11.10.1996

Alle reden vom Beitritt

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Alle reden vom Beitritt

Von

KAREL

BARTAK *

IM Prinzip steht die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten fest, und niemand in der Gemeinschaft wird offiziell die Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit dieses Schritts in Frage stellen. Alles was über diese Feststellung hinausgeht ist freilich bloße Hypothese.

Bezüglich eines Zeitplans gibt es nur eine ausdrückliche Aussage, und zwar in der Erklärung, die unter äußerstem Druck auf dem Gipfel in Madrid im Dezember 1995 formuliert und dann sechs Monate später in Florenz bekräftigt wurde: „Der Europarat ist bestrebt, die Vorbereitungsphase der Verhandlungen zeitlich mit dem Beginn der Gesprächsrunden mit Zypern und Malta zusammenzulegen.“ Die Gesprächsrunden sollen sechs Monate nach Abschluß der Regierungskonferenz beginnen, „um dabei den Ergebnissen der Konferenz Rechnung tragen zu können“. Konkret heißt dies, daß mit einem Beginn der Verhandlungen frühestens Ende 1997 oder Anfang 1998 zu rechnen ist. Der Beitritt der besten Schüler könnte also, rechnet man zu Ende, frühestens im Jahre 2002 ratifiziert werden.

Von den Hauptentscheidungsträgern der Union waren Deutschland und Großbritannien – aus unterschiedlichen Gründen – von Anfang an die glühendsten Befürworter der Erweiterung, wobei Kanzler Kohl sich sogar zu dem Versuch verstieg, seine Kollegen vor dem Gipfel in Madrid unter Druck zu setzen: Er wünschte sich eine formelle Verpflichtung gegenüber Polen, Tschechien und Ungarn – dem Berliner „Jagdrevier“.

Frankreich zeigte zwar nicht dieselbe Eile, nähert sich aber der deutschen Position aus vornehmlich strategischen Gründen immer mehr an. Präsident Chirac hat denn auch bei seinem Besuch in Warschau Mitte September betont, daß er eine Erweiterung der Europäischen Union – im Unterschied zur Nato-Erweiterung – vorbehaltlos befürworte, allerdings unter der Voraussetzung, daß sie mit der notwendigen institutionellen Reform einhergeht. Damit liegen Bonn und Paris zwar offenbar auf der gleichen Wellenlänge, doch die Schwierigkeiten der Regierungskonferenz und die schlechte Konjunkturlage in beiden Ländern sind nicht dazu angetan, die Entwicklung zu beschleunigen. Beide kennen die Hindernisse, die noch auf dem Wege liegen, und begnügen sich deshalb fürs erste mit der eher vagen Madrider Erklärung.

In London sieht es ähnlich aus; hier kämpft man erbittert darum, einen Modus der Erweiterung zu finden, der den Institutionen der EU keinen weiteren Machtzuwachs einräumt. Die britische Regierung unterstützt den Beitritt der Länder Ost- und Mitteleuropas weiter ungebrochen, legt sich aber nicht mit neuen Versprechungen fest. Ihr Ziel ist es, die Weiterentwicklung zu einem Vereinten Europa zu blockieren und die Union auf eine reine Freihandelszone mit begrenzter gemeinsamer Politik zu reduzieren. Italien wiederum hat sich nie eindeutig erklärt, es ist hin und her gerissen zwischen der Zugehörigkeit zum „Club der nördlichen Länder“ einerseits und dem wachsenden Druck der Mittelmeeerländer andererseits, die fürchten, daß sich der Schwerpunkt der Union – und damit auch die Subventionen für die förderungsbedürftigen Länder – in den Nordosten verlagern könnte.

Angesichts dieser Ungewißheit ist die Regierungskonferenz von entscheidender Bedeutung. Bei einer Aufnahme der Länder Osteuropas müßte die Funktionweise der Europäischen Union grundsätzlich revidiert werden. Nach den aktuellen Verfahrensregeln kann die Gemeinschaft mit zwanzig oder mehr Mitgliedern nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren. Und an diesem Punkt hört der Konsens auf, denn London widersetzt sich jeder Änderung der Entscheidungsverfahren innerhalb des Europarats.

