänglichen Begrüßungsküssen und Freudentränen – dieser unproduktive zusätzliche Esser schnell zur Last. Die auf dem Land aufgewachsenen Kämpfer erhalten – manchmal erst nach vier Jahren – ein Stück Boden und einen zweiten Kredit (bis zu 15000 Colones, also etwa 250 Mark mit fünf Jahren Laufzeit und 14% Zinsen), um eine kleine Landwirtschaft aufzubauen. Diesen Betrag brauchen sie zum Überleben, um sich Kleider, ein Bett, drei Kochtöpfe, ein Radio zu kaufen, kurz, um zu leben wie alle anderen auch. Sie werden wieder Bauern.

Aber sie sind keine Bauern. Im FMLN sind sie im Verlauf langer Jahre mit Genossen aus anderen sozialen Schichten in Kontakt gekommen. Andere Hoffnungen blühten auf, und die Vorstellung, in die Landwirtschaft zurückzukehren, diesen von der Regierung am meisten vernachlässigten Sektor, rückte in den Hintergrund. Andere haben schon sehr jung den bewaffneten Kampf aufgenommen, konnten also gar keine Erfahrungen im Ackerbau sammeln. Und die Landwirtschaft wirft nichts ab. Selbst die alteingesessenen Bauern raufen sich die Haare: „Wir würden gerne etwas verändern, aber wie? Unsere Böden sind unfruchtbar. Für Diversifizierung sind die Düngemittel zu teuer.“ Dann werden die Rückzahlungen der Darlehen fällig. Niemand kann zahlen, egal ob es sich um tenedores, FMLN- Mitglieder oder Armeeangehörige handelt. Unter dem Druck des FMLN, der mittlerweile eine politische Partei geworden ist, verzichtet die Regierung auf 70% der Schulden, verlangt aber, daß der Restbetrag von etwa 4000 Colones binnen eines Jahres zurückgezahlt wird.

Der eine oder andere wird tatsächlich zumindest einen Teil zurückzahlen können. „Ich werde mein Schwein verkaufen, das bringt etwa 2000 Colones. Meine Kinder werden eben weiterhin keine Schuhe bekommen, denn das Schwein war für die Sohlen, für ein Hemd und Zucker bestimmt. Wenn wir nur noch Salz kaufen, kann ich 40% meiner Restschuld abzahlen.“ Anderen, der Mehrheit, und insbesondere alten Leuten, Witwen und Kriegsinvaliden, wird das nicht möglich sein. „Ein Kredit für den Boden, einer fürs Haus, einer für die Arbeit“, ruft empört die NGO-Leiterin aus. „Man kann nicht davon ausgehen, daß die Menschen so kurz nach dem Krieg genügend erwirtschaften können, um etwas zurückzuzahlen.“ Ihnen allen droht inzwischen die Konfiszierung ihres Bodens. 1993 erließ die Regierung den Kaffeeproduzenten Schulden im Umfang von mehreren Millionen Colones. Einige dieser Plantagenbesitzer waren (und sind) Millionäre.

Nicht alle waren Bauern. Aber bei der Suche nach einem Arbeitsplatz gilt eine Vergangenheit in der Guerilla auch nicht gerade als Empfehlungsschreiben. Kredite für Kleinstbetriebe, eine (sehr kurze) Ausbildung zum Installateur oder im Metallbau ... gewiß, aber einen entsprechenden Arbeitsmarkt gibt es nicht. So bleiben sie auf ihren unbrauchbaren (aber zurückzuzahlenden) Krediten und ihrer ebenso unbrauchbaren Ausbildung sitzen und tragen zum Anwachsen des Armutsgürtels um San Salvador bei, wo sie sich niederlassen, um sich auf die wenig aussichtsreiche Suche nach einer Arbeit zu machen. Für ehemalige Kämpfer, die bereits ein Studium an der Universität angefangen hatten, stehen zwar Stipendien zur Verfügung, doch wegen der Studienunterbrechung durch ihren Eintritt in die bewaffnete Guerilla werden von ihnen in allen Fächern bessere Noten gefordert als von den anderen Studenten. Bis jetzt konnten nur 50% derjenigen, die in den Genuß eines Stipendiums gekommen sind, dieses „Privileg“ überhaupt wahrnehmen.4

