Öl plus Nationalismus: eine leicht entflammbare Mischung
DIE Machtverhältnisse in Rußland sind ungesichert, nicht zuletzt wegen des besorgniserregenden Gesundheitszustands von Boris Jelzin. Bei den Wahlen hatte man die Öffentlichkeit in dieser Hinsicht getäuscht, nun stellt sich nach wenigen Wochen erneut die Frage, wer Präsident werden soll. Gestärkt durch das gute Abschneiden ihres Kandidaten Gennadi Sjuganow fordern die Kommunisten Neuwahlen. Im Kreml ist derzeit ein heftiger Machtkampf im Gange, die wichtigsten Konkurrenten sind Wiktor Tschernomyrdin, Anatoli Tschubajs und Alexander Lebed. Lebed konnte dabei Pluspunkte sammeln, weil er eine wichtige Rolle bei der vorläufigen Beilegung des Tschetschenienkonflikts spielen konnte, der die gesamte Kaukasusregion erschüttert.
Von VICKEN CHETERIAN *
In Dagestan hält man den Atem an. Seit zwei Jahren lebt das zwischen Aserbaidschan und Tschetschenien liegende Land mit der Angst vor einer Ausweitung des Krieges auf sein Gebiet. Die Regierung der autonomen russischen Republik bleibt loyal gegenüber Moskau, verhält sich aber in dem Konflikt neutral, schon weil sie sonst den offenen Ausbruch von Feindseligkeiten in der eigenen, multi-ethnischen Bevölkerung befürchten müßte. Folglich gewährt sie den „Blutsbrüdern“ in Tschetschenien keine Unterstützung, versucht aber gleichzeitig zu verhindern, daß die russische Armee von dagestanischem Territorium aus Angriffe gegen die Separatisten führt.
Bei den Bergstämmen ist es ein uraltes Gesetz, daß sie fremden Armeen den Durchzug verwehren, wenn diese gegen ihre Nachbarvölker zu Felde ziehen. Im 19. Jahrhundert war Dagestan, die Heimat des Imam Schamil, eine Hochburg der Aufstandsbewegung der Kaukasusvölker gegen die Armeen des Zaren. Damals nahm das Land 40000 Akinen auf, wie die Tschetschenen von Dagestan genannt werden. So richteten sich die Aufrufe aus Grosny zur Solidarität und zum Widerstand gegen die „fremden Invasoren“ denn auch besonders an die Volksgruppen Dagestans, ohne allerdings großen Widerhall zu finden. Die Führung der autonomen Republik muß aber auch befürchten, daß Moskau versucht, die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen auszunutzen. Gebietsstreitigkeiten gibt es genug, etwa zwischen den Akinen (die 1944 mit anderen Tschetschenen deportiert worden waren) und den Laken und Awaren.1
Die in Dagestan stationierten Truppen der Russischen Föderation haben dennoch Stellungen der Tschetschenen über die Grenze hinweg mit Artillerie beschossen und sogar einige Offensiven mit Bodentruppen durchgeführt. Im Gegenstoß sind tschetschenische Kampfverbände in die Grenzgebiete Dagestans vorgedrungen. „Die Operationen in Kiseljar und in Perwomaijskoje beweisen, daß es Pläne zur Destabilisierung Dagestans gibt“, meint der Informationsminister Sulaiman Chapalaijew. „Von verschiedenen Seiten versucht man, uns in den Konflikt hineinzuziehen.“
Die Geiselnahme in Kiseljar, im Januar 1996, hatte zunächst die öffentliche Meinung in Dagestan gegen die Tschetschenen aufgebracht und zu verschärften Spannungen zwischen Akinen und Awaren geführt. Aber das brutale Vorgehen der russischen Seite zu einem Zeitpunkt, als sich durch die Vermittlungsbemühungen Dagestans bereits eine Verhandlungslösung abzeichnete, hat einen deutlichen Stimmungsumschwung gegen Moskau bewirkt.
Seit zwei Jahren erlebt die Republik eine regelrechte Blockade: Alle wichtigen Kommunikationsstränge (Eisenbahnlinien, Straßen, Telefonleitungen) sind unterbrochen, weil sie durch Tschetschenien führen. Und die Südgrenze des Landes wird von russischen Truppen streng überwacht, mit dem Ziel, jegliche Waffenlieferungen aus Aserbaidschan zu unterbinden.
