11.10.1996

Gesucht: Eine Schiedsinstanz auf der Höhe des Konfliktes

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Gesucht: Eine Schiedsinstanz auf der Höhe des Konfliktes

DER Sieger der Parlamentswahlen vom 22. September 1996, der griechische Regierungschef und Vorsitzende der sozialistischen Pasok, Kostas Simitis, will Griechenland noch stärker in die Europäische Union integrieren. Davon verspricht er sich die Unterstützung der EU in den Streitpunkten zwischen Athen und Ankara, die vor allem Zypern und die Ägäis betreffen. Schon jetzt hat das Europäische Parlament wegen der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen und der Ausweitung des Krieges gegen die Kurden den Beschluß gefaßt, die Finanzhilfe für die Türkei zu blockieren.

Von NIELS KADRITZKE *

Pharmakonisi wirkt auf der Ägäis- Karte wie ein Fliegendreck. Vor fünfzig Jahren lebten auf dieser vier Quadratkilometer großen Dodekanes-Insel noch drei griechische Hirtenfamilien.1 Heute dient sie nur noch als Umschlagplatz für griechisch-türkische Kontrabande. Vor wenigen Wochen setzten hier türkische Fischer irakische Flüchtlinge ab, die für das Erreichen von EU-Territorium pro Kopf 2000 Dollar bezahlt hatten.

Daß die Insel griechisch ist, steht völkerrechtlich außer Zweifel. Doch sie könnte theoretisch ebenso zu einem griechisch-türkischen Streitfall werden wie die viel kleineren Felsklippen namens Imia (türkisch: Kardak), um die Ende Januar fast eine Seeschlacht ausgebrochen wäre.2

Was macht selbst unbewohnte Eilande zum Objekt machtpolitischer Begierde? Nach internationalem Seerecht verfügen auch sie über eine eigene Hoheitszone, die in der Ägäis aktuell 6 Seemeilen (1 Sm = 1,852 km) breit ist. Wäre Pharmakonisi türkisch, verliefe die Seegrenze circa 15 Kilometer weiter westlich, und die Türkei hätte ihre Hoheitszone um mindestens 250 Quadratkilometer ausgedehnt. Dieser Expansionseffekt ist nur ein Grund, warum der Anspruch auf jede noch so winzige Insel eine qualitative Verschärfung der türkischen Konfliktstrategie bedeutet.

Noch mehr beunruhigt Athen die Tatsache, daß Ankara erstmals den Status quo in der Ägäis auch dort in Frage stellt, wo er völkerrechtlich eindeutig geregelt ist. Die Seegrenze zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln wurde für den südlichen Ägäis-Abschnitt 1932 durch ein Abkommen zwischen der Türkei und Italien, das sich den Dodekanes 1912 angeeignet hatte, punktgenau festgelegt. Im Pariser Vertrag von 1947 trat Italien die Inselgruppe an Griechenland ab. Wenn die Türkei die Grenzprotokolle von 1932 nach 64 Jahren plötzlich negiert, stellt sie damit den gesamten Grenzverlauf zwischen Dodekanes und türkischer Küste in Frage.3

Damit nicht genug: In der Nordägäis, wo die griechisch-türkische Grenze im Lausanner Vertrag von 1923 nicht so exakt festgelegt wurde wie im Süden, entdeckte Ankara immer neue „herrenlose“ Inseln. Im Juni behauptete der türkische Nato-Vertreter in Brüssel sogar, die bewohnte griechische Insel Gavdos habe einen „ungeklärten Status“. Gavdos liegt 35 Kilometer südlich von Kreta – und 400 Kilometer von der türkischen Küste entfernt. Und im August wurde ein Memorandum der türkischen Militärakademie bekannt, das rund einhundert „umstrittene“ Inseln und Felsen behauptet, darunter auch die Dodekanes-Insel Kalymnos, die gut 10000 Einwohner hat.

