Die Gefahr des sozialen Fortschritts ist gebannt
Von
FRANÇOIS
HOUTART *
WILL man das Wirtschaftsmodell verstehen, das die Rechten Anfang der neunziger Jahre etabliert haben, muß man es in einem allgemeinen Kontext betrachten. Die Regierung von Violeta Chamorro setzte als höchste Priorität die Bekämpfung der Inflation durch Einschränkung der Nachfrage (also des Konsums) im Rahmen eines „freien Marktes ohne staatliche Einmischung“1. Das löste eine Kettenreaktion aus: Zum einen konnten die lokalen Betriebe nichts mehr absetzen, weil die Mehrheit der Nicaraguaner keine feste Stelle mehr hat – von 1,2 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter sind 800000 arbeitslos –, zum anderen waren die ausländischen Gelder, die durch die Eindämmung der Inflation angezogen wurden, vor allem spekulatives Kapital.
Die Privatisierungspolitik wurde zum Dogma. Die Bergwerke und Wälder sowie die drei staatlichen Hotels wurden regelrecht verschleudert. „An der Spitze steht das Finanzkapital, das sich als Vermittler betätigt, rechtswidrig Provisionen einkassiert, sagenhafte Gewinne macht und eine enorme Korruption nach sich zieht.“2 Aufgrund der ungerechten Verteilung des Reichtums führt dieses Modell zwangsläufig zu sozialen Konflikten.
Die Auslandsverschuldung konnte dank Umschuldungsprogrammen, Rückzahlungen und einem Schuldenerlaß der Deutschen auf 6,7 Milliarden Dollar reduziert werden. Die Rückzahlungen in den letzten sechs Jahren beliefen sich auf 1,8 Milliarden Dollar und verschlangen 1995 71 Prozent des Exportvolumens.
Der Personalabbau im öffentlichen Dienst und in der Armee, der Zusammenbruch der kleinen und mittleren Betriebe aufgrund der Marktöffnung, das Bevölkerungswachstum und die Verschlechterung des Schulsystems sind die wichtigsten Ursachen für die veränderte Beschäftigungsstruktur. Die Arbeitsplätze im informellen Sektor machten 1995 nach Schätzung der Weltbank 70 Prozent der Gesamtbeschäftigung aus.3 Weil die Weltbank den Exporten große Bedeutung für den Wirtschaftsaufschwung zuschreibt, werden insbesondere Freizonen eingerichtet, in denen sich Billiglohnfabriken, sogenannte maquilas, ansiedeln.
Das Kapital dieser Betriebe stammt zumeist aus Asien, insbesondere aus Taiwan und Südkorea. Die Produktion konzentriert sich vor allem auf Textilien (Kleidung), da dieser Markt von den Exportquoten in die USA profitiert. Mit der Schaffung von rund 7000 Arbeitsplätzen konnten die maquilas die im produktiven Sektor verlorengegangenen Stellen zum Teil auffangen. Doch um welchen Preis?
Zum einen genossen die Investoren höchst vorteilhafte steuerliche Bedingungen: Steuerbefreiung auf Gewinn und Immobilienverkauf sowie die Befreiung von allen Einfuhrzöllen; die Befreiung von indirekten Steuern auf Ein- und Verkauf und von Gemeindesteuern. Zum zweiten hat die Regierung mehr als eine Million Dollar in die Infrastruktur investiert.
Hinzu kommen die ungemein harten Arbeitsbedingungen: Der Produktionsrhythmus in diesen Ausbeuterbetrieben ist äußerst rigide und wird regelmäßig verschärft. Der Arbeitstag dauert neuneinhalb Stunden und hat nur eine Pause, die meist kürzer als fünfundvierzig Minuten ist. Laut einer Umfrage seitens der Universidad Nacional werden lediglich in 20 Prozent der Fälle Produktionsprämien ausbezahlt. Die Löhne liegen um 41,5 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. Mehrere Betriebe zahlen keine Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Die Arbeiter erhalten keine Kopie ihres (normalerweise befristeten) Arbeitsvertrages, und die gesetzlichen Kündigungsfristen werden ignoriert. Die Arbeiter klagen über Lärm, Staub, enge Raumverhältnisse und schlechte Behandlung. Dank eines Abkommens mit der Regierung gibt es in diesen Freizonen keinerlei gewerkschaftliche Aktivitäten.
Früher exportierte Nicaragua Grundnahrungsmittel. Inzwischen ist das Land zu einem Lebensmittelimporteur geworden: Die Banken haben kein Interesse an einer Finanzierung von Landwirtschaft und Viehzucht, weshalb letztere insbesondere nach Costa Rica abwandert.4 Der nationale Viehzüchter- und Bauernverband (UNAG) gibt an, daß es 80 Prozent der Landwirte an Krediten fehlt. Auf über 250000 Hektar Weidefläche steht kein Vieh5, und in der Region von Masaya werden 50 Prozent der Böden nicht mehr kultiviert.
Anfang Mai 1996 veröffentlichte die Zentralbank die Importzahlen für 1995. Die Einfuhren erreichten einen Wert von 956,7 Millionen Dollar, was der Hälfte des Bruttoinlandsproduktes (BIP) entspricht.