Die Leute aus dem FMLN kommen dabei im allgemeinen noch ganz gut zurecht: Gruppengeist, gemeinsame Ideologie, jahrelanges Zusammenleben unter Genossen... Zwar sind auch sie heute tief enttäuscht: „All die Jahre, um so wenig zu erreichen; wir fühlen uns verarscht!“ Doch letztlich bleiben sie in ihrem Innersten FMLN-Mitglieder. Ihre Organisation, die in den Friedensverhandlungen Vertragspartnerin war, kann nach wie vor auf institutioneller Ebene Druck ausüben. Die ehemaligen Armeesoldaten haben solche Möglichkeiten nicht. Sie müssen mit den gleichen Problemen zurechtkommen, aber als einzelne, ohne eine starke Organisation im Rücken. Paradoxerweise ist es manchmal der FMLN, der ihnen hilft. Der ehemalige Guerillero Roman Torres erzählt: „In La Laguna leben überwiegend Exsoldaten. Sie lassen sich von der Koordinierungsstelle für die Entwicklung der Landgemeinden beraten, also von uns! Denn sie sind sich selbst überlassen. Sie haben keine Ahnung von ihren Rechten, wissen nichts vom Schuldenerlaß...“

Nuevo Amanecer zählt 172 Familien, darunter 35 Familien von früheren Militärangehörigen. Ein verlassenes Nest am Pazifik, unter der gnadenlosen Sonne. Allzu begeistert wird man hier nicht empfangen: „Diese Gemeinde wurde links liegen gelassen“, äußert mit monotoner Stimme ein Dorfbewohner. „Nur Einrichtungen der FMLN bringen Hilfe in diese Gegend. Die ehemaligen Guerilleros erhalten Unterstützung, die Soldaten nicht. Keine der Versprechungen der Regierung ist erfüllt worden.“

Ende Juni 1996 drohte die Vereinigung von Kriegsveteranen (Fundavisa) mit gewaltsamen Aktionen, und am 4. Juli besetzten rund hundert ehemalige Mitglieder der paramilitärischen Landpatrouillen, die vor dem Krieg zur Kontrolle und Unterdrückung der Bevölkerung gegründet worden waren und während des Konflikts als Hilfstruppen für die Streitkräfte eingesetzt wurden, eine Nebenstelle des Verteidigungsministeriums. Sie forderten ihren Anteil am Friedensabkommen, in dem sie vergessen worden sind.5 Eine gefährliche Situation, die man im Zusammenhang mit dem allgemeinen Unsicherheitsgefühl sehen muß, unter dem das Land leidet.

In äußerstem Elend versuchen sie auf dem Stückchen Land, das sie ergattern konnten, zu überleben. Ein lächerlicher Flecken, aber wenigstens etwas Greifbares. Ein bescheidenes Häuschen in Massivbauweise, ein wenig Boden, Kredite – das ist schon zu viel in den Augen der Bourgeoisie, die sich entrüstet: „Mein Auto wurde während der Offensive 1989 von Schüssen durchlöchert! Und niemand hat mir das je ersetzt!“ Aber auch aus der Sicht Zehntausender Salvadorianer, der großen Masse armer Menschen, Bauern vor allem, ist es zu viel. Sie haben den Sturm vorüberziehen lassen, mit angesehen, wie Brücken oder Telefonleitungen in die Luft flogen, haben ihr baufälliges Häuschen, eine Ernte oder ein paar Kühe verloren, manchmal auch einen Angehörigen oder ein Kind. Endlich kommt der Frieden, und mit ihm – die bevorzugte Behandlung der Kriegführenden. „Sie haben das Land zerstört und werden nun dafür belohnt. Und ich gehe leer aus.“ In den Gemeinden, die Unterstützung von einer der zahlreichen NGOs erhalten, gelingt es den ehemaligen Kämpfern, nach und nach ihre Probleme zu „bewältigen“, Ansätze einer Infrastruktur aufzubauen. Spannungen mit der übrigen Bevölkerung entstehen. Die politische Reform ist noch zu fern – dafür kann man sich nichts kaufen. Für den FMLN, der durch die kürzlich erfolgte Spaltung geschwächt ist, eine verheerende Situation.