Diese Verfahren flexibler zu machen ist jedoch für Jacques Santer, den Präsidenten der Kommissson, eine Conditio sine qua non für die künftige Erweiterung. Ähnlich wie die „Integrationisten“ – Deutschland, Niederlande und Belgien an der Spitze – glaubt er, daß eine geographische Erweiterung Europas ohne gleichzeitige Vertiefung der Gemeinschaft die „europäische Idee“ auf das Freihandelskonzept Margaret Thatchers reduziert. „Wir können nicht akzeptieren, daß sich die Europäische Union auf eine einfache Freihandelszone ohne weitere Ziele beschränkt“, warnt Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker.

Eine Aufnahme neuer Mitglieder ist nur dann möglich, so die Beneluxländer, wenn die Gemeinschaft gleichzeitig in eine neue Phase der ökonomischen und politischen Integration eintritt: Ein Scheitern der Regierungskonferenz und vor allem der Einheitswährung wäre also das absehbare Ende für jede Hoffnung auf schnelle Erweiterung. Klaus Haensch, der Präsident des Europaparlaments, macht den etwas flexibleren Vorschlag, zunächst eine Gruppe von „Neuen“ aufzunehmen und dann eine Konferenz über Reform der Institutionen einzuberufen.

Neben der Frage des Vetorechts stellt sich mit einer Erweiterung auch die heiklere Frage der Gewichtung der Stimmen und der Zahl der Kommissare. Die kleinen Länder weigern sich, auf eigene Vertreter in der Kommission zu verzichten, und wollen auch nicht, daß ihre Sprachen von der langen Liste der offiziellen Sprachen der Union gestrichen werden. Der belgische Außenminister Erik Derycke hat kürzlich vorgeschlagen, die Gewichtung der Stimmen dahingehend zu modifizieren, daß neben demographischen Faktoren auch finanzielle und wirtschaftliche Faktoren veranschlagt werden. Wie aber wäre dann das Gewicht von Tschechien – das allgemein als aussichtsreichster Beitrittskandidat gilt –, dessen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, durch einen künstlichen Wechselkurs verfälscht, 20 Prozent unter dem von Griechenland liegt?

Zwölf assoziierte Mitgliedsstaaten der EU sind Beitrittskandidaten: Neben Zypern und Malta umfaßt die Liste Bulgarien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechien, die Slowakei und Slowenien, das seit der Aufhebung des italienischen Veto im Juni 1996 assoziiertes Mitglied ist.1 Einen gleichzeitigen Beitritt all dieser Staaten kann sich niemand vorstellen, aber die Aussicht, jeden Kandidaten „nach seinen Verdiensten“ klassifizieren zu müssen, würde das Klima vergiften. De facto stehen zwei Vorgehensweisen zur Wahl.

Bei der ersten Variante würde der Rat direkt nach Abschluß der Regierungskonferenz, gestützt auf die Empfehlungen der Kommission, eine Liste von vorrangigen Ländern erstellen und mit diesen ein Datum für den Beginn der Verhandlungen festlegen, während die übrigen Länder auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet würden. Dieser Modus paßt natürlich den Ländern ins Konzept, die am besten im Rennen liegen: Tschechien, Polen und Ungarn. Slowenien ist ein wahrscheinlicher Kandidat, die Slowakei ein schwieriger Fall.2 Politisch jedoch wäre es für das Europaparlament unangebracht, die Mehrheit der Kandidaten, die weniger günstig im Rennen liegen, links liegenzulassen. Bei der zweiten Verfahrensvariante kämen dagegen alle Kandidaten gleichzeitig an den Start; sie würden jedoch zu unterschiedlichen Zeiten am Ziel ankommen. „Unmöglich“, heißt es dazu in der Kommission: Wie soll man mit zwölf Ländern gleichzeitig offizielle Verhandlungen führen?

Peter Ludlow, Leiter des angesehenen Centre for European Policy Studies, warnt davor, aus praktischen Erwägungen heraus die geopolitische Dimension aus den Augen zu verlieren. „Wenn die Erweiterung in erster Linie das Ziel hat, die Stabilitätszone der Europäischen Union auszudehnen und damit zum Bau eines neuen, sicheren Europa beizutragen, dann sind die Argumente gegen ein voreiliges Auseinanderdividieren der einzelnen Kandidaten sehr stark.“ In dieser Sicht erfordert der Zusammenhang zwischen der Erweiterung der Europäischen Union und der parallel, wenn auch vielleicht (unter dem Druck der Vereinigten Staaten) rascher verlaufenden Erweiterung der Nato, gesonderte und tiefergreifende Überlegungen.

