Ökonomie des Lebendigen
DIE drei letzten Veröffentlichungen von Henri Bartoli bilden ein Ganzes, dem sich sein jüngst erschienenes Buch „L'Economie, service de la vie“1 nahtlos einfügt. Vor etwa zwanzig Jahren rückte er in „Economie et création collective“ (Paris, Economica, 1977) den Menschen und die schöpferische Arbeit wieder in den Mittelpunkt des Ökonomischen. Dieser Bereich ließ sich fortan nicht mehr auf die Rationalität mechanistischer Modelle reduzieren, sondern nurmehr als „vieldimensionale Wirtschaft“ auffassen („Economie multidimensionelle“, Paris, Economica, 1991). Weil diese Ökonomie das Lebendige in sich trägt, gehört sie selbst zum Kernbestand des Lebendigen, sagt Henri Bartoli heute.
In dem Maße, wie der Kapitalismus diese Denknotwendigkeit ignoriert, steht sein Sieg auf unsicheren Füßen. Seine fundamentalen Widersprüche vertiefen sich zusehends: Die große Masse der Armen bleibt der elementarsten Dinge beraubt, die Verdrängung des Menschen durch Maschinen läuft auf soziale Ausgrenzung und Unsicherheit hinaus, das System entwertet und zerstört gleichermaßen die Menschen wie deren natürliche Umgebung. Der Kapitalismus sitzt in der eigenen Falle: „Das ist nicht weiter verwunderlich bei einem System, dessen Logik auf individuellem Wachstum und nicht auf persönlicher Entfaltung beruht und deren alleinige Triebkraft größtmöglicher Gewinn bei geringsten Ausgaben ist (...), mit dem Ziel einer Wertsteigerung und Akkumulation von Kapital.“
Es geht also um eine „Rückkehr zum Wesentlichen“, das heißt um ein Prinzip von Wirtschaftlichkeit, das auf die Bedürfnisse der menschlichen Persönlichkeit gegründet ist und nicht allein auf die Erfordernisse der Kapitalakkumulation. Das Bestreben muß sein, zur Komplexität einer Ökonomie zurückzufinden, die, statt sich nur mit „Dingen“ zu befassen, menschliches Tun als solches und seine Interdependenzen untersucht. Dabei wäre eine Ethik freizulegen, die abstrakte Konstruktionen – den Homo ethicus ebenso wie den Homo oeconomicus – als Sackgasse erkennen würde; die statt dessen den „wirklichen Menschen“ wiederentdeckte, den „vieldimensionalen Menschen, wie er, der gleichermaßen um Brot und Sprache ringt, in einer Welt und Geschichte am Werk ist, die sich ihm in dem Maße entzieht, wie er sie hervorbringt“.
„Auf eine Krise der Zivilisation kann nur mit einer Politik der Zivilisation geantwortet werden“, wofür Henri Bartoli folgende Grundlagen vorschlägt: die Integration des Ökonomischen und des Sozialen, die Schaffung von Bedingungen für eine bessere Steuerbarkeit der nationalen wie der internationalen Wirtschaft, das Erreichen erster Zugeständnisse, die es erlauben, die schöpferische Arbeit im kollektiven Rahmen zu fördern. Eine beeindruckende Dokumentation breitet dieses ehrgeizige Projekt freskenhaft vor den Augen der Leserschaft aus. Sie findet darin bestätigt, daß es neben einer Ökonomie des Profits und der Akkumulation noch eine andere gibt, die ebenso rigoros und in sich stimmig anderen Werten dient – Werten, die sie transzendieren und durch die sie erst ihren Sinn erhält.
RENÉ PASSET
1 Henri Bartoli, „L'Economie, service de la vie. Crise du capitalisme, une politique de civilisation“, Grenoble (PUG) 1996, 496 S., 290 FF.