Zehntausende von Tschetschenen sind nach Dagestan geflohen und wurden dort von Verwandten aufgenommen oder in Hotels und Schulen untergebracht. Schon unter der Sowjetherrschaft gehörte das Land zu den unterentwickelten Gebieten, jetzt nehmen Armut und Arbeitslosigkeit zu, und es kommt regelmäßig zu Cholera- Epidemien. Auch die Kriminalität hat ein beunruhigendes Ausmaß angenommen. Zu ihren Opfern gehörte zuletzt der Finanzminister Hamid Hamidow, der von einer Bombe getötet wurde, nachdem er gerade eine Ermittlungung wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder eingeleitet hatte.
„Derzeit stützen die nationalen Bewegungen die staatliche Einheit, nur die Kumücken und die Lesgier bilden eine Ausnahme“, erklärt Magomedchan Magomedchanow, ein Historiker, in Mahatschkala, der Hauptstadt von Dagestan. Die Lesgier leben teils in Aserbaidschan und teils auf dem Territorium der Russischen Föderation; aus diesem Grunde waren sie über die Abriegelung der dagestanischen Südgrenze sehr aufgebracht. Nariman Ramanasow, der Führer der lesgischen Bewegung Savdal (Einheit), der als Urheber einer Serie von Bombenanschlägen in Baku gilt, wurde am 11. Juli von der aserbaidschanischen Polizei verhaftet. Sofort kam es im Süden Dagestans zu Kundgebungen, auf denen seine Freilassung gefordert wurde; als dann ein bewaffnetes lesgisches Kommando vier aserbaidschanische Offiziere entführte, wurde der prominente Gefangene freigelassen.
Bislang ist es Moskau gelungen, zu verhindern, daß ein weiterer Konflikt ausbricht, der die russischen Pläne des Erdölexports vom Kaspischen Meer zunichte machen könnte: Die Pipeline von Baku nach Noworussijsk führt nämlich zunächst durch die Siedlungsgebiete der Lesgier und sodann durch Tschetschenien.2
Durch den Krieg in Tschetschenien hat sich auch die Situation in Inguschetien zugespitzt. In dieser kleinen Republik der Russischen Föderation gibt es inzwischen ebensoviele Flüchtlinge wie Einwohner.3 Die erste Flüchtlingswelle resultierte aus den Auseinandersetzungen zwischen Osseten und Inguschen im Oktober und November 1992 in Nordossetien; später kamen dann weitere Vertriebene aus Tschetschenien hinzu. Nach langwierigen Verhandlungen fanden der inguschetische Präsident Ruslan Auschew und sein ossetischer Kollege Achsarbek Galasow 1995 endlich zu folgender Übereinkunft: Nordossetien sollte den geflohenen Inguschen die Rückkehr in ihre Heimat erleichtern, im Gegenzug wollte Inguschetien auf seine Gebietsansprüche gegenüber den Osseten in der Region von Prigorodni verzichten.
Bislang jedoch scheinen sich beide Seiten nicht an die Abmachungen halten zu wollen: Die Flüchtlinge, die zurückgekehrt sind, haben in Nordossetien unter ständigen Übergriffen zu leiden; und Inguschetien hat Ende 1995 eine neue Verfassung verabschiedet, in der die Region von Prigorodni als Teil des Staatsgebiets ausgewiesen ist.
Im Juli 1996 haben die inguschetischen Behörden sogar erste Schritte zu einer Zwangsrücksiedlung der Flüchtlinge unternommen: Sie drohten damit, die internationalen Hilfslieferungen nur noch an Flüchtlinge zu verteilen, die sich wieder an ihren Herkunftsorten aufhalten. Tatsächlich sind viele mit Bussen in die Dörfer im Grenzgebiet, wie Maijskoje und Scharman, gebracht worden, wo es 1992 unter den Augen der Polizei und der Bundestruppen zu gewaltsamen Übergriffen gekommen war.
„Die Sowjetunion hat einen riesigen Militärapparat hervorgebracht“, erklärt der nordossetische Parlamentsabgeordnete Juri Sidakow, „aber Mechanismen der friedlichen Regelung hat er nicht geschaffen. Um zu verhindern, daß es zu neuen Auseinandersetzungen kommt, sollte sich die Rückkehr der geflohenen Inguschen nach Nordossetien nur allmählich und schrittweise vollziehen.“
Die öffentliche Meinung Nordossetiens steht nicht nur der Rückkehr der Inguschen skeptisch gegenüber, sondern auch der Rückführung der Flüchtlinge aus Südossetien, die heute im Norden leben. In Wladikawkas hört man oft das Argument, während der Kämpfe von 1992 seien die schlimmsten Verbrechen an den Inguschen auf das Konto von Osseten aus dem Süden gegangen. Die Spaltung zwischen dem Süden und dem Norden Ossetiens ist nicht zu übersehen: Den Krieg gegen Georgien hatten die Südosseten, deren autonome Republik zu Georgien gehört, im Namen der Vereinigung mit dem Norden geführt. Aber der Norden, der ein Teil der Russischen Föderation ist, wollte die Vereinigung gar nicht, denn in ihren Augen ist jede Änderung der Grenzen ausgeschlossen.
