11.10.1996

Geteiltes Zypern - vereint in die EU?

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Geteiltes Zypern - vereint in die EU?

Von

ÉRIC

ROULEAU

WENN man fast auf den Tag genau 22 Jahre nach dem „Ereignis“ erstmals wieder nach Zypern kommt, erkennt man die Insel kaum wieder. Der gescheiterte Staatsstreich vom 15. Juli 1974, den die Athener Junta gegen den damaligen Staatspräsidenten, Erzbischof Makarios, organisiert hatte, scheint nur ein paar unangenehme Erinnerungen hinterlassen zu haben.

Nicos Sampson, der Putschpräsident, wirkt nach Ablauf seiner Haftstrafe wieder als Zeitungsherausgeber. Von der rechtsextremistischen Organisation EOKA-B, der seine Hintermänner damals angehörten, ist nichts übriggeblieben; auch die faschistoide Junta in Athen ist längst Vergangenheit. Und für die Idee der „Enosis“ (Anschluß an Griechenland), die damals die Putschisten beflügelte, engagiert sich heute niemand mehr offen. Natürlich fühlen sich die griechischen Zyprioten nach wie vor der hellenischen Kultur verbunden, aber den Enosis-Traum haben sie längst aufgegeben. Schließlich mußten sie ihn auch teuer bezahlen: Der Norden der Insel ist bis heute von der türkischen Armee besetzt. Deren Invasion vom 20. Juli 1974 war die Reaktion auf einen Putsch, der genau darauf zielte, die Insel gegen den Willen der türkisch-zypriotischen Volksgruppe mit der „Mutter Griechenland“ zu vereinigen.

Bis heute kontrollieren die Truppen aus Anatolien, die etwa 35000 Mann stark sind, 37 Prozent des Territoriums. Nicosia ist nach dem Fall der Berliner Mauer die einzige geteilte Stadt der Welt. Die 180 Kilometer lange Demarkationslinie, die den griechischen Süden vom türkischen Norden der Insel trennt, verläuft mitten durch die Altstadt, und jeder Blick über den Stacheldraht trifft unweigerlich auf die türkische Fahne: Sie prangt als bombastisches Fresko an den Berghängen im Norden. Eine höhnische Botschaft an alle, denen die Präsenz einer ausländischen Macht unerträglich vorkommt. Und natürlich kreisen alle Gespräche um die „Besetzung“, mit der für die griechischen Zyprioten ihre Chronologie der Ereignisse beginnt.

Das Trauma von 1974 wirkt also nach, obwohl der Südteil der Insel seither einen bemerkenswerten Wirtschaftsaufschwung erlebt hat. Nicosia besitzt eine moderne Infrastruktur, überall entstehen elegante Wohnhäuser, gibt es neue Restaurants für gehobene Ansprüche, die vielen Luxuslimousinen sind unübersehbar. Obwohl die „Katastrophe“ von 1974 den Verlust von 70 Prozent der nationalen Ressourcen bedeutete und einen Flüchtlingsstrom von etwa 180000 griechischen Zyprioten auslöste, gilt Zypern inzwischen als eine der stabilsten Volkswirtschaften Europas.

Tatsächlich ist Zypern neben Luxemburg derzeit das einzige Land, das die Maastricht-Kriterien erfüllt: Es hat eine stabile jährliche Wachstumsrate von 5 Prozent, ein begrenztes Haushaltsdefizit (weniger als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts), eine erträgliche Staatsverschuldung (weniger als 60 Prozent des BIP), eine Inflationsrate von knapp 2,6 Prozent und eine extrem niedrige Arbeitslosenrate von 2,5 Prozent. Mit Ausnahme der Industrie sind alle Wirtschaftszweige in der EU konkurrenzfähig – Zypern hat bereits einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt.

