Osterweiterung der EU - der große Sprung ins Ungewisse
OBWOHL die Europäische Kommission in Brüssel den Beitritt der zehn EU-Kandidaten im Osten frühestens für das Jahr 2002 ins Auge faßt, hat sich Jacques Chirac am 12. September in Warschau für eine Aufnahme Polens im Jahr 2000 ausgesprochen. Allerdings ist keines der vielfältigen institutionellen und finanziellen Probleme, die eine solche Erweiterung mit sich bringen würde, bisher auch nur ansatzweise gelöst. Die rhetorische Flucht nach vorn, die die Betroffenen besser nicht wörtlich nehmen sollten, ist nur ein weiteres Indiz dafür, daß innerhalb der fünfzehn Mitgliedstaaten nach wie vor keine gemeinsame Vorstellung von Europa existiert.
Von PETER GOWAN *
Ende der achtziger Jahre waren die Bedingungen in den Ländern Mittel- und Osteuropas für ein wirtschaftliches Vordringen des Westens außerordentlich günstig. Die meisten dieser Länder „wogen“ in der Handelsbilanz nicht schwer genug, um mit den zwölf EWG-Staaten gleichberechtigt verhandeln zu können. Da sie mit dem Ende des Comecon auch ihre früheren Handelsbeziehungen eingebüßt hatten, benötigten sie dringend Zugang zu den Märkten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wie die EU damals noch hieß1. In dieser Zeit, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als sie – hochverschuldet – verzweifelt Kredite suchten, wurden ihnen von den westlichen Banken neue Anleihen verweigert.
Neben der ökonomischen Abhängigkeit verstärkte sich auch die ideologische Affinität zwischen den neuen Eliten und den Geschäftsleuten in der EWG.2 Die Intelligenzija im Osten propagierte die reine neoliberale Lehre und den Slogan „Auf nach Europa!“. Die Regierungen selbst machten sich gegenseitig mit Unterwerfungserklärungen gegenüber den Auflagen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der internationalen Geldinstitute Konkurrenz. Unter diesen Voraussetzungen einigten sich EWG und USA schnell auf eine gemeinsame Formel bezüglich des Einflusses, den sie auf die Innenpolitik dieser Staaten zu nehmen gedachten: In diesen Ländern müsse man die gleichen „Strukturanpassungsmaßnahmen“ in die Wege leiten, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank bereits in Lateinamerika erprobt hatten. Präsentiert werden sollte das Ganze als ein System von „Reformen“, die für den Übergang in die Marktwirtschaft unerläßlich seien.
Tatsächlich handelte es sich um institutionelle Methoden, um den westlichen Unternehmern möglichst breiten Zugang zu diesem neuen Markt zu verschaffen. Um die Botschaft zu untermauern, drohte man damit, dem Osten den Zugang zu westlichen Märkten und Kapitalgebern, zu den Hilfsprogrammen der Gemeinschaft und der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu versperren. Diese auf dem G-7-Gipfel im Sommer 1989 in Paris vereinbarte gemeinsame Strategie geriet durch den Schock der deutschen Vereinigung zeitweilig ins Wanken. Als dann klar wurde, daß Kanzler Kohl die Einheit über die Annexion der DDR auf die Schnelle verwirklichen wollte, sprach sich Präsident Mitterrand dagegen aus und präsentierte an Silvester 1989 sein Projekt einer europäischen Konföderation.
In einem kürzlich erschienenen Buch rekapituliert Hubert Védrine, seinerzeit Generalsekretär im Elyseepalast, die damalige französische Position. Mitterrand stellte fest, daß die Länder Mittel- und Osteuropas „erst in einigen Jahren in der Lage sein werden, der Gemeinschaft beizutreten, ohne weder sich selbst wirtschaftlich noch die Gemeinschaft finanziell und institutionell zu zerstören“. Deshalb schlug er vor, „alle Länder Europas sollten sich gleichberechtigt und gleichwertig in einer neu zu schaffenden Organisation – einer politisch-juristischen ,Konföderation‘ – zusammenschließen, um in diesem Rahmen Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zu regeln“.3
Diese Rückwendung zur französischen und insbesondere de-Gaulleschen Tradition eines Gegenbündnisses, das auf die Macht der Sowjetunion als Gegengewicht zur neu auftauchenden Macht Deutschlands setzte, verlief im Sande. Die erste Versammlung dieser Konföderation, die vom 12. bis 14. Juli 1991 in Prag stattfand, war auch schon die letzte.