In einem Bericht vom 17. April 1996 schlägt das Europäische Parlament für den zukünftigen Unionsvertrag eine sogenannte Suspensionsklausel vor, die sich gegen alle Länder richten würde, die gegen die Menschenrechte und andere demokratische Grundsätze verstoßen. Diese Aspekte verdienen, meint man in Straßburg, ebensoviel Aufmerksamkeit wie etwa die Harmonisierung der Gesetzgebung der kandidierenden Länder mit den Gesetzen der Gemeinschaft. Der Bericht sieht außerdem „dauerhafte Partnerschaftsabkommen“ mit jenen Ländern vor, die nicht Mitglieder der Union werden „können oder wollen“.

Wenn Jahre wie Jahrzehnte wiegen

UNTERDESSEN haben die EU und die Länder Ost- und Mitteleuropas seit der Unterzeichnung der Assoziationsabkommen vielfältigste Mittel und Wege der Zusammenarbeit geschaffen, von der Unterstützung im Rahmen des Phare- Programms bis hin zum jüngst eröffneten „strukturierten Dialog“ zwischen der Europäischen Union und den Kandidatenländern.3 Diese vertieften und fast täglichen Kontakte geben den diversen Kandidaten die Möglichkeit, ihre Klagen nachdrücklicher vorzubringen. „Wir sind es leid, uns bei diesen Treffen mit den elementarsten Problemen gewisser Länder zu befassen, die nichts anderes tun, als die wirtschaftlichen Reformen zu untergraben. Ein solcher ,strukturierter Dialog‘ bringt uns nichts Neues“, erklärte sich vor kurzem ein tschechischer Minister. Bulgaren, Ungarn und Polen wiederum sind über die EG-Beschränkungen für den Import landwirtschaftlicher Produkte verärgert. Und sie sind es leid, immer wieder darauf hinzuweisen, wie groß der Widerspruch ist zwischen der in politischen Reden viel zitierten Solidarität einerseits und den strengen Beschränkungen andererseits, die überall dort existieren, wo es um finanzielle oder branchenspezifische Interessen geht.

Was wirklich zur Debatte steht, ist die Frage, ob die EU in der Lage ist, ihre Erweiterung nach Osten zu „verdauen“, ohne die kostspieligsten Bereiche ihrer Politik zu gefährden, also in erster Linie das EG-Agrarprogramm und den Strukturfonds für die förderungsbedürftigen Regionen, die zusammen 80 Prozent des EG-Haushaltes ausmachen. Beide Programme würden aufgrund der derzeitigen Regelungen der Gesamtheit der Länder Mittel- und Osteuropas zugute kommen. Franz Fischler, der EU-Kommissar für Landwirtschaft, schätzt die zusätzlichen Aufwendungen für die EG-Agrarpolitik ab dem Jahr 2010 auf jährlich 12 Milliarden ECU. Was die Struktur- und Konsolidierungsfonds betrifft, so muß man nach durchgesickerten internen Informationen mit 38 Milliarden rechnen, doch hat die Kommission inzwischen ihre Prognosen berichtigt und spricht jetzt von zusätzlichen Aufwendungen in Höhe von lediglich 9 Milliarden ECU jährlich.4

Betrachten wir die Dinge differenziert. Die Union öffnet die Pforten nicht für alle gleichzeitig, und die Neuankömmlinge werden Übergangsphasen durchlaufen, die für die einzelnen Wirtschaftszweige unterschiedlich lang sind, damit sich die Belastung verringert. Zudem ist ihr Anspruch auf Förderung klar begrenzt. Irland, Portugal, Spanien und Griechenland, die ja auch jeden neuen Beitritt ratifizieren müssen, werden schon darauf achten, daß die Regeln der Strukturpolitik nicht geändert werden.