Besorgnis erregen solche expansionistischen Ansprüche in Athen zumal deshalb, weil sie vom türkischen Militär formuliert werden. Das läßt auf eine umfassende Ägäis-Strategie schließen, die darauf zielt, möglichst viele türkisch-griechische „Streitpunkte“ zu schaffen, um bilaterale Verhandlungen über eine Paketlösung für „das Ägäis-Problem“ zu erzwingen. Tansu Çiller hatte es nach der Imia- Krise offen ausgesprochen: „Die Ägäis insgesamt muß zum Objekt von griechisch-türkischen Verhandlungen werden.“

Die „Ägäis insgesamt“ ist als völkerrechtliches Konfliktfeld so unübersichtlich und vielgliedrig wie ihre Küsten- und Insellandschaft. Komplikationen sind schon durch die Geographie vorgegeben: Das „Semibinnenmeer“ ist geprägt durch eine Inselwelt, die überwiegend zu einem der beiden Anrainerstaaten, nämlich zu Griechenland gehört. Was rechtlich noch folgenreicher ist: Die größten dieser Inseln liegen in der „falschen“ Hälfte der Ägäis, nämlich vor der türkischen Küste. Diese geographische Asymmetrie macht die konkurrierenden Ansprüche der beiden Küstenstaaten zu einem völkerrechtlichen Problem, das einem Puzzle auf drei Ebenen gleicht:

1. Auf der Ebene der Wasseroberfläche ist die Ägäis für Griechenland eine wichtige und vielbefahrene Schiffsroute zu so großen Inseln wie Lesbos, Chios oder Rhodos; für die Türkei ist sie Teil der wichtigen Route von den Dardanellen zum Mittelmeer wie auch von und zu ihrem wichtigsten Ägäishafen Izmir.

2. Eine Etage höher ist der Luftraum über der Ägäis für Griechenland die Kontrollzone des Flugverkehrs zwischen Festland und Inseln; für die Türkei dient er als Luftkorridor für Zivilflugzeuge nach Westen, aber auch als begehrte Übungszone für die Luftwaffe.

3. Auf der untersten Ebene konkurrieren beide Länder um die Ausbeutung des Meeresbodens im Bereich der internationalen Gewässer, des sogenannten Festlandsockels. Vermutete Ölvorkommen können sie aber nur dann explorieren, wenn sie sich über die Grenzen ihrer „Wirtschaftszonen“ einig sind.

Die Hoffnung auf Öl brachte Ende 1973, auf dem Höhepunkt der Ölkrise, die ersten Spannungen in der Ägäis hervor. Zum offenen Konflikt kam es dann anläßlich des Zypernkrieges: Die Türkei nutzte im Juli 1974 den Putsch der Athener Junta gegen die Regierung von Erzbischof Makarios zu einer militärischen Invasion, die ihr langfristiges strategisches Ziel der Teilung Zyperns realisierte.

Erst mit der Ölkrise und dem Zypernkrieg haben sich die vielfältigen Aspekte des Ägäis-Konflikts zu einem Gefahrenpotential verdichtet, das sich in mehreren Krisen entlud. Diese Krisen aktivierten einen weiteren Konflikt: die völkerrechtlich umstrittene „Militarisierung“ der Ägäis. 1974 hatte Ankara gedroht, wenn Griechenland in Zypern militärisch eingreife, würden türkische Truppen einige griechische Inseln vor der türkischen Küste erobern. Seit 1975 wurde die türkische IV. Armee an der Ägäis-Küste mit einer Landungsflotte aufgerüstet. Im Gegenzug verstärkten die Griechen ihre militärischen Kontingente auf den Inseln über die vertraglich fixierten Grenzen hinaus.

Der Widerstreit in Nahaufnahme

SEIT 1974 ist „das Ägäis-Problem“ im Bewußtsein beider Gesellschaften und ihrer jeweiligen politischen Klasse der Faktor, der das griechisch-türkische Verhältnis am stärksten belastet. Das Gewicht der einzelnen Krisenaspekte hat sich seitdem jedoch verschoben. Der Streit um die Ölexplorationen, der 1976 und 1987 fast zum militärischen Konflikt eskaliert wäre, hat angesichts der niedrigen Weltmarktpreise an Brisanz verloren. Und in beiden Ländern ist die Einsicht gewachsen, daß Touristen nicht gern auf Bohrinseln sehen. Andererseits hat die griechisch-türkische Konkurrenz um die Pauschaltouristen Europas den Konflikt um eine neue ökonomische Dimension erweitert. Auf beiden Seiten gibt es Kräfte, die der Ferienindustrie am jeweils anderen Agäis-Ufer eins auswischen wollen.

