11.10.1996

Französisches Überholmanöver

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Französisches Überholmanöver

ÜBER die Jahre 1955 bis 1965 – in Frankreich die Übergangsperiode zwischen der Auflösung des Kolonialreichs und dem Durchmarsch der kapitalistischen Modernisierung – finden sich in der dortigen Geschichtsschreibung kaum eingehendere Untersuchungen. In diese Bresche springt die Literaturprofessorin Kristin Ross von der University of California, die mit ihrem brillanten Essay1 in der Tradition englischer und amerikanischer Cultural Studies dem Verhältnis und den kulturellen Implikationen dieser beiden Gründungsepisoden des zeitgenössischen Frankreich nachgeht.

Die Modernisierung Frankreichs nach amerikanischem Vorbild zu einer Industrie- und Konsumgesellschaft, deren Leitbild die „junge Führungskraft“ wird, erlaubt es, die Widersprüche der eigenen Geschichte (Klassenkampf und Kolonialherrschaft) über Bord zu werfen: Die als „archaisch“ abgestempelten Schichten – Arbeiterklasse und Menschen aus den (ehemaligen) Kolonien – werden an die Peripherie der Städte, der Gesellschaft gedrängt. Durch die Gründung verwaltungstechnischer Institutionen, unter anderem der ENA als Kaderschmiede der Staatsbürokratie, vermag sich die neue Technokratie die Macht im Staate dauerhaft zu sichern – zunächst unter Führung von Pierre Mendès France, ab 1958 unter de Gaulle.

Dieser Wandlungsprozeß ruft eine Kultur auf den Plan, die verstärkend auf ihn zurückwirkt: Die Institutionalisierung der Sozialwissenschaften nach amerikanischem Vorbild und mit amerikanischer Unterstützung zieht eine Abkehr von der Ereignisgeschichte nach sich, zugunsten einer „Geschichte der langen Dauer“ (longue durée), die das Gewicht auf die paradigmatischen Strukturen der Gesellschaften legt. Das aus der Anthropologie und Linguistik herrührende strukturalistische Modell wird zum Garanten von „Wissenschaftlichkeit“ und beherrscht bald nahezu den gesamten geisteswissenschaftlichen Bereich.

Modernität, das ist auch der Kult um das Automobil für den Mann und die Verherrlichung elektrischer Haushaltsgeräte für die Frau – Sinnbilder einer Privatisierung des gesellschaftlichen Lebens, wie sie die neuen Zeitschriften amerikanischer Machart feiern, denen Jean-Jacques Servan-Schreiber und Françoise Giroud damals mit L'Express zum Durchbruch verhalfen. Im Bereich der etablierten Kultur ist es der Nouveau Roman nach Art des gelernten Agraringenieurs Robbe-Grillet, der Ehrgeiz zeigte, als ein neuer Balzac und Schöpfer einer Welt der „Dinge“ aufzutreten, die von allem menschlichen Sinn radikal „gesäubert“ sind. Gleichzeitig feiert im Kino die Nouvelle Vague diese neue Ideologie mit einer Hymne auf das Auto und die Geschwindigkeit, die es ermöglichen, der lästigen Verhaftung in der eigenen Gesellschaft und Geschichte zu entkommen.

Eine Minderheit jedoch ist um eine kritischere Betrachtungsweise bemüht: Theoretiker wie Henri Lefebvre oder Cornelius Castoriadis; Romanschriftsteller (hier sind es vor allem Schriftstellerinnen) wie Christiane Rochefort, Simone de Beauvoir, Elsa Triolet, Claire Etcherelli oder Georges Perec; Filmemacher wie Jacques Tati; und, nicht zu vergessen, die Stimmen der Unterdrückten, vor allem auch aus den ehemaligen Kolonien, wie Frantz Fanon oder Aimé Césaire.

GENEVIÈVE SELLIER

dt. Miriam Lang

1 Kristin Ross, „Fast Cars, Clean Bodies, Decolonization and Reordering of French Culture“, The MIT Press, Cambridge, Massachusetts 1995, 260 Seiten.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Genevieve Sellier