11.10.1996

Das Prinzip Vorsicht

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Das Prinzip Vorsicht

OFFENSICHTLICH bestätigt jede ökologische Katastrophe immer nur, was wir schon wissen, daß nämlich die Zerstörung der Umwelt die Allgemeinheit teuer zu stehen kommt, während sie sich für die Verursacher – Einzelpersonen oder Unternehmen – reichlich bezahlt macht. Diesem Widerspruch wollen nun auch die Anhänger der liberalen Marktwirtschaft begegnen, indem sie beispielsweise die Kosten solcher Schäden berechnen und den Umweltverschmutzern anlasten. Wird bei einer solchen Zahlenhuberei nicht etwas zu schnell vergessen, daß dadurch auch irreparable Schäden entstehen können? Wie etwa der Verlust von Verantwortungsgefühl und Gemeinschaftssinn?

Von JEAN-PAUL MARÉCHAL *

In regelmäßigen Abständen droht eine Ölpest – im Februar dieses Jahres traf es die Küste von Wales. Ein Bericht bestätigt die radioaktive Verseuchung in der Umgebung der Den Haager Atomindustrie. Ein anderer macht die Luftverschmutzung in Paris und Lyon für jährlich einige hundert Todesfälle verantwortlich. Asbestaffäre und „Rinderwahnsinn“ könnten sich bald als noch gravierender erweisen als die Katastrophe mit dem HIV-infizierten Blut. Wollte man eine weltweite Liste von möglicherweise irreversiblen Schäden an der Umwelt und der menschlichen Gesundheit erstellen, sie wäre ohne Ende.

Doch die Umweltfrage mag überall auf der Welt zahlreiche regierungsunabhängige Organisationen und Wissenschaftler in Atem halten, für die führenden Politiker hat sie keine Priorität. Und gewisse Wirtschaftsfachleute soufflieren ihnen die Patentlösung: den freien Markt! Nichts hören sie lieber als das, denn es deckt sich auf wundersame Weise mit der allgemeinen Politik, die sie ohnehin verfolgen.

Nach der gängigen, „neoklassisch“ genannten Wirtschaftstheorie optimiert das freie Spiel der Marktmechanismen die Ökonomie in allen Bereichen. Das bedeutet, wenn dieser optimale Zustand einmal erreicht ist, daß die Situation einer Person nicht weiter verbessert werden kann, ohne die einer anderen zu verschlechtern.

Und so gibt es zahlreiche Fälle, in denen die einen Aktivitäten sich auf andere auswirken, ohne daß letztere marktwirtschaftlich in Rechnung gestellt würden. Das geschieht etwa, wenn der Industrielle A einen Fluß verschmutzt und damit den Kollegen B etwas weiter stromabwärts zwingt, das Wasser zu entgiften, um es nutzen zu können. Diese Situation bedeutet de facto eine Kostenverlagerung, deren Folgen offensichtlich sind: Die Produktionskosten von B sind zu hoch, die von A zu niedrig. In anderen Worten, A produziert mehr und B weniger, als er produzieren würde, wenn der Markt auch die Umweltkosten widerspiegeln würde.

Diese unausgewogenen Schadensbelastungen werden „externe Effekte“ genannt, und sie zeigen, daß das freie Spiel des Marktes nicht automatisch zu ökonomischer Effizienz führt. Die Theorie hält hierfür einen einfachen Lösungsvorschlag bereit: Es genügt, die verursachten Schäden in Geldbeträge umzurechnen, so daß ein dem Marktgleichgewicht entsprechendes Niveau von Umweltbelastung festgelegt wird und die Kosten durch ein entsprechendes Steuersystem in die Kalkulation des Verursachers eingehen. Der Industrielle A wäre also angehalten, entweder seine Produktion zu drosseln oder das Wasser selbst zu klären – und somit die Balance wiederherzustellen.1 Dies ist die Formel der „Internalisierung“, als Grundlage des Verursacherprinzips: „Wer verschmutzt, muß zahlen.“

Zahlreiche Experten glauben, Umweltprobleme auf diese Weise regeln zu können. So auch der kalifornische Wirtschaftsberater Paul Hawken, der in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „L'Ecologie de marché“2 nicht müde wird, das Loblied der „Internalisierung“ zu singen: „So einfach (und so kompliziert) wie diese selbst, lassen sich eine ganze Reihe der in diesem Buch vorgestellten Probleme lösen.“