Erstaunlicherweise spielt in der Ägäis der Konflikt keine Rolle, der in anderen Breiten die friedlichsten Nachbarn zu Feinden macht – die Fischereirechte. Um so stärker wird der griechisch-türkische Gegensatz durch nationale Emotionen aufgeladen, die aus der historischen „Erbfeindschaft“ zwischen zwei Völkern stammen, die ihren Nationalstaat jeweils im „Befreiungskrieg“ gegen das andere Volk etablierten. Diese Feindschaft wird in beiden Gesellschaften durch die populistische Glorifizierung der eigenen Geschichte immer wieder künstlich beatmet. Für einen „guten Griechen“ ist es undenkbar, daß die Türken irgendwelche Rechte an der „griechischen Ägäis“ haben, während ein „guter Türke“ an das „Recht des Stärkeren“ glaubt, mit dem Militärs und Politiker expansionistische Ansprüche begründen.

Betrachten wir jetzt die drei Ebenen des Puzzles genauer nach ihren völkerrechtlichen Dimensionen.

1. Das Küstenmeer (Territorialgewässer): Nach der UN-Seerechtskonvention von 1982, die seit November 1994 in Kraft ist, kann jeder Küstenstaat seine Hoheitszone bis 12 Seemeilen ausweiten. Dieser unbestreitbare Rechtsanspruch Griechenlands ist der Türkei ein Dorn im Auge. Warum, zeigt ein Blick auf die Ägäis- Karte. Zwischen den Inselgruppen der Kykladen und des Dodekanes würden die erweiterten griechischen Territorialgewässer zusammenwachsen. Die Nord- Süd-Passage durch internationale Gewässer würde zu einer innergriechischen „Wasserstraße“. Damit wären, behauptet man in Ankara, der Türkei wichtige Rechte genommen, zum Beispiel der Hafen von Izmir vom offenen Mittelmeer „abgeschnürt“. Das Argument ist deutlich überdehnt, denn der seerechtliche Status von Küstengewässern läßt nach dem Grundsatz der „friedlichen Durchfahrt“ (innocent passage) die Handelsschiffahrt weitgehend unbeeinträchtigt. Und selbst für türkische Kriegsschiffe könnten die Griechen ihre Hoheitszone nur im Kriegs- oder Spannungsfall sperren. Dies genau ist für die türkische Seite offenbar der springende Punkt: Türkische Politiker und Militärs erklären seit Jahren die Ausweitung der griechischen 6-Seemeilen-Zone zum Casus belli. Im Juni 1995 beschloß das türkische Parlament ein Gesetz, das die Regierung für diesen Fall zum Krieg ermächtigt.

Daß die Türkei zu völkerrechtswidrigen Kriegsdrohungen greift, scheint zu beweisen, daß ihr vor allem die Bewegungsfreiheit ihrer Kriegsflotte am Herzen liegt. Aber die Sache ist komplizierter. Auch in Ankara ist bekannt, daß Griechenland die 12-Meilen-Zone weder durchsetzen will noch kann. Erstens weiß man in Athen, daß auch die großen Nato- Seemächte auf auf eine internationale Ägäis-Passage Wert legen. Zweitens kann man nicht – obgleich völkerrechtlich legitimiert – am Status quo rühren, auf dessen Respektierung man die Türkei verpflichten will. Außenminister Pangalos hat diesen Realismus sehr drastisch ausgedrückt: Keine griechische Regierung könne so „verrückt“ sein, die Hoheitszone auszudehnen. Daß Athen den abstrakten Rechtsanspruch auf die 12-Meilen-Hoheitszone gleichwohl nicht aufgeben will, hat einen anderen Grund, der einen Stock höher, in der Lufthoheitszone liegt.

