15.11.1996

Der Internationale Gerichtshof als Spielfeld politischer Interessen

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Der Internationale Gerichtshof als Spielfeld politischer Interessen

DIE ständigen Behinderungen, denen sich das Internationale Tribunal für Verbrechen im früheren Jugoslawien bei seiner Arbeit ausgesetzt sieht, machen erneut deutlich, wie schwierig es für die internationalen Richter ist, ihre Funktion gegen den Widerstand von Nationalstaaten auszuüben. Auch dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, dem Rechtsprechungsorgan der UNO, ist es bislang nicht gelungen, eine Rolle zu spielen, die den weltweiten Problemen gemäß wäre. Seine Stärkung ist heute nötiger denn je, und ein erster Schritt wäre es, auch regierungsunabhängigen Organisationen sowie einzelnen Bürgern die Anrufung des IGH zu ermöglichen.

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

Der Haager Friedenspalast, versteckt gelegen inmitten von Parkanlagen, ist der Sitz einer Institution, die seit ihrer Gründung vor einem halben Jahrhundert weitgehend unbekannt geblieben ist: Vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) sind im Durchschnitt weniger als zwei Fälle pro Jahr verhandelt worden. Meist ging es dabei um geringfügige Streitigkeiten über Grenzziehungen, Luftraumverletzungen und ähnliches, nur manchmal um schwerwiegende Belange oder wesentliche Rechtsfragen. Grundsatzurteile jedoch, die von Bedeutung für die internationalen Beziehungen waren, sind sehr selten gefällt worden.

So ist der Internationale Gerichtshof das getreue Abbild der internationalen Gemeinschaft, ihrer Heterogenität und Ordnungslosigkeit. Bei der Mehrheit der Urteile handelt es sich folglich um Vergleiche, die weniger um gesetzliche Regelungen als um einen Ausgleich bemüht waren. Eine der Ausnahmen ist die Verurteilung der Vereinigten Staaten im Jahr 1986 wegen der Sabotageakte der – von Washington finanzierten – Contra-Söldner in Nicaragua.1 Häufiger jedoch standen Verfahrensfragen und Zuständigkeitsprobleme einem Urteil des Gerichts im Wege und verhinderten, daß über die jeweiligen Ansprüche der streitenden Parteien und deren Rechtsgrundlage eine verbindliche Entscheidung gefällt werden konnte.

Daß sich die Arbeit des Gerichtshofes kaum in Ergebnissen niederschlägt, liegt an der Beharrungskraft jener Verhältnisse, die das Gericht vorfindet und zu regeln trachtet. Dabei spielt auch seine Zusammensetzung eine Rolle, mithin die Herkunft der fünfzehn Richter, die von der Generalversammlung und vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf der Grundlage einer von den verschiedenen Staaten vorgelegten Liste gewählt werden.2 Laut Statut muß die Unabhängigkeit der Richter garantiert und die Repräsentativität der Auswahl gewährleistet sein. Trotzdem sind heute die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, Großbritannien, Frankreich, Rußland und China) automatisch in diesem Gremium vertreten, und Europa, das ein Drittel der Sitze innehat, ist völlig überrepräsentiert.3

Wie unparteiisch die Richter gegenüber dem eigenen Herkunftsland (beziehungsweise dessen Verbündeten) tatsächlich sind, läßt sich im übrigen genau ausmachen, denn alle Urteile des Gerichtshofes sind namentlich gezeichnet, und jeder Richter, dessen Position in der Minderheit geblieben ist, ist berechtigt, seine abweichende Haltung zu begründen (dissenting opinions) oder, sofern er der Mehrheitsentscheidung zugestimmt hat, Vorbehalte und Rechtfertigungen individuell festhalten zu lassen (separate opinions). Gerade die Richter aus Staaten mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat haben sich häufig ohne Bedenken auf die politischen Positionen ihrer jeweiligen Regierungen verpflichten lassen. Dabei verwechseln sie ihre richterliche Funktion, die Unabhängigkeit des Gerichts vorsieht, mit der eines Schiedsgerichts, in dem der Schiedsrichter eine Partei zu vertreten und ihr möglichst zur Durchsetzung ihrer Interessen zu verhelfen hat. Am unabhängigsten sind die Richter kleinerer und mittlerer Länder, die wenig in die Streitigkeiten der großen Staaten verwickelt sind. Doch die Richter und Richterinnen – 1995 wurde mit der Wahl der Britin Roselyn Higgins erstmals eine Frau aufgenommen –, die mit dieser schwierigen Aufgabe betraut sind, können sich den hemmenden Einflüssen der internationalen Gemeinschaft nicht wirklich entziehen.

