11.10.1996

Polizeihochburg Europa

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Polizeihochburg Europa

DIE Ausweisung der Immigranten aus der Kirche St. Bernard in Paris im vergangenen August hat erneut deutlich gemacht, wie willkürlich Behörden und Justiz diese Fälle handhaben, wie ungeeignet und verwirrend die französischen Einwanderungsgesetze sind und wie sehr sie den Prinzipien der französischen Republik und der europäischen Menschenrechtskonvention zuwiderlaufen. In einem Europa, das sich wie eine belagerte Festung verhält, bedroht der verstärkte Ausbau der polizeilichen Kontrollsysteme die Freiheit aller und stigmatisiert gesellschaftliche Randgruppen, ohne doch die Einwanderungsströme einzudämmen. Wie die Erfahrungen in Nordamerika zeigen, werden diese so lange anhalten, wie die Armut in den Herkunftsländern zunimmt. Die Zukunft unserer Gesellschaft liegt nicht in einer ohnehin unmöglichen Abriegelung der Grenzen, sondern in der Bereitschaft, den Fremden anders wahrzunehmen.

Von DIDIER BIGO *

Die Art, wie die Regierungen ihre Bevölkerung sowie die Einreise von Fremden in ihren Hoheitsbereich kontrollieren, verändert sich zur Zeit auf kaum wahrnehmbare, aber gleichwohl tiefgreifende Weise.1 Das Mittel dazu ist eine Verstärkung der innereuropäischen polizeilichen Zusammenarbeit in den Bereichen Verbrechensbekämpfung, Drogenhandel und Terrorismus sowie im Kampf gegen illegale Einwanderung.

Die Polizeiapparate werden künftig Netzwerke bilden: administrative Netzwerke, die zusätzlich zu den nationalen Polizei- und Grenzschutzbehörden nunmehr Zoll, Einwanderungsbehörde, Visaabteilungen der Konsulate und selbst private Verkehrsunternehmen oder private Wachgesellschaften einbeziehen; einen informellen Datenverbund mit der Erstellung nationaler oder europäischer Dossiers über gesuchte oder vermißte Personen, solche mit Einreiseverbot, Ausgewiesene, Zurückgewiesene und solche, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Schließlich ein Netz von Verbindungspersonen, die im Ausland ihre Behörde vertreten und einen Informationsaustausch ermöglichen sowie Netzwerke, in denen übergreifend neue Richtlinien und Konzepte in Hinblick auf etwaige politische Konflikte und Gewalttaten ausgearbeitet werden.

Ferner arbeitet die Polizei immer mehr auf Distanz, jenseits der nationalen Grenzen. Die Kontrollen finden nicht mehr unbedingt systematisch und für alle gleichermaßen an den nationalen Grenzen statt. Sie werden zurückverlegt ins Landesinnere oder in das Grenzgebiet, wenn sie nicht schon außerhalb des jeweiligen Staatsgebiets angesiedelt sind, wo man sich – dank der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern der Immigranten – auf das bürokratische System der Visaerteilung oder auf Rückführungsabkommen stützen kann. Die Folge ist, daß die direkten Kontakte abnehmen; an ihre Stelle treten Verfahren, durch die jene Bevölkerungsteile ermittelt werden sollen, die Straftaten begehen könnten – noch bevor diese überhaupt begangen werden.