Die wichtigste Konsequenz der deutschen Einigung bestand erstens darin, daß der geringe Einfuß auf die Gemeinschaft, den die osteuropäischen Länder künftig erhoffen konnten, noch weiter reduziert wurde; und zweitens darin, daß ihre Bemühungen um eine gemeinsame Reorganisation immer aussichtsloser wurden, weil sich deutlich abzeichnete, daß Helmut Kohl in allererster Linie den Wiederaufbau der Ex-DDR voranzutreiben gedachte, und dies vor allem auf finanzieller Ebene. Ein stabiler Einfluß der Zwölf in den Ländern Mittel- und Osteuropas schien – wie es später in einem Memorandum der CDU/CSU von 1994 formuliert wurde4 – die nötige Garantie zu bieten, die gerade der Hauptkunde und -lieferant Deutschland an seinen Ostgrenzen dringend brauchte.
Das einzig wirklich große Problem war der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Aber Kanzler Kohl gab seine anfängliche Rolle als politischer Vormund Kroatiens sehr schnell wieder auf, um eine Spaltung der Zwölf aufgrund gegensätzlicher „Patenschaften“ für die Konfliktparteien zu verhindern.
Auf diese Weise kam die Anpassung der Wirtschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa an die Regeln der internationalen Arbeitsteilung im Westen mit großen Schritten voran. Anfang der neunziger Jahre verfügten die Länder der Visegrad- Gruppe5 über Exportkapazitäten in Bereichen, in denen sie mit den westeuropäischen Produktionen konkurrieren konnten: Stahl, Textil und Konfektion, Landwirtschaft, Chemie und Kohle. In allen vier Ländern lösten die von IWF und Weltbank propagierten Strukturanpassungsprogramme eine Rezession aus, so daß die Unternehmen bei Strafe des Untergangs zum Exportieren gezwungen waren; der starke Verfall der Währungen verschärfte die Lage. Wie in Lateinamerika mußten sie darauf aus sein, ihre Schulden durch Gewinne aus dem Exportgeschäft zu tilgen.
Mit Hinweis auf diesen Exportzwang, der auch in den Richtlinien des IWF enthalten war, orchestrierte die Bush-Administration eine Kampagne, mit der sie nachweisen wollte, daß die Europäische Gemeinschaft im Interesse der europäischen Einigung große Teile ihrer Handelspolitik wie auch ihrer gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) abbauen müsse. In diesem Sinn äußerte sich Staatssekretär James Baker in einer Rede am 18. Juni 1991 in Berlin. Diese Kampagne war Bestandteil der amerikanischen Offensive gegen die europäischen Positionen in den Abschlußverhandlungen der Uruguay- Runde über das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt).
Für die Mitglieder der Gemeinschaft war dieser Exportschub aus dem Osten gerade in den „sensiblen“ Sektoren unannehmbar, denn ihre Volkswirtschaften trudelten durch das hohe deutsche Zinsniveau und den Kapitaltransfer aus der Bundesrepublik in die fünf neuen Länder selber in die Rezession. Die Handelsklauseln der Assoziierungsabkommen, der sogenannten Europa-Abkommen, zwischen den Zwölf und den Ländern Mittel- und Osteuropas sahen vor, daß der Export von Waren aus dem Osten blockiert werden konnte, wenn er die Marktanteile von Produzenten aus dem Westen ernsthaft bedrohte.
Das löste in den Volkswirtschaften im Osten eine schwere Krise aus, die zur Vernichtung eines großen Teils ihrer Produktionskapazitäten führte. Als sich in den Ländern der Visegrad-Gruppe ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung vollzog, ging dieser eher auf die wiederbelebte Inlandsnachfrage als auf Exportsteigerungen zurück. Damit wurden die Länder Mittel- und Osteuropas für die Zwölf wieder zu einer wichtigen Quelle von Handelsüberschüssen.