In der Ära der sandinistischen Regierung (1979-1989) hatte sich das soziale Gefüge, vor allem auf dem Land, stark verändert. 120000 Bauernfamilien hatte man Felder aus enteignetem Großgrundbesitz überlassen. Etwa 80000 Familien in den Städten erhielten Grundstücke.6 90 Prozent der Bauern verfügen heute über eigenen Boden. In den letzten sechs Jahren haben einige Besitzer ihre Böden zurückerhalten, womit eine neue soziale Schicht entstanden ist, die zwar eine Minderheit darstellt, wirtschaftlich aber einen beträchtlichen Einfluß ausübt. Die alte Handels- und Finanzoligarchie, die 1990 ihre Geschäfte wiederaufgenommen hat, muß heute die Macht mit dieser neuen Gruppe teilen.
Der Staat konnte über enorme Geldmittel aus dem Ausland verfügen, die er jedoch sehr ungleich verteilte, wobei ungestraft Korruption und unerlaubte Beeinflussung im großen Stil praktiziert wurden. Das Eigentum ist, wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern, von der Besteuerung ausgenommen, besteuert werden in erster Linie Produktion und Konsum. Da aber der Konsum aufgrund der paralysierten Wirtschaftstätigkeit zurückging, hat der Staat nicht genügend Mittel zur Umverteilung.
Kein Wunder also, daß eine rapide Verschlechterung des Erziehungs- und Gesundheitswesens festzustellen ist. 1989 gab der Staat 35 Dollar pro Einwohner für Gesundheit aus; 1995 sind es nur noch 14 Dollar. Die ärztliche Geburtshilfe und die Krebsvorsorgeuntersuchungen für Frauen wurden eingeschränkt.
21 Prozent der Bevölkerung im schulpflichtigen Alter (600000 Kinder) haben keine Möglichkeit mehr, eine Schule zu besuchen. Die Lehrer erhalten einen Lohn, der nur ein Drittel ihres Grundbedarfs an Lebensmitteln deckt. Die von den Sandinisten gegründeten Kinderkrippen, mit insgesamt 75000 Plätzen, wurden aufgelöst. Die Analphabetenrate, die vor der sandinistischen Revolution bei über 50 Prozent lag und auf 12 Prozent gesenkt werden konnte, ist wieder auf fast 40 Prozent angestiegen.
Die direkten Folgen dieser Politik sind dramatisch. Wie eine in den ländlichen Regionen durchgeführte Umfrage zeigt7, leben dort 60 Prozent der Familien in äußerster Armut. Das trifft vor allem die Kinder, da unter den armen Familien der Anteil von Kindern unter 14 Jahren am höchsten ist. 1993 lebten 74,8 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 43,6 Prozent fielen in die Kategorie „absolute Armut“.8 Die Weltbank schätzt, daß 80 Prozent der ländlichen Bevölkerung über keinen Wasser- und 30 Prozent über keinen Stromanschluß verfügen.
Doch das ist noch nicht alles. Die Lebenserwartung, die in den letzten Jahren der sandinistischen Regierung auf 66 Jahre angestiegen war, ist mit der Ausbreitung von Infektionskrankheiten, die durch die wachsende Unterernährung begünstigt werden, mittlerweile auf unter 60 Jahre gesunken. Die Kindersterblichkeit ist von 58 pro tausend Geburten im Jahr 1990 auf 72 pro tausend im Jahr 1995 geklettert. Dieses regelrechte Massensterben geht mit einem gesellschaftlichen Zerfall einher, der sich in einer gefährlich wachsenden Kriminalität insbesondere im Zentrum und im Norden des Landes äußert, aber auch in einem hohen Maß innerfamiliärer Gewalt, vor allem in den städtischen Armenvierteln.
All diese Übel können jedoch nicht nur der Regierung von Violeta Chamorro angelastet werden, sondern hängen mit der monetaristischen Politik zusammen, die von den internationalen Finanzorganisationen durchgesetzt wird. Die Behörden haben allerdings den geringen Handlungsspielraum, über den sie verfügen, um das materielle und kulturelle Überleben zahlreicher Bürger zu sichern und die heimische Produktion zu fördern, in keiner Weise genützt. Das hat einen schlichten Grund: Die Machthaber haben ihr Geld in den Handels- und Finanzsektor gesteckt und sind vor allem an einer raschen Vermehrung ihres Besitzes interessiert; die sozialen Folgen kümmern sie nicht.
Die gemeinsamen Bemühungen der Sandinisten, die sich mit ihrer Niederlage abfinden mußten, und der Regierung von Violeta Chamorro haben Nicaragua tatsächlich Frieden gebracht. Auf politischer Ebene ist die Demokratie so real wie in den meisten westlichen Ländern, Presse- und Vereinigungsfreiheit werden respektiert. Doch was ist der Wert einer solchen Demokratie und einer solchen Freiheit, wenn die Mehrheit der Bevölkerung im Elend versinkt und nicht mehr in der Lage ist, ihre individuellen und gesellschaftlichen Rechte wahrzunehmen?
dt. Birgit Althaler
1 La Tribuna, Managua, 3. Mai 1996.
2 a. a. O.
3 Interner Bericht Nr. 14038 vom 1. Juni 1995 mit der Bezeichnung: „Nicaragua, estudio de la pobreza, resumen ejetivo“, Washington.
4 Erklärung von Amilcar Navarro, dem Führer des Nicaraguanischen Landwirte- und Viehzüchterverbandes (UNAG).
5 Envio, Managua, April 1996.
6 „Conflictos dificiles, soluciones parciales“, Iniciativas hemisféricas, Juni 1995, Cambridge, Massachusetts.
7 La Tribuna, Managua, 2. Mai 1996.
8 Sozialministerium, PNUD, Unicef, La Pobreza en Nicaragua, Managua 1995.
* Leiter des Centre Tricontinental und der Zeitschrift Alternatives Sud, Louvain-La-Neuve, Belgien.