Wichtig wäre es vor allem, sich von der weitgehenden Rücksichtnahme auf den Willen der einzelnen Staaten zu lösen. Bislang beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichts auf zwischenstaatliche Rechtsstreitigkeiten (Art. 34 des IGH-Statuts), wobei die beteiligten Staaten diese Zuständigkeit ausdrücklich anerkennen müssen. Derzeit kann dies auf zweierlei Weise geschehen. Zum einen können zwei Staaten, die in Streitigkeiten verwickelt sind, auf der Suche nach einem Kompromiß übereinkommen, ihren Streitfall dem Gerichtshof zu übertragen. Zwölf solcher Fälle wurden bislang vor dem IGH ausgetragen; meist ging es um Gebietsansprüche von begrenzter, aber symbolischer Bedeutung (beispielsweise Belgien gegen Niederlande, Burkina Faso gegen Mali) oder um Streitigkeiten über Seegrenzen. Zum anderen gibt es Fälle, in denen die Zuständigkeit des IGH im vorhinein festgelegt ist, entweder durch Klauseln in internationalen Verträgen, die besagen, daß allfällige Streitigkeiten über ihre Auslegung oder Durchführung vor den Gerichtshof gebracht werden (wie dies für fast 300 internationale Vertragswerke gilt), oder durch Grundsatzerklärungen einzelner Staaten über die Zuständigkeit des IGH. Diese beziehen sich jedoch nur auf Auseinandersetzungen mit Staaten, die ebenfalls eine solche Erklärung unterzeichnet haben.

Wie gering das Gefühl der Zugehörigkeit zur internationalen Gemeinschaft ist, zeigt sich daran, wie wenige Staaten diese sogenannte Fakultativklausel bislang unterzeichnet haben. Von 185 Mitgliedern der Vereinten Nationen haben nur 59 den IGH als obligatorische Instanz anerkannt. Staaten wie Frankreich, die USA, China und Rußland sucht man vergeblich auf dieser Liste. Aus jener Gruppe von Staaten, die durch ihren ständigen Sitz im Sicherheitsrat und das entsprechende Vetorecht eine Art Weltregierung bilden, hat allein Großbritannien diese Klausel unterschrieben. China lehnt getreu der kommunistischen Tradition die internationale Gerichtsbarkeit ab – auch wenn dies die kommunistischen Länder nie daran gehindert hat, Richter nach Den Haag zu entsenden. Rußland vertritt trotz der von Gorbatschow in der Phase der Perestroika angekündigten Öffnung bislang die gleiche Haltung. Frankreich, das die Klausel bei Gründung des Gerichtshofes unterzeichnet hatte, kündigte sie 1974 nach dem ersten Streitfall über die Atomversuche auf. Als die Vereinigten Staaten 1985 von Nicaragua verklagt wurden, kündigten sie die Verpflichtung gleichfalls. Das ganze erinnert an schlechte Verlierer, die sich einfach aus dem Spiel zurückziehen, wenn sie nicht gewinnen.

Eine widersprüchliche Bilanz

ZUGLEICH kann der Gerichtshof nicht verhindern, daß die Staaten ihre Souveränität nutzen, um sich in der ausführlichen Darlegung ihrer Rechtspositionen zu überbieten. Das Ergebnis sind ausschweifende Schriftsätze, Gutachten und Gegengutachten. Neben vertretbaren Erläuterungen werden dem Leser unzählige Zusätze mit überflüssigen Plädoyers zugemutet.4

Der Gerichtshof muß sehen, wie er mit den Staaten zurechtkommt, die seiner Gerichtsbarkeit unterstehen, aber auf ihren Vorrechten beharren. Die Bilanz der Arbeit ist widersprüchlich. Bei seinen Versuchen, den eigenen Kompetenzspielraum zu erweitern, hat das Gericht Einfallsreichtum und Mut bewiesen: In den letzten fünfzehn Jahren gelang es ihm nicht selten, mit recht dünnen Argumenten eine Streitpartei zu überzeugen, daß sie sich unter die Zuständigkeit des IGH gestellt habe. Einige Staaten haben murrend hingenommen, daß über ihre Interessen vom Haager Gerichtshof entschieden wurde.

So erging es kürzlich Bahrain in seinem Grenzstreit mit Katar. Der Gerichtshof behauptete seine Zuständigkeit, obwohl Bahrain bestritt, sich dieser Instanz unterworfen zu haben, und sich der Fatwa des Großmuftis von Saudi-Arabien verpflichtet sah, der am 5. November 1994 alle islamischen Staaten vor jeder Anrufung einer internationalen laizistischen Gerichtsbarkeit gewarnt hatte.5 Ferner erklärte der Gerichtshof seine Zuständigkeit für die von Bosnien eingereichte Klage gegen die Republik Jugoslawien, die des Völkermordes beschuldigt wird und sich der Verhandlung, die nun dennoch stattfindet, hartnäckig zu entziehen versuchte (siehe den untenstehenden Artikel).

Nachdem das Gericht seine Zuständigkeit gesichert hat, ist es darauf bedacht, die Souveränität der Staaten zu respektieren und möglichst für seine Art der Jurisdiktion zu werben: Wo immer es um konkrete Streitobjekte geht (etwa um Gebiet) versucht man, nicht Sieger und Verlierer zu schaffen, sondern die Vorteile für beide Seiten herauszustellen. In den übrigen Fällen ist man sehr bemüht, die Interessen des unterlegenen Staates zumindest prinzipiell anzuerkennen. