Fünf Ansatzpunkte für eine neue Beschäftigungspolitik
ALLEN Widerständen zum Trotz exekutiert der französische Premierminister Alain Juppé unbeirrt die Sparpolitik von Staatspräsident Jacques Chirac, die dieser im Oktober 1995 verkündet hat – unter Mißachtung aller Versprechungen, die ihm seinen Wahlerfolg gesichert hatten. Ohne Rücksicht auf das wirtschaftliche und soziale Fiasko, das durch diese Politik bereits entstanden ist, wird sie der Öffentlichkeit als „der einzig mögliche Weg“ präsentiert. Dabei haben Hunderttausende Menschen im November und Dezember 1995 ihre Ablehnung durch Streiks bekundet und nach neuen Visionen verlangt. Obwohl sich die politische Linke tatenlos im Hintergrund hält, wächst seither die Forderung nach neuen Lösungen. Allerorten wird Widerspruch laut. Die „andere Politik“ ist kein Hirngespinst.
Von LIEM HOANG-NGOC und PIERRE-ANDRÉ IMBERT *
In Europa, und vor allem in Frankreich, ist die neoliberale Politik mit ihrem Latein am Ende. Dabei ist sie in sich durchaus stimmig: Der staatliche Einfluß wird zurückgedrängt, die direkten Steuern für die „vitalen Kräfte“ des Landes werden gesenkt, zugleich aber die indirekten Steuern angehoben, von denen die Armen proportional stärker betroffen sind als die Reichen; die Gewinne werden weiter zugunsten der Unternehmer und zu Lasten der Angestellten umverteilt, die Kapitalströme können ungehindert fließen, die Arbeitskosten werden gesenkt, „irreguläre“ Beschäftigungsverhältnisse immer lockerer toleriert.
Diese Politik ist auf das Fernziel einer europäischen Währungsunion ausgerichtet. Doch durch die bewußte Drosselung der geld- und haushaltspolitischen Maßnahmen, die das Wachstum ankurbeln könnten, wird eine deflationistische Spirale in Gang gesetzt, die zur stärksten Rezession der Nachkriegszeit führen könnte. In Frankreich werden die Sparpolitik und die anhaltend restriktive Lohnpolitik dazu führen, daß öffentliche und private Nachfrage weiter nachlassen und die Arbeitslosigkeit steigt. Zurückgehende Steuereinnahmen werden automatisch das Haushaltsdefizit vergrößern, höhere Abgaben erforderlich machen, folglich die Nachfrage dämpfen, und so weiter.
Es handelt sich schlichtweg um einen Teufelskreis, bei dem zu geringes Wachstum und zunehmende Arbeitslosigkeit die Defizite immer weiter erhöhen, statt sie abzubauen. Damit läuft man Gefahr, die haushaltspolitischen Konvergenzkriterien zu verfehlen, die laut Maastrichter Vertrag für den Beitritt zur Einheitswährung bis 1999 erfüllt sein müssen.
Angesichts dieser Sackgasse haben führende Vertreter der Linken wie der Rechten die Diskussion um eine „andere Politik“ neu entfacht.1 Da aber gemeinhin niemand ausführt, wie eine solche andere Politik beschaffen sein soll, könnte die Öffentlichkeit leicht auf die Idee kommen, daß sie gar nicht existiert. So erscheint vielen das Ende der Vollbeschäftigung als unausweichlich und nur eine sozialverträgliche Umverteilung des Mangels zur Debatte zu stehen: Wenn die Tendenz anhält, daß bei der Produktion von immer mehr Gütern und Dienstleistungen im privatwirtschaftlichen Bereich immer weniger Arbeit anfällt, müssen folglich für die Freigesetzten andere Formen gesellschaftlicher Integration im „nichtwirtschaftlichen“ Bereich gefunden werden. Bevor man solche Überlegungen ins Auge faßt, sollte man jedoch die politischen Möglichkeiten ausloten, die sich auf der im engeren Sinne „wirtschaftlichen“ Ebene bieten.
Auch hier ist eine „andere Politik“, die Vollbeschäftigung und Lohngerechtigkeit innerhalb wie außerhalb der Unternehmen beinhaltet, weder undefinierbar noch unrealistisch. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist ja nicht nur eine Folge des technologischen Wandels, der in massivem Umfang Arbeitsplätze vernichtet, sondern vor allem eine Folge der mangelnden Nachfrage.2 Um Investitionen und Konsum anzukurbeln, muß man folglich an fünf Punkten gleichzeitig ansetzen.