Nun fürchten die ossetischen Nationalisten, daß Ludwig Schibirow, der neue Führer des Südens, sich dem Druck von außen beugt und einen Friedensvertrag mit Georgien unterzeichnet. Diese Befürchtung wird auch dadurch genährt, daß die Initiatoren der nationalen Bewegung derzeit unter verschärften Druck geraten: Am 13. August hat ein Gericht in Tschchinwali Alan Schochiew, den früheren Präsidenten des südossetischen Parlaments und Führer der Bewegung Adamon Nijchas (Stimme des Volkes), wegen „Korruption und Machtmißbrauch“ zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die meisten der Leute, die Ende der achtziger Jahre in dieser Bewegung aktiv waren, sind inzwischen entweder im Exil oder im Gefängnis.
Die jüngsten Verhandlungen vom 27. August zwischen dem georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse und dem südossetischen Führer Ludwig Schibirow führten zu keiner Vereinbarung über den künftigen Status des Autonomen Gebiets Südossetien. Es wurde lediglich beschlossen, die Wirtschaftsbeziehungen wiederaufzunehmen. Schibirow hatte gleich zu Beginn für Verstimmung bei der georgischen Seite gesorgt, indem er in einem Zeitungsinterview erklärte, daß „die Einheit des ossetischen Volkes Wirklichkeit werden wird, wenn nicht heute, dann ganz gewiß in der Zukunft.“4 Aus Tiflis kam das Angebot, der autonomen Republik weitgehende Selbstverwaltungsrechte zu gewähren – größere als Abchasien, das immerhin eine föderative Republik innerhalb Georgiens ist.
Die schwierige Lage Abchasiens ist vor allem darauf zurückzuführen, daß seine beiden Hauptverbündeten im Unabhängigkeitskrieg gegen Georgien – die russische Armee und die Tschetschenen – inzwischen selbst zu Gegnern geworden sind. Um alle Truppenverschiebungen zu unterbinden, die der tschetschenischen Seite von Vorteil sein könnten5, haben die russischen Grenzstreitkräfte eine Land- und Seeblockade verhängt, die Abchasien von der Außenwelt abgeschnitten hat. Georgien wiederum würde sich gern mit Rußland gegen die „separatistischen“ Bestrebungen im gesamten Kaukasus verbünden.
Eduard Schewardnase hat stets betont, daß die Rebellionen in Abchasien und Tschetschenien viele Gemeinsamkeiten aufwiesen. Im Frühjahr 1996 unternahm Tschengis Kitowani, der frühere georgische Verteidigungsminister, der den Konflikt durch den Einmarsch in Abchasien ausgelöst hatte, auf eigene Faust einen erneuten Versuch, in die Region vorzudringen. Allerdings wurde dieses Abenteuer von Sondereinheiten der Polizei unterbunden, die Schewardnadse die Treue hielten, und Kitowani wurde verhaftet.6 Dem Präsidenten, der große Anstrengungen unternimmt, die Ordnung im Land wiederherzustellen, paßte offenbar ein erneuter Konflikt nicht ins Konzept. Er hat zwar wiederholt erklärt, daß er auch bereit sei, auf militärische Mittel zurückzugreifen, falls die Verhandlungen scheitern; aber er ist sich auch darüber im klaren, daß die georgische Armee einen solchen Feldzug derzeit nicht führen kann.
„Der Krieg in Tschetschenien hat die Georgier von der Fixierung auf das allmächtige Rußland befreit“, stellt Ghia Nodia fest, der das Kaukasische Institut für Frieden, Demokratie und Entwicklung in Tiflis leitet. Nach der Eroberung der abchasischen Hauptstadt Suchumi war man in Tiflis bereit gewesen, auf alle Forderungen aus Moskau einzugehen, also auch auf den Beitritt zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und auf die Einrichtung von vier russischen Militärstützpunkten auf georgischem Gebiet. Aber das Parlament wollte den Vertrag über die Militärbasen nur ratifizieren, wenn Rußland sich verpflichtete, die Wiedereingliederung Abchasiens in den georgischen Staat zu unterstützen. Und der georgische Außenminister machte sich sogar in Moskau und Kiew mit Forderungen bezüglich der Schwarzmeerflotte stark.7 Tiflis schlug außerdem Alternativen für die Streckenführung der neuen Pipelines vor, die ab kommendem Jahr das Öl vom Kaspischen Meer zu den Exporthäfen transportieren sollen.