Solche Methoden werden sowohl bei der Verbrechensbekämpfung als auch bei der Einwanderung angewandt. Durch Datenkreuzungen werden die Zielgruppen ermittelt, die stärker beobachtet werden sollen. Man versucht, die Ströme und Bewegungen von Bevölkerungsgruppen vorauszubestimmen, statt im nachhinein bestimmte Einzelpersonen zu verfolgen. Auf der Grundlage einiger Elemente vollzieht man ganze Szenarien nach. Der Begriff „Polizei“ selbst verliert angesichts dieser Ausweitung seines Aufgabenbereichs weit über die Verbrechensbekämpfung hinaus seinen Sinn.2

Der Ausdruck „innere Sicherheit“ spiegelt im übrigen diese Ausweitung der polizeilichen Aktivitäten auf die Behandlung der unterschiedlichen Ängste und Unsicherheiten wider. Es geht nicht mehr um eine Überwachung der Kriminalität auf nationaler Ebene, sondern um die Überwachung der Grenzen durch mobile Personenüberprüfungen, um die Kontrolle der Einwandererströme, die manche Politiker so beunruhigen, und um den Umgang mit auffälligen Bevölkerungsteilen (religiöse Minderheiten, farbige Ausländer, jugendliche Immigranten der zweiten Generation, Jugendliche in den Vorstädten, Obdachlose und so weiter). Die institutionellen Umstrukturierungen einiger Kontrollorgane sind ein sichtbares Zeichen für diese Entwicklung.

So hat man in Frankreich die Kompetenzen des Zolls ständig ausgeweitet, und die Luft- und Grenzpolizei wurde ausgebaut zur Leitungszentrale für die Kontrolle von illegaler Einwanderung und der Beschäftigung illegaler Arbeitskräfte (Diccilec). Sie ist somit nicht mehr allein an den Grenzen, sondern auch in den Departements mit hohem Ausländeranteil stationiert. In Deutschland ist die Truppenstärke des Bundesgrenzschutzes durch eine Reform fast verdoppelt, sein Aufgabenbereich deutlich erweitert worden. Überall in den Ländern der Europäischen Union werden Verbrechen und Einwanderung durch die Kontrolle des grenzüberschreitenden Personenverkehrs miteinander verkoppelt. Einwanderer, Mitglieder religiöser Minderheiten, ja selbst Touristen aus Ländern der Dritten Welt stehen in Verdacht, eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darzustellen und sich in die Demokratien einzuschmuggeln, um sich soziale Rechte zu erschleichen.

Jede dafür zuständige Dienststelle stellt Überlegungen an und bringt Vorschläge ein, wie all diese grenzüberschreitenden Migrationsströme ganzer Volksgruppen zu kontrollieren, systematisch einzuteilen, zu identifizieren und zu kategorisieren seien. Etwa durch die Abnahme von Fingerabdrücken, durch fälschungssichere Personalausweise, durch die computerisierte Erfassung von Einreise, Aufenthalt, Unterkunft, Ausreise usw. usf. Wie können diese potentiellen Einwanderer davon abgehalten werden, sich Europa zum Ziel ihrer Reise zu wählen? Durch eine strenge Handhabung der Visavergabe, durch Sanktionen gegen bestimmte Fluggesellschaften, durch eine ungnädige bis fremdenfeindliche Sprache, durch die Abschaffung einiger sozialer Vergünstigungen. Wie kann man sie durch angemessene Kontrollen überwachen? Durch eine Verstärkung der polizeilichen Zusammenarbeit, der mobilen Kontrollen und der zwischenstaatlichen Analyse- und Informationszentren. Wie kann man sie, wenn eine massive Ausweisung schon nicht möglich ist, zumindest im Land selber an einen Ort binden und „normalisieren“? Durch soziale Absicherung auf lokaler Ebene, durch die Übernahme von Verantwortung seitens des Arbeitgebers. Wie kann man sie durch zwischenstaatliche Vereinbarungen ausweisen? Durch vermehrte bilaterale Rückführungsabkommen, durch die sogenannte Drittstaatenregelung.