Erster Ansatzpunkt: die französische Geldpolitik, die gelockert werden muß, so daß die realen Zinsen wieder auf Null sinken, selbst wenn dabei die Parität zwischen Franc und D-Mark neu definiert werden muß.3 Zwar sind die Zinssätze in den letzten Monaten gesunken, doch liegen sie mit mehr als 10 Prozent für Überziehungs- beziehungsweise Verbraucherkredite und mit 8 Prozent für Wohnungsbaudarlehen immer noch viel zu hoch und bremsen Investitionen und Konsum. Die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbanken, die sich mehr um Preisstabilität als um die Lage am Arbeitsmarkt kümmern, kann den Abwärtstrend der Zinsen nur verzögern, nicht aufhalten. Die durch den Maastrichter Vertrag erforderliche Privatisierung der Banque de France zeigt bereits höchst problematische Folgen.4 Anstatt nun aber deren Gouverneur Jean- Claude Trichet Vorwürfe zu machen, hätten ihm die Sozialisten und die Vertreter der aktuellen politischen Mehrheit besser nicht die Befugnisse übertragen, die er jetzt in durchaus vorhersehbarer Weise nutzt. Insofern ist es dringend notwendig, durch Gesetzesinitiativen der politischen Führung – und damit in letzter Instanz den Bürgern – die Kontrolle über die Geldpolitik zurückzugeben, damit sie die Wirtschaft in der Rezession ankurbeln kann.
Zwar ist die Senkung der Zinsen eine notwendige Bedingung für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, doch reicht sie bei weitem nicht aus, schon gar nicht, wenn sie mit einer restriktiven Haushalts- und Lohnpolitik einhergeht. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Entschuldung der Unternehmen – ihre Selbstfinanzierungsrate liegt derzeit bei mehr als 110 Prozent – wird man das größte Hindernis für neue Investitionen weniger in den Kreditkosten als in der schwachen Auftragslage suchen müssen.
Zweiter Ansatzpunkt: die Haushaltspolitik, die in den Dienst der Beschäftigung gestellt werden muß. Hierzu gilt es, von der obersten Devise „Senkung der Defizite“ abzugehen. Auch bei der Verteilung der Haushaltsmittel gibt es deutliche Spielräume. So könnte man beispielsweise die Summen in zweistelliger Milliardenhöhe umleiten, die zur Senkung der Arbeitskosten gedacht sind (Freistellung von Sozialabgaben, Einstellungsprämien etc.) und die ohnehin nicht besonders wirksam sind. Jüngste Untersuchungen des Französischen Amts für Konjunkturforschung (OFCE) haben gezeigt, daß es in Frankreich kein durch mangelnde Budgetdisziplin verursachtes strukturelles Haushaltsdefizit gibt.5 Die Staatsverschuldung liegt mit rund 55 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) sogar unter dem durch den Maastricht-Vertrag geforderten Niveau von 60 Prozent.
Die aktuellen Defizite resultieren in erster Linie aus einem verlangsamten Wirtschaftswachstum, das wiederum Ergebnis der allgemeinen liberalen Wirtschaftspolitik ist. Wären die Ausgaben der öffentlichen Hand gezielt zur Unterstützung der Wirtschaft eingesetzt worden, hätte sich diese zweifelsohne spürbar erholen und für zusätzliche Steuereinnahmen sorgen können. Dagegen bewirken die zahlreichen Haushaltskürzungen und der Stellenabbau in der Verwaltung und bei den staatlichen Unternehmen wegen ihrer Rezessionswirkung (die vom OFCE 1996 auf 1,2 Prozent und 1997 auf 0,6 Prozent geschätzt wird), daß sich die Defizite, zu deren Abbau sie gerade beitragen sollen, noch weiter vergrößern.
Diverse Modellkalkulationen demonstrieren, daß zu einer Konjunkturbelebung geeignete geld- und haushaltspolitische Schritte (die natürlich auf europäischer Ebene abgestimmt werden müssen) auf der Basis der vorhandenen Produktionskapazitäten eine Wachstumsrate von rund 5 Prozent ermöglichen und damit selbst den harten Kern der Arbeitslosigkeit knacken könnten. Allerdings müßten die Fünfzehn den Mut aufbringen, die im Vertrag von Maastricht vereinbarten haushaltspolitischen Konvergenzkriterien in Frage zu stellen.6
Dritter Ansatzpunkt: die Löhne. Immer noch wird gefordert, die Lohnsteigerung von der Preisentwicklung, aber auch von der Produktivität abzukoppeln. Diese Idee hat bereits bewirkt, daß zwischen 1983 und 1995 die Verteilung des Mehrwerts zugunsten der Unternehmergewinne und zu Lasten der Arbeit verschoben wurde. Damit liegt der Anteil der Löhne am Mehrwert heute niedriger als vor dem Mai 1968. Da zudem die Produktionskapazitäten noch bei weitem nicht ausgelastet sind, haben sich die inflationären Tendenzen verflüchtigt.