2. Der Luftraum: Die Griechen beanspruchen seit 1931 in ihrem Luftraum eine Hoheitszone von 10 Seemeilen, die auch für jede einzelne Insel gilt. Da Ankara seit 1974 nur eine 6-Meilen-Zone anerkennt, dringen türkische Militärflugzeuge ständig in die umstrittenen 4 Seemeilen Zone ein und werden dann von griechischen Jets abgefangen. Das führt immer wieder zu Scheingefechten, die eines Tages mit einem echten „Abschuß“ enden können, weil beide Luftwaffen in der Ägäis mit scharfer Munition fliegen.4

Die griechische Lufthoheitszone ist, insofern sie über die Hoheitszone auf dem Meer hinausreicht, eine völkerrechtliche Anomalie. Athen begründet die 10 Seemeilen mit dem theoretischen Recht, auch das Küstenmeer um die Inseln auf 12 Seemeilen auszudehnen. Man beanspruche also nicht „zu viel“ Luftraum, sondern „zu wenig“ Hoheitsgewässer. Diese Argumentation wäre entwertet, wenn der abstrakte 12-Seemeilen-Anspruch aufgegeben würde.

3. Der Festlandsockel: Hier sind sich die Kontrahenten uneinig über die Abgrenzung ihrer Wirtschaftszonen. Der türkischen Seite schwebt eine Mittellinie vor, so daß ihr der Festlandsockel in der ganzen Osthälfte der Ägäis (abzüglich der Hoheitszone um die griechischen Inseln) zufallen würde. Die Griechen wollen den Türken auf keinen Fall Bohrrechte „im Rücken“ ihrer ostägäischen Inseln zugestehen.

Die Auffassungen in diesem Punkt sind unvereinbar. Griechenland schlägt daher schon seit 1976 vor, beide Länder sollten den Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) mit der Abgrenzung beauftragen. Der IGH hat schon mehrere Festlandsockel-Urteile gefällt, die eine Leitlinie auch für den Ägäis-Streitfall bieten.5 Die Rechtsexperten beider Seiten wissen also ungefähr, wie ein IGH-Schiedsspruch ausfiele. Nach dem Prinzip der „equity“ (der „gerechten Aufteilung“), würde der Türkei – proportional zu ihrem Anteil an der Küstenlänge – ca. ein Drittel der hoheitsfreien Ägäis-Fläche als Wirtschaftszone zufallen. Das liefe auf eine „Fingerlösung“ hinaus: Die türkische Zone würde in Form von zwei oder drei Keilen an Lesbos, Chios und Samos vorbei bis in die Ägäismitte ragen. (vgl. Karte)

Eine solche IGH-Lösung wäre nicht nur ein Kompromiß, sondern auch eine heilsame Lehre für beide Seiten. Sie würde den Griechen klarmachen, daß die Ägäis völkerrechtlich gesehen kein „griechisches Meer“ ist. Und sie würde den Türken beibringen, daß die griechischen Inseln in der Ostägäis keine „Enklaven“ in einer „türkischen Ägäishälfte“ sind, sondern griechisches Territorium mit allen Rechten, inklusive des eigenen Festlandsockels.

Daß die Türkei ein salomonisches IGH-Urteil bislang vermeidet, zeigt, daß sie offenbar einen grundsätzlichen Schiedsspruch durch internationale Schlichtungsorgane scheut – etwa im Hinblick auf andere völkerrechtliche Konflikte, wie den mit Syrien und dem Irak um das Euphrat-Wasser. Dagegen ist für die griechische Regierung der Gang nach Den Haag aus zwei Gründen unverzichtbar: Erstens erwartet sie von einer IGH-Entscheidung ein besseres Ergebnis als von bilateralen Verhandlungen mit einem machtbewußten Konfliktpartner; zweitens wäre sie innenpolitisch entlastet: Die unangenehme Botschaft, daß die Ägäis kein exklusiv griechisches Meer ist, würde dem Volk von einer Rechtsinstanz mit internationaler Autorität übermittelt.