Dennoch ist der politische Spielraum Georgiens begrenzt. Das zeigte zuletzt der Streit um die Aufgaben der 3000 Mann starken russischen Friedenstruppe in Abchasien. Nach dem Willen des Parlaments in Tiflis sollte sie die Sicherheit der georgischen Flüchtlinge garantieren, die nach Abchasien zurückkehren, doch die russische Armee lehnte diese Aufgabe ab.8 Offiziell tritt Rußland für die nationale Einheit Georgiens ein, aber zugleich möchte man nur zu gerne jeden Ärger mit den Abchasen vermeiden.
Die russische Führung weiß sehr genau zwischen Tschetschenien und Abchasien zu unterscheiden: Im einen Fall handelt es sich um die Bedrohung der russischen Vorherrschaft über den Kaukasus und die strategischen Verbindungswege, im anderen Fall dagegen um ein willkommenes Mittel, die Autonome Republik Georgien weiter in Abhängigkeit zu halten.
Die Beziehungen zwischen Aserbaidschan und seinem Nachbarn im Norden sind äußerst komplex. Es gibt zahlreiche ungelöste Probleme: die Rechte an der Ausbeutung des Kaspischen Meers, vor allem was die Erdöl- und Erdgasvorkommen angeht, die Routen der künftigen Pipelines und die Frage der Einrichtung russischer Militärstützpunkte auf aserbaidschanischem Territorium.
Aus Baku kommen zu all diesen Punkten immer neue widersprüchliche Stellungnahmen. So hat zum Beispiel Natik Alijew, der Präsident der nationalen Ölgesellschaft, die russische Hafenstadt Noworussijsk zum idealen Ausgangsort der Ölpipelines erklärt. Zwei Tage zuvor hatte er jedoch geäußert, Aserbaidschan werde sich verstärkt um die Einrichtung einer Pipeline zwischen Baku und dem georgischen Hafen Supsa bemühen, falls die Eskalation des Tschetschenien-Konflikts anhalte.9 Ein taktisches Manöver? Oder das erste Anzeichen einer neuen Kraftprobe? Seit die Tschetschenen ihre Hauptstadt Grosny zurückerobert haben, ist jedenfalls die Frage wieder offen, ob das Erdöl durch russisches Gebiet in die Häfen gelangen kann.
Wird der Erfolg des tschetschenischen Widerstands neue Unabhängigkeitsforderungen im gesamten Nordkaukasus nach sich ziehen? Das wichtigste Organ zur Organisierung der Auflehnung ist die Konföderation der Kaukasusvölker (CPC). Allerdings erlebt sie derzeit „eine ernste Krise, die durch den Krieg in Tschetschenien ausgelöst wurde“, meint Waleri Chatajukow, ein kabardinischer Unabhängigkeitskämpfer, der zum Führungskreis der CPC gerechnet wird. „Dem russischen Geheimdienst ist es gelungen, die Organisation zu unterwandern, sie zu spalten und einzuschüchtern.“ Einige Fraktionen sind bereits ausgetreten, weil sie keine Handlungsmöglichkeiten mehr sahen; Jusub Suslambekow, der neue Präsident der Konföderation, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, sich mit Moskau arrangiert zu haben. Während des Abchasienkonflikts war die Organisation noch aktiv an den Kämpfen beteiligt, heute ist sie damit beschäftigt, sich als Interessenvertretung der Völker des Nordkaukasus neu zu konstituieren.
Angesichts der widersprüchlichen Interessenlagen kommt diese Entwicklung nicht überraschend: Tschetschenien kämpft gegen Rußland um die Unabhängigkeit, Abchasien und Süd-Ossetien befinden sich im Kriegszustand mit Georgien und würden gern der Russischen Föderation beitreten, andere Kaukasusvölker sind zwar solidarisch mit den Tschetschenen, Abchasen und Osseten, möchten aber die Föderation eigentlich nicht verlassen. Im 19. Jahrhundert wirkte der Islam als entscheidende Triebfeder der Rebellion und als verbindendes Element aller Bergvölker im Nordkaukasus. Inzwischen sind jedoch die nationalen Einzelinteressen bestimmend: Jedes Land kämpft für seine eigenen Ziele.