Was die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und damit das Ziel einer dauerhaften Entwicklung angeht – die Bedürfnisse der heutigen Generationen befriedigen, ohne die kommenden zu beeinträchtigen –, so hat die klassische Marktwirtschaft ebenfalls ein Rezept: Auf den Preis für jeden Rohstoff wird ein Betrag, ein „Verknappungszins“, aufgeschlagen, der in dem Maße steigt, wie der Rohstoffvorrat abnimmt. Damit wird der Preis des Rohstoffs zum Zeitpunkt seiner Erschöpfung so hoch sein, daß die Nachfrage versiegt. Das ändert nichts daran, daß die Ressource irgendwann erschöpft ist, wird man entgegnen. Gewiß, aber die Zinsabgabe stellt nur den ersten Teil des Programms dar. Der zweite besteht darin, diese Zinseinnahme in „reproduzierbares Kapital“ (Maschinen) zu investieren, also die Erschöpfung von „natürlichem Kapital“ durch die Schaffung von „technischem Kapital“ auszugleichen.

Derlei hanebüchene Antworten der Wirtschaft besitzen in den Augen mancher Leute einen eindeutigen Vorteil: Sie lassen sich auf mathematische Formeln bringen, und dies geschieht zumeist in englischsprachigen Publikationen. Dieses doppelte Gütesiegel kann jedoch kaum über ein fundamentales Manko hinwegtäuschen: Derartige Formeln sind völlig wirklichkeitsfremd. Der liberale Ansatz ignoriert, daß die Realität ein komplexes System bildet, das heißt ein Ensemble interagierender Elemente, in dem die Wirtschaft nur ein Subsystem darstellt.

Wie René Passet bereits vor zwanzig Jahren gezeigt hat, sind wirtschaftliche Aktivitäten ein Teilbereich der menschlichen Sphäre, und diese wiederum ist Teil der Biosphäre.3 Die Folge dieses hierarchischen Zusammenhangs ist, daß eine wirtschaftliche Aktivität langfristig nicht betrieben und erst recht nicht ausgedehnt werden kann, wenn die Natur übermäßig geschädigt wird, die bekanntlich unentgeltlich Energie und Ressourcen sowie die Fähigkeit zur Regenerierung bereitstellt, die man lange für unbegrenzt gehalten hat.

Aus dieser Perspektive ist schon mit einem Deut gesundem Menschenverstandes ersichtlich, daß der Markt keine verträgliche Norm in Sachen Umweltbelastung vorgeben kann, da er sich zur Biosphäre prinzipiell aggressiv verhält. Solche Normen müssen ganz im Gegenteil auf die Reproduktion des natürlichen Milieus gegründet sein. Wir müssen daher heute bei den eng miteinander zusammenhängenden Vorstellungen von wirtschaftlicher Vernunft und Effizienz radikal umdenken. Auf keinen Fall darf die Effizienz eines Systems allein am Kriterium der Produktivitätssteigerung gemessen werden, sondern vielmehr an seiner Fähigkeit, Konsumbedürfnisse bei minimalen Belastungen für Mensch und Umwelt zu befriedigen. Auch ist es ein Unding, wie Henri Bartoli unterstreicht, „bei wirtschaftlichen Aktivitäten, die Menschen und ganze Bereiche der natürlichen Umgebung zerstören, von Rationalität zu sprechen. (...) Über [Rohstoff-]Knappheit sagen nicht allein Markt und Preise etwas aus. Sie ist fundamental sozial, das heißt bestimmt durch natürliche Gegebenheiten und den jeweiligen Stand der Kenntnisse, durch Technologie, Institutionen, Sitten und Gebräuche, gewisse Spielregeln, eine Hierarchie der Werte.“4