Im Zug gen Süden?
AUF mikroökonomischer Ebene waren die Auflagen der internationalen Finanzinstitutionen ein wirksamer Anreiz für die Direktoren der hochverschuldeten Staatsunternehmen des Ostens, Übernahmepartner in der EU zu suchen. Das EU- Programm „Phare“ war weitgehend zu diesem Zweck geschaffen worden. Die – auf Initiative Frankreichs gegründete – Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung drängte ebenfalls auf solche Privatisierungen. Resultat: Die wichtigsten Wirtschaftsunternehmer aus dem Westen konnten ihre Produktionseinheiten im Osten im Rahmen ihrer Globalstrategie umstrukturieren.
Zunehmend wurden die Staaten Mittel- und Osteuropas zu untergeordneten Elementen einer im Westen festgelegten Arbeitsteilung. Diese Art der Integration wurde noch verstärkt durch die Meistbegünstigungsklauseln in den Assoziierungsabkommen, denn diese legten fest, daß die Staatsunternehmen im Osten den Beziehungen zu Produzenten in der EU Vorrang einzuräumen hatten.
In der ersten Hälfte der neunziger Jahre lief die ökonomische Umgestaltung der mittel- und osteuropäischen Länder im allgemeinen als Umstrukturierung von unten ab. Die fortgeschrittensten traditionellen Sektoren mit starkem Wertzuwachs waren – wegen ihrer langjährigen Ausrichtung auf den sowjetischen Markt – größtenteils unfähig, sich nach Westen umzuorientieren. Die Hochtechnologiebereiche wurden entweder von westlichen Unternehmern aufgekauft oder brachen zusammen. Die Kapazitäten von Forschung und Entwicklung verfielen ebenso wie die Infrastruktur des Bildungssektors.
So liegt nach Ansicht des hohen EU- Beamten John Sheehy „der Vorteil der mittel- und osteuropäischen Länder kurz- oder mittelfristig vermutlich in der Serienproduktion mit niedrigem technologischen Standard, geringem Wertzuwachs und einer hohen Zahl von Arbeitskräften“6. Die Zukunft der osteuropäischen Firmen liegt in ihrer Umwandlung zu Subunternehmen westlicher Firmen, die durch die konkurrenzlos niedrigen Lohnkosten angelockt werden.
Unterstützt wurde diese Umstrukturierung durch die bilateralen Abkommen der EU, die zuerst – 1991 – mit der Visegrad- Gruppe, dann mit Rumänien, Bulgarien, den baltischen Ländern und kürzlich mit Slowenien abgeschlossen wurden. Diese nageln zum einen die Länder Mittel- und Osteuropas auf ihren Status einer EU-abhängigen Peripherie fest. Zum anderen aber sind sie symbolischer Ausdruck dafür, daß diese Länder im Begriff sind, sich zu fortgeschrittenen Volkswirtschaften zu entwickeln und Anschluß an den Kreis der Fünfzehn zu finden. Eine neuere Untersuchung macht diese Ambivalenz deutlich: Danach müssen die Abkommen mit der EU als Beitrag zur Entwicklung eines „Nord-Süd-Gefälles betrachtet werden, das es vom alten Nord-Nord-Gegensatz zu unterscheiden gilt“7.
Die Menschen im Osten, die in diesen Abkommen eine Etappe in Richtung Norden sehen wollten, sitzen in Wirklichkeit im Zug gen Süden. Für die neuen Bourgeoisien im Osten beeinträchtigt dieser untergeordnete Status keineswegs ihr Interesse an wachsenden Bindungen zur EU. Sie sehen diese vielmehr als „eine relativ solide Garantie dafür, daß die unter großen Mühen durchgeführten Reformen nicht wieder in Frage gestellt werden. Die Gewinne dürften nicht exakt quantifizierbar sein, aber doch immens ausfallen, und sie könnten ihnen die Kreditwürdigkeit verschaffen, die für den Übergang unerläßlich ist.“8
Diese Strategie stößt jedoch auf ein Hindernis: Die Union hat sich für die ersten Jahre des nächsten Jahrzehnts zur Aufnahme der Länder Mittel- und Osteuropas in ihren ersten „Pfeiler“ verpflichtet – in die Europäische Gemeinschaft. Das aber hätte zur Folge, daß die ökonomischen und politischen Lasten der östlichen Länder auf die Union verlagert werden. Neben den enormen Kosten einer erweiterten GAP (der Gemeinsamen Agrarpolitik) und der Strukturfonds für eine Entwicklung des Ostens würde die Verarmung eines großen Teils der neuen EU- Bewohner eine Massenemigration nach Westen auslösen. Und das hätte für Länder wie Deutschland unangenehme politische Konsequenzen.