Überall verschärfen sich die Konflikte
SEIT den achtziger Jahren ist die Unruhe im Kaukasus vor allem eine Folge von Grenzstreitigkeiten. Nach Jahren gewaltsamer Veränderungen hat sich das Problem nur verschärft. Heute gibt es eine Reihe halbstaatlicher Gebilde, die international nicht anerkannt sind, aber über beträchtliche militärische Schlagkraft verfügen.10 Durch die Hunderttausende Flüchtlinge wird die Situation weiter erschwert: Diese wirtschaftlich und sozial deklassierten Schichten sind bereit, sich auf jede radikale Lösung, auch auf militärische Abenteuer, einzulassen, um sich aus ihrer elenden Lage zu befreien. Die Flüchtlinge sind zu demoralisiert und leben zu verstreut, um zur eigenständigen politischen Kraft zu werden, aber aus ihren Reihen könnten sich die Kämpfer für die Schlachten der Zukunft rekrutieren.
Die Masse der bis vor kurzem politisch noch sehr aktiven Bevölkerung hat inzwischen alle Ambitionen aufgegeben und ist vor allem damit beschäftigt, dem drastischen Verfall des Lebensstandards zu begegnen.11 In Zukunft werden die Konflikte vielleicht nicht mehr zwischen kämpferischen Nationalisten ausgetragen, sondern es wird um die Energievorkommen am Kaspischen Meer gehen, und die Kontrahenten wären dann Rußland, die Ölländer (wie Aserbaidschan, aber auch Kasachstan und Turkmenistan) und die westlichen Firmenkonsortien.
Das Abkommen zwischen General Lebed und Aslan Maschadow, dem Führer der Separatisten, hat nicht nur keine Gewißheit über die Zukunft Tschetscheniens gebracht, es verstärkt letzten Endes sogar die Unsicherheit in der gesamten Kaukasusregion. Das russische Eingreifen im Dezember 1994 hat zwar den Nordkaukasus zum Schlachtfeld gemacht, aber immerhin auch dazu geführt, daß die Konflikte in Transkaukasien vorerst stillgestellt sind.
Hat Rußland in den zwei Jahren des Tschetschenienkrieges seine Lektion gelernt? Hat man begriffen. daß sich nationalistische Maximalforderungen nicht mit Waffengewalt durchsetzen lassen? Oder ist zu befürchten, daß die Niederlagen eine noch härtere Haltung bewirken und daß die russischen Herrschaftsansprüche im Kaukasus noch brutaler eingelöst werden? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die Verlockungen des Petrodollar, die den neuen Eliten winken, eine befriedende Wirkung haben werden oder ob der neue Reichtum, ähnlich wie am arabisch-persischen Golf, nur dazu dienen wird, weitere Kriege zu finanzieren.
dt. Edgar Peinelt
1 Siehe Karel Bartak, „Sanglants paris de M Boris Eltsine en Tchétchenie“, Le Monde diplomatique, Januar 1995.
2 Siehe Nur Dolay, „Rußland pokert mit kaukasischem Erdöl“, Le Monde diplomatique, Juli 1995.
3 Nach den Angaben des Welternährungsprogramms sind es derzeit 140000.
4 Nesawissimaja Gaseta, Moskau, 7. August 1996.
5 Einige tausend tschetschenische Kämpfer nahmen auf seiten der Abchasen an der Auseinandersetzung mit Georgien teil; sie wurden geführt von Schamil Bassajew, einem der wichtigsten tschetschenischen Kommandanten der Region, der auch die Geiselnahme im Krankenhaus von Budjonnowsk leitete. Siehe Vicken Cheterian, „Les mille et une guerres du Caucase“, Le Monde diplomatique, August 1994.
6 Kitowani soll sich bei seinem Vorhaben der Unterstützung durch russische Agenten versichert haben, siehe Moscow News, 19.-25. Januar 1996.
7 Siehe Open Media Research Institute (OMRI), Daily Report, Prag, 4. September 1996.
8 Die abchasischen Behörden wollen eine Rückführung der Flüchtlinge lediglich in der Region Gali zulassen, die auch vor dem Krieg von Georgiern bewohnt war. Nach abchasischen Angaben sind bereits 60 Prozent der Geflüchteten zurückgekehrt, die Russen sprechen von 50 Prozent, die Georgier von 33 Prozent.
9 Iswestija, Moskau, 14. August 1996.
10 Das gilt für Tschetschenien, Abchasien, Süd- Ossetien und Nagorny-Karabach.
11 Die Nachrichtenagentur Itar-Tass stellt fest (27. Juli 1996), daß im Verlauf der letzten fünf Jahre zwischen 800000 und 1000000 Menschen (rund 20 Prozent der Bevölkerung) Georgien verlassen haben – zumeist aus wirtschaftlichen Motiven. Ähnliche Entwicklungen sind in Aserbaidschan und Armenien zu beobachten.
* Journalistin