Als Blitzableiter für den populistisch programmierten Volkszorn könnte der IGH auch in der noch sensibleren Frage der Territorialgewässer dienen. Da der theoretische Rechtsanspruch auf eine 12-Meilen-Hoheitszone realpolitisch nicht einlösbar ist, aber keine griechische Regierung einen direkten Verzicht gegenüber der Türkei aussprechen könnte, wäre ein indirekter Verzicht gegenüber Den Haag die eleganteste Lösung. Und sie würde sich im Rahmen eines IGH-Verfahrens zur Abgrenzung des Festlandsockels wie von selbst ergeben. Denn bevor der Gerichtshof über die Wirtschaftszonen befindet, müßte er zurückfragen, ob die Hoheitszonen beider Küstenstaaten bis zur 6- oder bis zur 12-Meilen-Grenze gehen sollen.

Mit anderen Worten: In dem „Kompromisum“, dem gemeinsamen Antrag, der den IGH zur Schlichtung in Sachen Festlandsockel ermächtigen würde, müßte die griechische Seite den Status quo festschreiben. Als Gegenleistung könnte sie die türkische Anerkennung des Status quo im Luftraum, also der 10-Seemeilen-Zone um ihre Inseln verlangen. Es wäre ein plausibles Geschäft auf Gegenseitigkeit. Den Verzicht Athens auf die 12-Seemeilen-Hoheitszone in der Ägäis würde Ankara mit der Bereitschaft honorieren, einen wichtigen Aspekt des Ägäis-Konflikts durch ein völkerrechtliches Schiedsverfahren zu regeln.6

Die entscheidende Frage in der Ägäis- Krise lautet also: Wird die türkische Seite den Gang zum IGH mitmachen und damit das Völkerrecht als höchste Instanz für die Regelung von Konflikten akzeptieren? Im März kamen vom zwischenzeitlichen Ministerpräsidenten Yilmaz Signale eines vorsichtigen Sinneswandels. In einem Memorandum schloß er ein Schlichtungsverfahren „mit Hilfe von Dritten“ nicht aus, ohne freilich explizit den IGH zu erwähnen.7 Doch heute ist in Ankara eine Regierung Erbakan/Çiller an der Macht, die aus griechischer Sicht wenig Gutes verheißt. Frau Çiller hat die Imia-Krise als Ministerpräsidentin bewußt eskaliert. Und Erbakan ist Verfechter einer „osmanischen“ Außenpolitik8, der in der Imia- Krise die permanente Besetzung griechischer Inseln forderte.

Das Mißtrauen in Athen wäre wohl erst ausgeräumt, wenn das türkische Parlament seine völkerrechtswidrige Kriegsdrohung zurücknehmen würde. Ein solcher Schritt würde auch Verhandlungen über das Problem der Militarisierung der griechischen Inseln ermöglichen. Die türkischen Drohungen machen nämlich die Einwände nichtig, die Ankara seit 1974 gegen die Militarisierung der griechischen Inseln vorbringt. Zwar verstößt die Stationierung großer Truppenkontingente auf den Inseln der Nordägäis wie des Dodekanes tatsächlich gegen die Verträge von Lausanne (1923) und Paris (1947). Doch die griechische Seite verweist demgegenüber auf das „Selbstverteidigungs“-Prinzip nach Art. 51 der UN-Charta: Man reagiere nur auf eine offensichtliche Bedrohung in Gestalt einer gewaltigen Landungsflotte am gegenüberliegenden Ägäis-Ufer. In dieser rechtlichen Sicht fühlen sich die Griechen durch die vorübergehende „Eroberung“ von Imia im Januar 1996 vollauf bestätigt.

Für die Entwicklung in Ankara lautet die wichtigste Frage, ob die türkische Regierung wirklich – und nicht nur rhetorisch – eine neue Ära der griechisch-türkischen Beziehungen anstrebt, oder ob sie nur den Schaden begrenzen will, den der türkische Übergriff auf Imia für ihre Außenpolitik gegenüber den EU-Ländern angerichtet hat. Dahinter steht die Frage nach dem Verhältnis der wechselnden türkischen Regierungen zum Militär, das nach der türkischen Verfassung über den Nationalen Sicherheitsrat noch immer die politische Führung kontrolliert.