Nun gibt es allerdings das Argument, höhere Löhne würden die Spartätigkeit und nicht den Konsum anregen, da das „Vertrauen“ bei den Verbrauchern fehle. Seit Keynes ist aber allgemein bekannt, daß Lohnwachstum dann die größte Wirkung entfaltet, wenn es speziell auf die Haushalte mit niedrigem Einkommen zugeschnitten ist. Deren Konsumneigung ist um so größer, je weniger ihre grundlegenden Bedürfnisse befriedigt sind. Alain Juppé hat jedoch mit seiner fiskalpolitischen „Reform“, die genau die Einkommensschwachen benachteiligt, den entgegengesetzten Kurs eingeschlagen.
Eine Anhebung der Löhne kann von den Gewerkschaften schwerlich Branche für Branche und nach Maßgabe der jeweiligen Kräfteverhältnisse mit der Arbeitgeberschaft ausgehandelt werden. Zwar müssen Tarifverhandlungen eine zentrale Rolle spielen, aber der Staat kann immerhin Vorbildfunktion übernehmen, indem er erstens die Bezüge erhöht und die Unsicherheit im öffentlichen Sektor verringert, und zweitens den Mindestlohn spürbar anhebt. Dieser sollte sich an der Produktivitätssteigerung und der Exportpreisentwicklung orientieren, so daß ein Gleichgewicht zwischen der Außenhandelsbilanz und dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit erreicht werden könnte.
Vierter Ansatzpunkt: die Senkung der Arbeitszeit. Im Unterschied zur allgemeinen Tendenz blieb die gesetzliche Wochenarbeitszeit in Frankreich seit 1982 auf 39 Stunden festgeschrieben, während die Produktivität kontinuierlich gestiegen ist. Verschiedene makroökonomische Modelle zeigen, daß eine sofortige Senkung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden weitaus wirkungsvoller wäre als Maßnahmen zur Verringerung der Arbeitskosten, die gefährdete Arbeitsplätze und unqualifizierte Tätigkeiten im Dienstleistungsgewerbe rentabel halten sollen. Eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit könnte eine umfassende Dynamik zur Schaffung dauerhafter Vollzeit-Arbeitsplätze auslösen.
Die Löhne sind bereits so lange von der Produktivitätssteigerung abgekoppelt, daß dieses Kompensationsmodell durchaus realisierbar ist, vor allem, wenn es nur bei den niederen und mittleren Lohngruppen einen vollen Lohnausgleich gewährt.7 Die Lohnempfänger sind davon aber keinesfalls begeistert, lautet der berechtigte Einwand. Denn die Arbeitszeitverkürzung, die derzeit propagiert wird, läuft auf eine allgemeine Einführung einer „Langzeit-Teilzeitarbeit“ hinaus: auf den Übergang zur 32-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich. Zwar sind flexible Arbeitszeiten im Augenblick groß in Mode, doch zeigen Umfragen des Nationalen Instituts für Statistik und Wirtschaftsstudien (Insee), daß die Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten mehr arbeiten – und mehr verdienen – möchte. Der hohe Anteil von Teilzeitbeschäftigten ist in den USA, in Großbritannien und in Japan einer der Gründe für die relativ niedrige Arbeitslosenquote in diesen Ländern.
Fünfter Ansatzpunkt: der öffentliche Bereich, der eine zentrale Rolle für die Herstellung von Vollbeschäftigung einnehmen muß. Bekanntlich verschiebt sich die Struktur der Nachfrage immer mehr in Richtung Dienstleistungen, insbesondere der Bereiche Gesundheit, Freizeit und Bildung. Wenn die schwerwiegenden Fehler eines sozial unausgewogenen Dienstleistungswesens amerikanischen Typs vermieden werden sollen, müssen unbedingt weiterhin qualitative Investitionen in diesen Bereich fließen, der eben nicht nach Marktkriterien, sondern nach dem Maßstab der sozialen Effizienz zu bewerten ist. Daher ist ein Status, der einen sicheren Arbeitsplatz und ein stabiles Gehaltsniveau garantiert, einer der wichtigsten Faktoren für die Motivation der Beschäftigten.