Um der Sache Herr zu werden, internationalisiert man die Kontrollinstanzen: Polizei, Zollbehörden, Einwanderungs- oder Asylstellen, kurz, alle „Spezialisten im Umgang mit Bedrohungspotentialen“. Die Zahl der Verbindungsoffiziere wird zwecks Gründung neuer Arbeitsgruppen ausgeweitet (Club von Bern, Club von Wien, GAM, FWGOT, Trevi, Star, Ad hoc Immigration).3 Verbindungsbüros werden aufgebaut: die Koordinationstelle für den freien Verkehr und gegenwärtig das Komitee K44. Es werden Einrichtungen wie Europol geschaffen, auch wenn noch keine Einigkeit darüber besteht, welche Rolle die Europäische Kommission dabei spielen soll. Desweiteren sucht man Grenzkontrollen nach britischem Vorbild wiederzubeleben.

Bedrohliche Sicherheit

DIE einen wollen lieber die klassischen Methoden beibehalten oder erneut einführen, also Grenzposten und feste Kontrollen und eine Polizei, die das kriminelle Milieu unterwandert und es von innen her kennt. Andere setzen auf mobile Kontrollen, Hochtechnologie und analytische Informationsauswertungen. Alle glauben sie, daß Grenzen und Menschen unter Kontrolle gehalten werden können. Zwar führt jedes Land seine Neuerungen entsprechend seiner nationalen Geschichte und früherer Vorbehalte durch, und bislang hat keins von ihnen alle Pläne umgesetzt. Doch die Sicherheit als „abstrakter Apparat“ wird nun im Zusammenhang mit einer politischen Verwaltung der Migrationsströme organisiert und nicht mehr durch die Überwachung von Einzelpersonen.

Dabei sind diese neuen technischen, rechtlichen und rhetorischen Vorkehrungen weit weniger effizient, als man glaubt, denn sie sind weiterhin ihrem ursprünglichen Ziel verhaftet. Da sie für die Risikoprävention und für den Umgang mit der Bedrohung geschaffen wurden, erzeugen sie mehr Probleme, als sie lösen: Um sie anwenden zu können, muß ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit erzeugt werden. So wird alles zur Bedrohung und erfordert Sicherheitsmaßnahmen, deren grenzenlose Ausweitung zur alleinigen Perspektive des Programms wird.5

Die Verbindung zwischen Verbrechen, Grenzsicherung und Einwanderung führt zu einer Neuverteilung der Kompetenzen unter verschiedenen Ministerien (Innen- und Außenministerium, Europäische Angelegenheiten, Verteidigung). Dadurch verwischen sich die Grenzen zwischen dem Kompetenzbereich der inneren Sicherheit und dem der Landesverteidigung. Die für die innere Sicherheit verantwortlichen Stellen haben ihr Betätigungsfeld erweitert, sind international tätig und haben die Kontrolle über die Einwanderungsströme sowie die Außenpolitik der Herkunftsstaaten übernommen. Die Polizeibehörden agieren nun tagtäglich international. Die für die äußere Sicherheit zuständigen Stellen lenken in Ermangelung andersartiger Bedrohungen ihr Augenmerk nun auf einst verachtete Bereiche und entdecken die sogenannten peripheren Konflikte wieder, wie etwa die Low- intensity-Konflikte oder, wie man sie jetzt nennt, die „Konflikte der vierten Generation“.6

Es entwickeln sich Machtkämpfe anläßlich der Frage, welcher der polizeilichen oder militärischen Nachrichtendienste für welche Bereiche zuständig ist: Wirtschaftsspionage, organisiertes Verbrechen, Terrorismus. Welche Einsatzgruppe ist im Krisenfall für die innere Sicherheit zuständig? Jenseits dieser Auseinandersetzungen bildet sich ein „Sicherheitsfeld“, in dem eigene Regeln herrschen und das gleichermaßen Polizisten, Zollbeamte, kasernierte Polizei und Militärs einschließt. Anders als in den Vereinigten Staaten neigt man innerhalb der Europäischen Union dazu, die Machtbefugnisse der Polizei zuungunsten der Armee auszuweiten. In der Hitze des Gefechts vergessen diese Fachleute freilich, daß sie alle die gleiche Einschätzung teilen: Die Welt ist bedrohlich.