Für die Athener Regierung ist die Frage entscheidend, ob sie die Solidarität ihrer EU-Partner erhalten und mehr Verständnis bei der Nato-Kopfmacht USA gewinnen kann. Die Regierung Simitis hat in der Imia-Krise, auch wegen ihres rationalen Verhaltens, ein relativ hohes Maß europäischer Solidarität erfahren. Aber sie darf das Solidaritätskonto bei ihren EU-Partner nicht überziehen, indem sie die Zollunion mit der Türkei im Alleingang blockiert.

Mit dem Wahlsieg von Ministerpräsident Simitis am 22. September hat sich die Gefahr vermindert, daß sein Kurs von einer Opposition innerhalb der Regierungspartei Pasok behindert oder mit populistischen Argumenten angegriffen wird. Außenminister Pangalos hat seinen Posten behalten, während sein Gegenspieler, Verteidigungsminister Arsenis, der nach der Imia-Krise eine „Nebenaußenpolitik“ betrieben hatte, ins Erziehungsministerium weggelobt wurde.9 Mit einer besonnenen Ägäis-Politik kann die zweite Regierung Simitis nicht nur die Ägäis-Krise entschärfen helfen, sondern auch ihr Ansehen und damit ihren Einfluß auf EU- Ebene konsolidieren.

Zwar genießt die Türkei bei den EU- Ländern eine hohe politische Priorität. Aber diese können bei völkerrechtlichen – wie bei menschenrechtlichen – Verstößen auf Dauer nicht immer beide Auge zudrücken. Das hat sich jetzt bei dem Beschluß des Europäischen Parlaments gezeigt, die EU-Gelder für Ankara zu blockieren. Es ist kein Zufall, daß diese Entscheidung von der US-Regierung kritisiert wurde, für die (nach Aussage des früheren Vize-Außenminister Richard Holbrooke) die Türkei „im Kreuzpunkt aller wichtigen Interessen liegt, die die USA in Europa und Asien haben“10.

Die Regierung Clinton hat in jüngster Zeit dem türkischen Militär modernste Waffensysteme bewilligt. Eine neue Runde im griechisch-türkischen Rüstungswettlauf ist also schon eingeläutet. In Griechenland kann Simitis die wirtschaftlich unerläßliche Kürzung der Militärausgaben gegenüber einer nervösen Öffentlichkeit nur durchsetzen, wenn die Ägäis-Krise entschärft wird. Deshalb wünscht sich Athen eine Erklärung der EU zur Unantastbarkeit ihrer aktuellen Außengrenzen. Es wäre auch ein nützliches Signal an die Kreise in Ankara, die den Aufbruch nach Europa ehrlich wollen.

1 Vgl. Alfred Philippson, „Das Ägäische Meer und seine Inseln“, Bd. IV, Frankfurt am Main 1959 (1942).

2 Pharmakonisi liegt näher zur türkischen Küste als zur nächsten griechischen Insel Leros. Auch im Fall Imia beruft sich die Türkei auf die größere Nähe zur türkischen Küste. Vgl. Hürriyet 30. März 1996.

3 Ankara distanziert sich von dem Abkommen von 1932 u. a. mit dem rebus sic stantibus-Vorbehalt.

4 Bei solchen Manövern sind schon zwei türkische Kampfjets abgestürzt, zwei Piloten kamen dabei um, zwei wurden von der griechischen Marine gerettet.

5 Vgl. das Urteil zur Abgrenzung des französisch- britischen Festlandsockels bei den Kanalinseln.

6 Ein solches Quid pro quo hatte schon einmal der frühere Ministerpräsident Andreas Papandreou angedeutet, vgl. Financial Times vom 24. Februar 1982.

7 Vgl. Elevtherotypia vom 29. März 1996.

8 Während der Zypern-Invasion im Sommer 1974 drängte Erbakan als stellvertretender Ministerpräsident massiv auf die Eroberung der Inselrepublik.

9 Arsenis propagierte die These, Griechenland sollte ein Bündnis mit den „natürlichen Feinden“ der Türkei anstreben (Syrien, Irak, Iran, Armenien usw.).

10 Siehe Financial Times vom 9. Februar 1996.

* Freier Journalist, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Niels Kadritzke