Da Wirtschaftswachstum zusätzlichen Mehrwert erzeugt, schafft es die Bedingungen dafür, daß über Transferzahlungen hochwertige öffentliche Dienstleistungen finanzierbar werden – die ihrerseits das Wachstum ankurbeln und die kollektiven Infrastrukturen sichern. Dieses Modell steckt derzeit im wesentlichen aus zwei Gründen in der Krise: Zum einen kann der Status quo nicht erhalten werden, ohne daß der Staatshaushalt verstärkt unter Druck gerät, da das Wachstum durch die bisherige Politik zu stark gebremst wurde. Zum anderen zielen die Richtlinien der Gemeinschaft, die im Namen der Wettbewerbsfähigkeit vereinbart wurden, genau auf die Zerschlagung der „öffentlichen Monopole“.8 Am 11. September hat die EU-Kommission in Brüssel in dem Bemühen, die wachsende Opposition in Frankreich gegen ihren hemmungslosen ultraliberalen Kurs zu entwaffnen, mit deutlichem Unwillen der laufenden Regierungskonferenz vorgeschlagen, den Begriff der „gemeinnützigen Dienstleistungen“ in den künftigen Vertragstext aufzunehmen. Ein rein taktisches Vorgehen indes, da man es ablehnte, den Begriff in das Konzept einheitlicher europäischer Staatsbürgerrechte aufzunehmen.
Die Kombination der genannten fünf Ansatzpunkte könnte ein Wachstum in die Wege leiten, das eine Vielzahl sicherer Arbeitsplätze schafft. Diese Punkte stellen noch kein umfassendes Programm dar, doch sie liefern eine Ausgangsbasis für den Entwurf einer „anderen Politik“, die mit einer zusätzlichen internationalen Dimension – konzertierter Aufschwung in Europa und in den Mittelmeer-Anrainerländern, Besteuerung von Spekulationskapital – mehr Handlungsspielraum läßt, als nach den liberalen Dogmen vorgesehen ist. Denn entgegen der herrschenden wirtschafts-„wissenschaftlichen“ Lehre ist Wirtschaftspolitik alles andere als eine wertfrei anwendbare Technik; vielmehr basiert sie vor allem auf der gesellschaftlichen Entscheidung über die gesellschaftliche Umverteilung der Gewinne. Bei der Bestimmung der Prioritäten kommt den politischen Akteuren also eine weitreichende Verwantwortung zu, die nur leider zuweilen sträflich in Vergessenheit gerät.
dt. Erika Mursa
1 Am 18./19. Oktober findet in Paris ein Kolloquium statt, das von den Unterzeichnern des Aufrufs der Wirtschaftswissenschaftler gegen das Einheitsdenken organisiert wird, zu denen auch die Autoren dieses Artikels gehören.
2 Vgl. v. a. Jacques Robin, „Mutation technologique, stagnation de la pensée“ und Bernard Cassen, „Technologie? Connais pas“, Le Monde diplomatique vom März 1993 bzw. Juli 1994.
3 Vgl. Dominique Garabiol, „Et si le franc retrouvait sa liberté?“, Le Monde diplomatique, Februar 1996.
4 Vgl. Serge Halimi, „La Banque de France va-t- elle redevenir le ,mur de l'argent‘?“, Le Monde diplomatique, April 1993.
5 Vgl. Hervi Le Bihan, Catherine Mathieu und Henri Sterdyniak in „La Lettre de l'OFCE“, Nr. 153, 26. Juli 1996.
6 Hier wurde ein dreifacher Riegel vorgeschoben: Das jährliche Haushaltsdefizit muß weniger als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, die gesamte Staatsverschuldung darf 60 Prozent des BIP nicht übersteigen, und die Zentralbanken dürfen laut Vertrag keine Unterstützung bei der Finanzierung der Haushalte leisten.
7 Vgl. das Dossier „Emploi: ce qui ne va pas“, zusammengestellt von Guillaume Duval, Alternatives économiques, Paris, Nr. 140, September 1996.
8 Vgl. Sylvain Hercberg, „Öffentliche Dienstleistungen, Garanten des Gemeinwohls“, Le Monde diplomatique, Juni 1996.
* Hochschullehrer an der Universität Paris-I-Panthéon-Sorbonne, Autor von „Salaires et emploi. Une critique de la pensée unique“, Paris (Syros) 1996.Wissenschaftler am Seminar für Arbeitswissenschaft der Universität Paris-I.