11.10.1996

Privatisierung der Demokratie

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Privatisierung der Demokratie

Von IGNACIO RAMONET

IN unseren orientierungslos gewordenen Gesellschaften mehren sich die Anzeichen dafür, daß längst eine privilegierte Minderheit die Demokratie für sich vereinnahmt hat.

Aus dieser Angst heraus – und weil sich für sie die Republik auf einen Gesellschaftsvertrag zu gründen hatte – haben die revolutionären Sozialisten (von Marx über Blanqui, Bakunin und Lenin bis hin zu Trotzki) über ein Jahrhundert lang im Namen der Freiheit die „bürgerliche Demokratie“ bekämpft, während die extreme Rechte im gleichen Zeitraum den Parlamentarismus zu zerschlagen trachtete.

Mit der Niederlage des Faschismus 1945 und dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime 1989 schien das Problem gelöst. Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ konnte triumphieren: Kein politisches System konnte mehr an der Demokratie vorbeisehen. Allen klang der berühmte Ausspruch Winston Churchills im Ohr: „Die Demokratie ist das schlechteste Gesellschaftssystem – mit Ausnahme aller anderen.“

So hat sich die Demokratie im gesamten Osteuropa und in den aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten entfalten können, desgleichen in Lateinamerika, Asien und Afrika – mit Ausnahme der arabischen Welt. Demokratie, im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs noch eine Seltenheit, ist längst zum vorherrschenden politischen System geworden.

Gleichwohl steigt die Zahl derer, die sie als Betrug ansehen. Sie werfen der Demokratie vor, billigend in Kauf genommen zu haben, daß es in Europa mittlerweile 20 Millionen Arbeitslose und 50 Millionen Arme gibt; daß in einigen Fällen gesellschaftliche Verhältnisse eingerissen sind, wie man sie nur aus der Dritten Welt kennt. Berichte der UNO und der Weltbank bestätigen: „In keinem Land der westlichen Welt existiert eine ähnlich tiefe Kluft zwischen Arm und Reich wie in Großbritannien; sie ist tiefer als in Jamaika, Sri Lanka oder Äthiopien und nur vergleichbar mit der in Nigeria.“1

Der Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften zerfällt zusehends. Die Klasse an ihrer Spitze läßt es sich immer besser gehen (10 Prozent der Franzosen verfügen über 55 Prozent des Nationalvermögens), während sich am unteren Ende Armut breitmacht. Marginalisierte aber können vorhandene Rechte und Freiheiten bekanntlich kaum ausschöpfen.

Das alles vollzieht sich im Rahmen eines weltweiten Siegeszugs des Finanzkapitals. Die Summe der Geldtransaktionen liegt 50mal höher als der Umsatz aus Warenverkehr und Dienstleistungsgewerbe. Die Geldmärkte zwingen der Politik ihren Willen auf. Während man ehedem davon sprach, daß „200 Familien“ die Geschicke Frankreichs lenken, kann man heute sagen, daß 200 Wirtschaftsführer die Geschicke des gesamten Planeten lenken.2

Mit der Aufhebung der Wechselkurs-Kontrolle, der Freiheit des Kapitalflusses und der „Unabhängigkeit“ der Zentralbanken haben die Staaten die Globalisierung wesentlich vorangetrieben. Längst sind die Kapitalmärkte dem Zugriff der Regierungen entzogen, so daß jede eigenständige Haushaltspolitik illusorisch geworden ist und die Interessen der Bürger fremden Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind.

GERADE also weil die Regierenden sich der Diktatur der Finanzmärkte unterwerfen, blüht und gedeiht die Demokratie überall auf der Welt. Ehedem bekämpfte das Kapital – und mit ihm das Militär – jeden demokratischen Vorstoß. Vom Bürgerkrieg in Spanien 1936-1939 bis hin zum Sturz des chilenischen Präsidenten Allende 1973 ist die Geschichte reich an demokratischen Regierungen, die tragisch endeten, weil sie sozialer Ungerechtigkeit entgegentraten, eine Umverteilung des Reichtums anstrebten und die strategischen Wirtschaftsbereiche in den Dienst der Nation stellen wollten.

Heute reimt sich Demokratie auf Abbau des öffentlichen Sektors, Privatisierung, Bereicherung einer privilegierten Minderheit und so weiter. Alles – insbesondere das Gros sozialer Errungenschaften – fällt den Mechanismen der Geldwirtschaft anheim. Die Konvergenzkriterien von Maastricht sind innerhalb Europas längst zum absoluten Maßstab geworden, haben gleichsam verfassungsrechtliche Relevanz.

Bedenkt man zudem den Zynismus von Herrschenden, die, kaum daß sie an der Macht sind, ihren Wahlversprechungen schamlos zuwiderhandeln, und betrachtet man den übermächtigen Einfluß der Pressure-groups und die Korruption der politischen Klasse, dann wundert es nicht, daß jegliches Vertrauen in die Politik zerstört ist. Niemand kann darüber hinwegsehen, daß diese aus dem Ruder gelaufene Demokratie in erster Linie der extremen Rechten in die Hände arbeitet.

Tag für Tag erleben wir, daß die Politiker und vor allem die Regierungen lieber über die großen Medien als über das Parlament zu ihrem Volk sprechen. „Regieren heißt kommunizieren“, scheinen sie zu sagen. Und Kommunizieren beinhaltet für sie die Lizenz zu lügen.

Angesichts der massiven Ungerechtigkeiten ist es nur zu verständlich, daß die Menschen immer mehr in Wut geraten. Mit welchem Recht reden ausgerechnet jene Politiker, die Tag für Tag den sozialen Krieg führen, aus Angst vor einem „heißen Herbst“ von der Notwendigkeit des „sozialen Friedens“? Der ist nämlich nur stabil, wenn die Demokratie wieder das Fundament für einen neuen Gesellschaftsvertrag wird.

1 El Pais, Madrid, 16. September 1996.

2 Vgl. „Les nouveaux maitres du monde“, Manière de voir, Nr. 28, 1995.

Le Monde diplomatique vom 11.10.1996, von Von IGNACIO RAMONET