Im Augenblick wird mit Brüssel vor allem über die Freigabe der Zinssätze verhandelt, die dazu beitragen soll, den überhöhten Kurs des zypriotischen Pfunds zu korrigieren und damit die Exporte und den Tourismus zu beleben; in beiden Bereichen droht die Entwicklung zu stagnieren. Heute liegt das Pro-Kopf-Einkommen (12000 Dollar im Jahr) schon deutlich über dem von Griechenland oder Portugal; und viermal höher als das Durchschnittseinkommen der Zyprioten nördlich der Demarkationslinie. Daß der Lebensstandard in der „Türkischen Republik Nordzypern“ um so viel niedriger liegt, hat auch damit zu tun, daß der Separatstaat im Norden international nur von der Türkei anerkannt ist.

Die Gründe für das Wirtschaftswunder im Süden liegen auf der Hand: die griechische Republik Zypern ist ein international anerkannter Staat, und er hat seine Chancen genutzt. Neben der konsequenten staatlichen Wirtschaftspolitik kamen dem Land auch sein hohes Ausbildungsniveau und die dynamische Entwicklung des privaten Sektors zugute. Der hat es auch verstanden, in einer ganzen Reihe günstiger Konjunkturphasen enorme Profite zu machen: während des Ölpreisbooms von 1973 und 1981, im Gefolge der Bürgerkriegswirren im Libanon und in Jugoslawien oder nach dem Zerfall der Sowjetunion. Stets war die Folge ein beträchtlicher Kapitalzufluß (wie man hört, auch aus illegalen Aktivitäten), in eine Steueroase, die sich rund 20000 Firmen als „Off- shore-Adresse“ anbot. Nach Auskunft des Präsidenten der Zentralbank, Afxentis Afxentiou, bedeuten die Aktivitäten dieser ausländischen Firmen pro Jahr einen Zufluß von über 400 Millionen Dollar.

Der Wirtschaftsaufschwung veranlaßte die Europäische Union im Juni 1993, Zypern die Beitrittsfähigkeit zur Europäischen Union zu attestieren. Im März 1995 beschloß man, sechs Monate nach Abschluß der Turiner Regierungskonferenz mit den Beitrittsverhandlungen zu beginnen, also voraussichtlich 1998. Daß bei dieser Entscheidung der Eindruck entstand, die Republik Zypern werde auch dann in die EU aufgenommen, wenn die Insel bis dahin nicht wieder vereint sein sollte, hat zweierlei bewirkt: Zum einen versöhnte sie das von 22 Jahren fruchtloser Verhandlungen verbitterte Griechenland. Zum anderen verärgerte sie die Türkei. Dort sah man in dem Beschluß – nicht ganz zu Unrecht – ein Druckmittel, um die türkische Seite zur Annahme des Kompromißvorschlags zu bewegen, den die internationale Gemeinschaft vorgelegt hat.

Daß die vielen international gebilligten Wiedervereinigungspläne von den Türken stets abgelehnt wurden, lag an zwei Forderungen, die sie für unannehmbar halten: Die Insel sollte wieder als ein gemeinsamer souveräner Staat konstituiert werden (die türkische Seite wünschte sich dagegen eine separate Souveränität), und die Besatzungstruppen sollten das Land verlassen.1 Im Gegenzug sollten die griechischen Zyprioten ein föderatives, bizonales Staatswesen für die beiden Bevölkerungsgruppen akzeptieren. Mit anderen Worten: Die türkische Bevölkerung (knapp 20 Prozent der Inselbewohner) wäre der griechischen Mehrheit gleichgestellt. Sie könnte weitgehende Autonomie im Norden genießen und zudem gleichberechtigter Partner in einer Zentralregierung sein, die für die Außen-, Verteidigungs- und Finanzpolititk der Föderation zuständig wäre.

Um dem Sicherheitsbedürfnis der türkischen Zyprioten Rechnung zu tragen, hat die griechische Seite eine völlige Entmilitarisierung vorgeschlagen. Nach der Auflösung der Verbände beider Seiten könnte eine internationale Schutztruppe einrücken, die von Nato, EU oder UNO gestellt werden und in jedem Fall ein starkes türkisches Kontingent umfassen sollte. Diese Truppe würde das Recht haben, nach eigenem Ermessen einzugreifen, ohne jeweils die mandatsführende Organisation konsultieren zu müssen.