Seit 1983 gab es im FMLN zwei Flügel, einen sozialdemokratischen, der aus der Revolutionären Volksarmee (ERP) und dem Nationalen Widerstand (RN) bestand, und einen marxistischen, der die Volksfront zur Befreiung (FPL), die Kommunistische Partei (PC) und die Revolutionäre Zentralamerikanische Arbeiterpartei (PRTC) umfaßte. Dennoch akzeptierten alle diese Gruppierungen 1987 das Prinzip einer „demokratischen Revolution“ – den programmatischen Inhalt der späteren Verhandlungen –, das an die Stelle der „sozialistischen Revolution“ treten sollte. Doch im Hintergrund gingen die Auseinandersetzungen weiter. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, konnte Joaquin Villalobos, der ehemalige Führer der militärisch bedeutendsten Teilorganisation ERP, der selbst nie an das Sowjetmodell geglaubt hatte, triumphierend ausrufen: „Wir haben recht gehabt!“

Das Bündnis hielt trotz der Spannungen bis zur „Jahrhundertwahl“ 1994, in der der FMLN zwar nicht den Präsidenten stellen konnte, aber mit 21 Abgeordneten in das 84 Mitglieder zählende Parlament einzog. Doch die Spaltung stand kurz bevor. Für die Präsidentschaftswahlen strebten ERP und RN ein breites Bündnis mit den Christdemokraten unter deren Kandidaten Abraham Rodriguez an. Doch die anderen Teile der Bewegung setzten Ruben Zamora durch, einen langjährigen Verbündeten aus der demokratischen Linken. Im September 1994 spalteten sich ERP und RN vom FMLN ab, gründeten die Demokratische Partei und übernahmen sieben Abgeordnete, die als FMLN- Vertreter gewählt worden waren.

Der Bruch erschütterte die ehemaligen Kämpfer. „Denn ob man es will oder nicht, im Verlauf des Krieges sind nicht nur politische, sondern auch freundschaftliche Beziehungen entstanden“, betont Raúl Mijango, der ursprünglich im ERP war und im FMLN geblieben ist. „Die Compañeros haben einander nach und nach die Familie ersetzt. Sie sind zu mehr als bloßen Kampfgenossen geworden.“

Im übrigen sind Joaquin Villalobos und Eduardo Sancho de facto nur Kader gefolgt. Der Großteil der Guerilleros an der Basis ist dagegen dem FMLN treu geblieben. „Wir wollen von einem ungezügelten zu einem menschlichen Kapitalismus übergehen“, erklärt Eduardo Sancho von der Demokratischen Partei. „Der FMLN glaubt, man müsse polarisieren, um das Land voranzubringen, was in Wirklichkeit jedoch nur den Rechten nützt. Wir treten für ein linkes Zentrum ein und für ein Bündnis mit den Christlich-Sozialen, den verschiedenen Wirtschaftssektoren und der Arbeiterschaft.“

Ressentiments gegen die ehemaligen Genossen

DER von der traditionellen Linken – der „Jurassic-Linken“, wie sie in der Demokratischen Partei inzwischen genannt wird – als Frevel betrachtete Versuch vom Juni 1995, mit der Rechten in Politik und Wirtschaft den sogenannten „Pakt von San Andrés“ zu schließen, ist indessen gescheitert. „Die [regierende] Arena-Partei wird von einer äußerst konservativen Rechten dominiert“, analysiert Eduardo Sancho, „und diese unterdrückt die fortschrittlicheren Rechten.“ Er lächelt und fügt bekräftigend hinzu: „Nur weil es auf der Linken wie auf der Rechten Konservative gibt, sind noch lange nicht alle Konservativen Rechte!“

Seitens des FMLN stellt Shafik Handal bedächtig fest: „Es hat Krieg gegeben, und wir sind nach wie vor der Feind. Dieses Problem läßt sich nicht durch die Bildung eines Zentrums lösen. Schon gar nicht, wenn man berücksichtigt, daß unser Programm genaugenommen weder radikal noch extremistisch ist. Plötzlich läßt die programmatische Auseinandersetzung einen äußerst geringen Spielraum zu.“

Der FMLN ist zwangsläufig eine Ersatzlösung. Und das um so mehr, als die ehemaligen Genossen begriffen haben, daß das Friedensabkommen nicht gleich das Ende der Geschichte Salvadors bedeutet, sondern nur das Ende einer bestimmten Form von Kampf, und daß es neue Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Veränderung bietet. Nach und nach erkennen sie, daß sie dort, wo sie heute leben, eine wichtige Rolle in der Stärkung der lokalen Organisationen spielen und gleichzeitig Wege zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse suchen können. Das wirkt wieder mobilisierend.