Die westeuropäische Öffentlichkeit ist nicht zuletzt über die Kosten der Erweiterung besorgt5, weil sie nur unzureichend informiert ist, welche Vorteile die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa für den Westen bietet. Der Export aus den Ländern der Europäischen Union nach Osten ist seit 1990 beträchtlich angewachsen: von circa 20 Milliarden ECU auf 49,3 Milliarden im Jahre 1995 (von insgesamt 589 Milliarden ECU an Exporten aus der Europäischen Union in Drittländer). Die angekündigte Überschwemmung des landwirtschaftlichen Marktes der Gemeinschaft mit Waren aus dem Osten ist bislang ausgeblieben, da sich die Märkte kaum einen Spaltbreit geöffnet haben und die Landwirtschaft im Osten weitgehend darniederliegt. Dagegen konnten bereits Dutzende westeuropäischer Unternehmen ihren Umsatz durch Zulieferungen aus Ost- und Mitteleuropa hochpuschen, indem sie von den dortigen Schleuderpreisen für Rohstoffe und Arbeitskräfte profitierten.

Die Kosten der Erweiterung müssen also neben die Gewinne gestellt werden, die sich innerhalb der letzten fünf Jaren bereits angesammelt haben. Und diese Gewinne der jetzigen EU-Länder werden nach Ansicht des stellvertretenden polnischen Ministers für die EU-Integration, Jacek Saryusz-Wolski, zwangsläufig noch steigen. Angesichts dessen gehen manche schon so weit, die Frage aufzuwerfen, ob es für die Europäische Union – aus rein ökonomischer Sicht – nicht besser wäre, auf jede Erweiterung zu verzichten. Doch die Schwergewichtler der Union mit Deutschland und Frankreich an der Spitze sind in ihrer Argumentation von der „Versöhnung Europas mit sich selbst“6 zu weit gegangen. Sie können die Entwicklung jetzt nicht mehr stoppen, ohne Gefahr zu laufen, in einer ohnehin unberechenbaren Region erhebliche Schäden anzurichten. In Brüssel wird schon darüber spekuliert, ob es nicht an der Zeit sei, auch die Kosten einer eventuellen Nichterweiterung zu beziffern.

Die Debatte über die Mitgliedschaft fällt in der Tat mit einer Vertiefung der Krise in der Union zusammen. Sie dreht sich zugleich um die Vorbereitung der Währungsunion und das neue Fünfjahresbudget, aber auch um die steigende Arbeitslosigkeit und das schwindende Vertrauen in das Projekt der Gemeinschaft. Auch der Schock, der auf den Fall der Berliner Mauer folgte, ist nur schwer zu verdauen. Es wäre daher ungerecht, einseitig nur den mangelnden Willen und den zähen Verlauf zu verurteilen, denn am Ende dieses Jahrhunderts wiegt jedes Jahr soviel wie ein Jahrzehnt. Schließlich hat im Laufe der letzten fünf Jahre die europäische Denkweise auch Fortschritte gemacht. Was früher ein ferner Traum war, gehört heute, zumindest für manche Länder, zu ihrem täglichen Arbeitspensum.

dt. Esther Kinsky

1 Das slowenische Parlament hat den „spanischen Kompromiß“ anerkannt, der den Angehörigen der ehemaligen italienischen Minderheit gestattet, unter bestimmten Bedingungen in Slowenien Immobilien zu erwerben.

2 Diese Einschränkung bezieht sich auf die Mißbilligung der EU gegenüber Verstößen der Regierung Mečiar gegen gewisse demokratische Grundsätze.

3 Das Programm „Phare“ trägt zur wirtschaftlichen Umstrukturierung der Länder Ost- und Mitteleuropas bei. Das Programm wird mit 1 Milliarde ECU aus dem EU-Haushalt finanziert und von Unternehmen der Mitgliedstaaten verwirklicht.

4 1 ECU = 1,92 DM am 2. Oktober 1996. Die Gesamtausgaben der Gemeinschaft sind 1995 um 66,3 Milliarden ECU gestiegen.

5 Dem von der Kommission im Herbst 1995 veröffentlichten Eurobarometer zufolge befürworten nur 17 Prozent der Bürger der Europäischen Gemeinschaft die Erweiterung nach Osten. 56 Prozent jedoch sind überzeugt, daß die Länder der Visegrad-Gruppe im Jahre 2010 in der Europäischen Gemeinschaft sein werden.

6 Lieblingssatz von Jacques Santer zur Erklärung der Notwendigkeit einer Erweiterung.

* Korrespondent der tschechischen Presseagentur CTK in Brüssel.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Karel Bartak