Dieser Kompromißvorschlag wird jedoch von der Türkei abgelehnt, die heute eine selbständige Streitmacht auf der Insel unterhält, angeblich um „die Sicherheit der türkischen Bevölkerung“ zu gewährleisten. Tatsächlich geht es wohl eher darum, über eine Militärbasis zu verfügen, die für die Verteidigung der südanatolischen Küste als unerläßlich gilt. Zudem lehnt auch die Regierung der türkischen Zyprioten jede Kompromißlösung ab, die nicht zwei voll souveräne Staaten im Rahmen einer Konföderation vorsieht. Diese Ablehnung erklärt ihre diversen Verzögerungsmanöver, die von der UNO mehrfach als Ausdruck „mangelnden politischen Entscheidungswillens“ kritisiert wurden.

„Wir sehen das Licht am Ende des Tunnels“, erklärte im August der Außenminister der Republik Zypern in Nicosia. Alacos Michaelides zeigte sich erfreut, daß die internationale Gemeinschaft nach 22 Jahren Stagnation wieder mehr Interesse an der Zypernfrage bekundet. Tatsächlich gaben sich auf Zypern in jüngster Zeit die Vermittler und Sonderbeauftragten der USA, Großbritanniens und der UNO die Klinke in die Hand.

Michaelides sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Bemühungen und der Aussicht Zyperns auf eine EU-Mitgliedschaft. Regierungssprecher Jannis Kassoulidis meint, seit dem Ende des Kalten Krieges würden sich die Großmächte wieder mehr um Konflikte zwischen den Nato-Mitgliedsländern kümmern, zumindest mittelfristig wolle man wohl auch die griechisch-türkischen Streitigkeiten beilegen.

Mitte August wurden zwei junge griechische Zyprioten im Niemandsland getötet, aber Unruhen, in die Athen und Ankara zwangsläufig hineingezogen worden wären, blieben aus. Im einen Fall erschlugen gedungene Killer der rechtsextremen „Grauen Wölfe“, die auf Kosten von Außenministerin Çiller aus der Türkei angereist waren, einen jungen Mann, der versuchte, in den türkischen Teil der Insel zu gelangen. Der andere Mann wurde durch einen Herzschuß getötet, als er einen Mast erkletterte, an dem die türkische Fahne wehte.

Wie könnte die Lösung des Konflikts aussehen? Außenminister Michaelides ist, wie alle griechischen Zyprioten, davon überzeugt, daß die beiden Volksgruppen sich einigen könnten, wenn nur die Türkei ihre starre Haltung aufgäbe. Aber natürlich weiß man auch, daß Ankara nur deshalb 22 Jahre lang den Resolutionen der UNO trotzen konnte, weil die Türkei stets Rückendeckung in Washington hatte, wo man vor allem an der Pflege besonderer Beziehungen zum türkischen Staat interessiert ist.

Der zypriotische Außenminister meint dazu halb resigniert, halb entschlossen: „Wir sehen die Lage realistisch, und natürlich wissen wir, daß die USA als derzeit einzige globale Großmacht die Führung der türkischen Streitkräfte zu einer veränderten Haltung bewegen könnte.“ Aber zugleich betont er: „Für uns ist äußerst wichtig, daß die Europäer ihren Einfluß geltend machen, schließlich hängt ihre Sicherheit aufs engste von der Lage im östlichen Mittelmeer ab. Ihr Interesse fällt also mit dem unseren zusammen: Wir müssen eine dauerhafte, also eine gerechte Lösung finden.“

dt. Edgar Peinelt

1 Siehe Christophe Chiclet, „Chypre, toujours divisée, toujours meurtrie ...“, Le Monde diplomatique, Dezember 1994.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Eric Rouleau