Weil der Markt den Bedingungen für eine Regenerierung der Umwelt genausowenig gerecht wird wie gewissen jüngst entstandenen oder entstehenden Grundbedürfnissen der Menschen, müssen neue Regulationsmechanismen geschaffen werden. Und das kann, wie René Passet deutlich macht, nur eine „normative Steuerung durch Einschränkung“ sein: eine Strategie, die nicht den freien Markt mit seiner oft bemerkenswerten Effizienz zunichte machen soll, sondern seinem freien Kräftespiel ökologische Grenzen sowohl quantitativer Art (Zugriff auf das Rohstoff-„Guthaben“) als auch qualitativer Art (Schönheit einer Landschaft) setzt, deren Überschreitung das Überleben von Natur und Gesellschaft gefährdet.5

Was diesen Ansatz von der „Ökologie durch Marktwirtschaft“ unterscheidet, ist nicht die Verfahrensweise (die durchaus die Form einer Zins- oder Steuerabgabe annehmen kann), sondern der nichtökonomische Ursprung der Norm, die sich auf ökologische und ethische Überlegungen gründen muß. Und es ist höchste Zeit, daß wir diesen neuen Kurs einschlagen, mahnt etwa Lester R. Brown, der Präsident des Washingtoner Worldwatch Institute: „Unsere Konsumbedürfnisse sind in einem Ausmaß gewachsen, daß wir die Grenzen der zur Verfügung stehenden Ressourcen erreicht haben. Diese Kollision mit den Grenzen unserer Entwicklung bewirkt eine gefährliche Destabilisierung unserer Gesellschaften.“6 An diesem Punkt gewinnen staatliche und gesellschaftliche Kräfte erneut an Gewicht.

Tatsächlich obliegt es in erster Linie den einzelnen Staaten, im Alleingang oder gemeinsam die ungelösten Probleme auf allen Ebenen anzugehen. Diese staatliche Intervention kann verschiedene Formen annehmen. Ein Beispiel bietet das französische Wasserwirtschaftsgesetz vom 16. Dezember 1969 (das am 3. Januar 1992 durch ein neues ersetzt wurde), das Frankreich in sechs Geschäftsbereiche der Wasserversorgung aufgeteilt hat; ein weiteres ist die Madrider Deklaration von 1991, mit der die Antarktis zum „Naturschutzgebiet“ erklärt und „dem Frieden und der Wissenschaft überantwortet“ wird, oder auch das Brüsseler Abkommen vom 29. November 1969 über die zivilrechtliche Haftung für Schäden durch Ölverschmutzung.

Auch der internationale Handel darf von einer „normativen Steuerung durch Einschränkung“ nicht ausgenommen bleiben. Vielmehr ist es nötig, seine Freiheit nicht nur durch soziale, sondern auch durch ökologische Schutzbestimmungen zu „regulieren“. Man müßte also Entschädigungsabgaben auf die Produkte aus Ländern erheben, die Raubbau an einer Umwelt treiben, die nicht ihnen, sondern der ganzen Menschheit gehört. Die Abgaben würden diesen Exportländern als Guthaben ausschließlich zur Finanzierung von Umweltprojekten zurückbezahlt.7

Die Bürger tragen ihren Teil der Verantwortung. In einer knappen, aber bedeutsamen Publikation erinnert Philippe van Parijs daran, daß „ethisches Verhalten der Haushalte zum Sieg des Guten, ethisches Verhalten der Unternehmen hingegen zum Sieg des Bösen führt“8. Und so ist es in der Tat: Wenn ein einzelnes Unternehmen sich aus ethischen Motiven der Logik des Marktes verweigert, setzt es seine Existenz aufs Spiel. Wenn dagegen viele Haushalte beschließen, Firmen zu boykottieren, die umweltschädliche Produkte herstellen oder nichts gegen Umweltbelastungen unternehmen, dann führen dieselben Marktmechanismen dazu, daß diese Firmen aufgeben oder eine umweltfreundliche, „moralische“ Haltung annehmen müssen.

Wenn wir also Rahmenbedingungen und Methoden des Eingreifens entwickeln können, bleibt immer noch die Aufgabe, in jedem Einzelfall die Grundlage für eine „normative Steuerung durch Einschränkung“ zu definieren. Das beste Fundament ist sicher die Wissenschaft, insofern sie es etwa erlaubt, Maximalwerte für Umweltbelastungen mit einiger Sicherheit festzulegen.