Auf jeden Fall ist die Auseinandersetzung zwischen den früheren Genossen oft heftig. Die wütende Verfluchung „Villalobos, Verräter!“ wird mit wildesten Beschimpfungen über „den dogmatischen FMLN, den man ja zur Genüge kennt“, gekontert. Die Demokratische Partei vermittelt den Eindruck, in konkreten Fragen ziemlich rasch die Praktiken der Neoliberalen übernommen zu haben. In Segundo Monte, Provinz Morazan, beispielsweise. In dieser Gemeinde leben zurückgekehrte Flüchtlinge aus Honduras, die über Jahre hinweg stets einen wichtigen zivilen Rückhalt für den ERP darstellten. 1989 riskierten die Bewohner, ohne zu wissen, ob sie „dem Tod oder dem Leben entgegengingen“, die Rückkehr und folgten damit dem ausdrücklichen Appell von Joaquin Villalobos, der diesen Schritt als strategisch-politisches Ziel betrachtete. Nach harten, mutigen Auseinandersetzungen war es den rund 8000 Menschen mit Hilfe internationaler Unterstützung gelungen, eine in vieler Hinsicht vorbildliche Gemeindestruktur aufzubauen und eine Reihe von selbstverwalteten Kollektiven zu gründen, deren (schmaler) Ertrag allen gleichermaßen zugute kam.

„Nach den Friedensabkommen haben uns die Leute vom ERP gesagt, wir müßten uns an das individuelle Leben gewöhnen, und die Betriebe müßten privatisiert werden“, erzählt die Sekretärin des Gemeindeverbandes, Rosalia Argueta, der man den Schock noch immer anmerkt. Davon profitiert haben ehemalige Guerillaführer, die inzwischen zur Sozialdemokratie übergewechselt sind. Die Ressentiments entsprechen der Enttäuschung. „Sie haben die soziale Basis, die im Krieg für sie wichtig war, im Stich gelassen!“ Seither ist die Mehrheit der Gemeindeanwohner zum FMLN übergewechselt. Tatsache ist auch, daß sich die Demokratische Partei im politischen Alltag in ihrem Bemühen, ein Zentrum aufzubauen, mangels repräsentativer Verbündeter nur zu oft auf die Seite der Rechten schlägt.

Einer Rechten, die davon träumt, aus Salvador einen zentralamerikanischen „Tiger“ nach asiatischem Vorbild zu machen. Die nur mehr auf Freihandelszonen und die Eingliederung in den Markt schwört. Einer Rechten, die die Privatisierungen vorantreibt, wovon vor allem die herrschenden Wirtschaftseliten profitieren. Die nur den Export stützt, während sie sich um Arbeiter, Bauern, Kleinunternehmer oder Ausgegrenzte nicht kümmert, und die diese Politik mit dem klassischen Argument rechtfertigt, man müsse den Kuchen erst vergrößern, bevor man ihn aufteilen könne. Einer Rechten, die die Wahlreform hinauszögert, die nach und nach wieder die zweifelhaftesten Elemente aus den ehemaligen Unterdrückungseinheiten in die nationale Zivilpolizei einschleust. Während die Todesschwadronen wieder auftauchen, Arm und Reich unter der bedrückenden Unsicherheit leidet und die Bevölkerung langsam, aber sicher in Armut versinkt.

dt. Birgit Althaler

1 Vgl. Erika Julien, „Divisions chez les anciens guérilleros salvadoriens“, Le Monde diplomatique, Juni 1994.

2 Im FMLN waren seit 1980 fünf bewaffnete Organisationen vertreten: die Fuerzas Populares de Liberación (FPL), das Ejercito Revolucionario Popular (ERP), die Kommunistische Partei (PC), die Resistencia Nacional (RN) und der Partido Revolucionario de los Trabajadores Centroamericanos (PRTC).

3 In ganz El Salvador gibt es 1726 Fälle von ehemaligen Kämpfern, die noch nicht geklärt wurden (222 Soldaten, 421 FMLN-Mitglieder und 1083 tenedores); Angaben nach dem Programm zur Übertragung von Boden (PTT), San Salvador, Mai 1996.

4 Als einziger relativer Erfolg kann das nach dem Friedensabkommen ausgehandelte Programm gesehen werden, von dem 600 mittlere Kader der ehemaligen Guerilla profitieren und das ihnen den Zugang zu Krediten, Wohnbeihilfe und eine bessere Ausbildung ermöglicht.

5 Im Januar 1995 wurde eine gemeinsame Demonstration von über tausend ehemaligen Kämpfern aus Armee und FMLN, unter denen sich zahlreiche Kriegsinvaliden befanden und die auf der Zahlung der versprochenen Abfindungen beharrten, von Sondereinheiten der Aufstandsbekämpfung brutal unterdrückt. Dabei gab es fünfzig Verletzte. Schon im September 1994 hatte eine Gruppe von ehemaligen Militärs die gesetzgebende Versammlung gestürmt.

Journalist und Autor

Le Monde diplomatique vom 13.09.1996, von Maurice Lemoine