Es kommt hinzu, daß die Unterwerfungshaltung der mittel- und osteuropäischen Länder gegenüber der Europäischen Union vor allem auf den Wunsch zurückgeht, für ihre „gute Führung“ mit der Aufnahme in die Union belohnt zu werden. Sind sie aber erst einmal Vollmitglieder, haben sie die Freiheit zu sagen: Wir können auch anders. Umgekehrt würde die offene Ablehnung ihres Beitritts eine Krise ihrer Beziehungen zur EU bewirken und innenpolitisch wahrscheinlich die Kräfte stärken, die das aktuelle institutionelle Gefüge Europas ohnehin ablehnen. Die Fünfzehn werden daher ganz sicher die Beitrittsperspektiven der assoziierten Länder nachdrücklich bestätigen – und gleichzeitig fest entschlossen sein, ihnen die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union für eine absehbare Zukunft zu verwehren.
Selbst unter der Annahme, daß die erörterten Projekte in den einzelnen mittel- und osteuropäischen Ländern voll in die Innenpolitik integriert würden, wäre der Einflußbereich der Union damit keineswegs endgültig abgesichert. Denn die außergewöhnlichen Umstände, die eine Expansion der EU begünstigt haben, werden nicht von langer Dauer sein: Einerseits ist es unwahrscheinlich, daß sich Rußland noch lange aus den europäischen Angelegenheiten heraushalten wird, andererseits wollen es auch in den Vereinigten Staaten viele nicht hinnehmen, daß die Sicherheit der assoziierten Länder allein den Westeuropäern überlassen bleibt. Für die Russen dagegen scheint es unannehmbar zu sein, daß sämtliche östlichen Randstaaten der Union in naher oder ferner Zukunft zur Nato gehören. Insofern spricht wenig dafür, daß das Problem einer Stärkung der östlichen Peripherie der Union während – oder bald nach – der gegenwärtig laufenden EU-Regierungskonferenz gelöst werden kann.
dt. Sigrid Vagt
1 Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde am 1. November 1993 nach der endgültigen Ratifizierung des Maastrichter Vertrags durch die zwölf Mitgliedstaaten in „Europäische Union“ umbenannt. Die Union setzt sich in der üblichen Terminologie aus drei „Pfeilern“ zusammen. Der erste – in dessen Regelungsbereich der Kommission das alleinige Initiativrecht zusteht – ist die Europäische Gemeinschaft, deren Kompetenzen inzwischen über den ökonomischen Bereich hinausgehen. Der zweite (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Gasp) und der dritte (Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik) Pfeiler sind die Bereiche, die noch von der zwischenstaatlichen Kooperation geprägt sind.
2 Am stärksten waren diese Verbindungen in Polen, am schwächsten in Rumänien.
3 Hubert Védrine, „Les Mondes de François Mitterrand“, Paris (Fayard) 1996.
4 Vgl. dazu Bernard Cassen, „Accélérer la mise en place d'une Europe sur mesure“, Le Monde diplomatique, Oktober 1994.
5 Die Visegrad-Gruppe umfaßt Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei.
6 Europäische Kommission, Generaldirektion II „Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten“. „The Economic Interpenetration Between the European Union and Estern Europe“, European Economy, Nr. 6, 1994.
7 Olivier Cabot, Riccardo Faini und Jaime de Melo, „Early Trade Patterns Under the Europe Agreements: France, Germany and Italy“, Insead Working Papers 94/47/EPS, Fontainebleau 1994.
8 Ebd.
* Professor für europäische Politik an der Universität London-Nord.