Leider müssen heute viele Entscheidungen auch angesichts wissenschaftlicher Fragezeichen getroffen werden. In solchen Fällen ist allein unsere Angst in der Lage, menschlichem Machtmißbrauch einen Riegel vorzuschieben. Die Angst wird, wie der deutsche Philosoph Hans Jonas schreibt, „zur ersten Voraussetzung für eine Ethik der Verantwortung“9. Diese Forderung impliziert, daß man „die Voraussicht auf das Schlimmste annehmen“10, also die Vorsicht zur Regel machen muß; sie findet ihre politische Entsprechung im „Prinzip Vorsicht“.

Dieses Prinzip hat nichts mit Fortschrittsfeindlichkeit zu tun; es verlangt, „daß angesichts der Gefahr schwerer oder irreversibler Schäden das Fehlen vollständiger wissenschaftlicher Gewißheit nicht dazu ausgenutzt werden darf, Maßnahmen zum Schutz der Umwelt auf später zu verschieben“11. Die Charta zur Erhaltung der Erde, die 1992 auf dem Umweltgipfel der UNO in Rio de Janeiro verabschiedet wurde12, sagt nichts anderes: „Zur Erhaltung der Umwelt muß jeder Staat im Rahmen seiner Möglichkeiten umfassende Vorkehrungen treffen. Besteht das Risiko schwerer oder irreversibler Schäden, darf fehlende wissenschaftliche Sicherheit nicht als Vorwand benutzt werden, um effektive Umweltschutzmaßnahmen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.“ Leider findet dieses Prinzip bis heute kaum Anwendung. Eine bemerkenswerte Ausnahme: Mit dem 1987 in Montreal unterzeichneten Protokoll über Substanzen, die die Ozonschicht angreifen, wurde erstmals ein Vertrag geschlossen noch bevor die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet sehr weit gediehen waren.13

Angesichts einer Wirtschaft, die in Allmachtsphantasien schwelgt und über ihren eigenen Theoriemodellen brütet, statt sich mit der Komplexität der Welt auseinanderzusetzen, sollten wir Lösungen fordern, die eben nicht auf der marktwirtschaftlichen Logik beruhen, und jeweils die Umsetzbarkeit einer alternativen Konzeption verdeutlichen. Die Konzeption einer Ökonomie, die man „neorealistisch“ nennen könnte – im Sinne der italienischen Filmemacher der Nachkriegsjahre und ihrer programmatischen Rückkehr zu einer „Erfindung der Wirklichkeit“.

dt. Bettina Schäfer

1 Vgl. Jean-Paul Maréchal, „Le Prix des risques, Paris (Presses du CNRS) 1991.

2 Paul Hawken, „L'Ecologie de marché, Barret-le- Bas (Le Souffle d'or) 1995.

3 René Passet, „L'Economique et le Vivant, Paris (Payot) 1979. Vor kurzem erschien eine überarbeitete Ausgabe dieses Klassikers.

4 Henri Bartoli, „L'Economie multidimensionelle“, Paris (Economica) 1991.

5 René Passet, „L'Economie: des choses mortes au vivant“, Paris (Encyclopaedia Universalis, symposium „Les enjeux“) 1984.

6 Vgl. Le Monde vom 27. Februar 1996.

7 Vgl. Bernard Cassen, „Für eine verbesserte Sozialklausel“, Le Monde diplomatique, Februar 1996.

8 Philippe van Parijs, „Sauver la solidarité, Paris (Cerf) 1995.

9 Hans Jonas, „Das Prinzip Verantwortung“, Frankfurt am Main (Insel) 1979, S. 9. Vgl. auch Jacques Decornoy, „L'exigence de responsabilité“, Le Monde diplomatique, September 1990.

10 Hans Jonas, a. a. O.

11 Jean-Philippe Barde, „Economie et politique de l'environnement“, Paris (PUF) 1992.

12 Vgl. „Une Terre en renaissance“, Savoirs Nr. 2, 1993.

13 Vgl. den Artikel von Winfried Lang und Christian Manahl, „L'avenir de la couche d'ozone: le rôle du protocole de Montréal“, in: „Stratégies énergétiques, biosphère et société“, Genf (Georg) 1996.

* Wirtschaftswissenschaftler, Dozent an der Universität Rennes-II.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Jean-Paul Marechal