Um Risiken vorherzusehen und sie zu vermeiden, muß man auch zwischen einer Bedrohung und einem gesellschaftlichen Wandel zu unterscheiden wissen, weil sonst jede Veränderung als gefährlich angesehen wird, die von einem manchmal imaginären Feind ausgelöst wird: Mafiaorganisationen, Terrorismus, islamische Bewegung, die Verbindung von Islam und Konfuzianismus, der Süden, die internationale Unordnung, Grauzonen und rechtsfreie Räume.7 Die politische Rechte stellt die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der Angst dar und erschafft schließlich auch dort noch Gegner, wo es gar keine gab.

Hat es Sinn, in Zusammenhang mit der Migration zuerst von einem Problem, dann von einem Risiko und schließlich von einer Bedrohung zu sprechen? Dadurch wird ein Sicherheitsrahmen geschaffen, der Terrorismus, Drogen, organisierte Kriminalität, Unruhen in den Städten, illegale Einwanderung und soziales Fehlverhalten der bereits ansässigen Minderheiten umspannt. Zwar setzt nicht jedermann Terroristen mit Einwanderern gleich. Doch drängt sich ein Interpretationsmuster auf, durch das man von einem Begriff zum anderen springt, ohne den Eindruck zu bekommen, man habe das Thema gewechselt: Eine Diskussion, die mit dem Thema Drogen oder Terrorismus begonnen hat, endet so ganz selbstverständlich bei den Themen Einwanderung, Asylbewerber, Jugendliche in den Trabantenstädten.

Wer über Antiterrorismus redet, muß von nun an notwendig auch die Drogenbekämpfung und die illegale Einwanderung ansprechen (und umgekehrt). Ob es nun um Verbrechen, Terrorismus oder schlicht um die derzeitigen Schwierigkeiten der Wohlfahrtsstaaten in bezug auf Bildungswesen und Sozialversicherung geht – immer geraten die Gruppen ins Blickfeld, die die Grenzen passieren oder solche, deren Identität sich über religiöse oder ethnische Bekenntnisse definiert.

1 Die Frage war Thema der Diskussionsveranstaltung „Immigration, Security and Identity“, die am 15. April 1996 an der Universität von San Diego stattfand , vorbereitet im Rahmen des monatlichen Seminars des Centre d'études et de recherches internationales (Ceri): „Sécurités et identités“.

2 Vgl. Didier Bigo, „Polices en réseaux, l'expérience européenne“, Paris (Presses de la Fondation nationale des sciences politiques) 1996.

3 GAM: Groupe d'assistance mutuelle (Zoll), PWGOT: Police Working Group on Terrorism.

4 Koordinationskomitee, das aufgrund von Artikel K 4 des Maastricht-Vertrages eingerichtet wurde.

5 Vgl. Gary Marx, „La société de sécurité maximale“, Déviance et société, Paris, Februar 1988.

6 Vgl. General Bernard de Bressy, „Les conflits de quatrième génération, Le Monde, 25. Mai 1996.

7 „Troubler et inquiéter, les discours du désordre international“, Cultures et conflits, Nr. 19-20, Winter 1995, Paris (L'Harmattan).

8 Bertrand Badie, „La fin des territoires“, Paris (Fayard) 1995.

9 Barry Buzan, Ole Woever, „Identity, Migration and the New Security Agenda in Europe“, New York (St. Martin Press) 1993.

10 „Zones d'attente et camps de rétention dans les démocraties occidentales“, Cultures et conflits, Nr. 23, 3/1996, Paris (L'Harmattan).

11 Michel Foucault: „Sécurité, territoire et population“, Vorlesung am Collège de France 1977/78, in „Résumé des cours“, Paris (Julliard) 1989.

* Universitätsdozent am Institut d'études politiques in Paris, Forscher am Centre d'études et de recherches internationales (Ceri).

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Didier Bigo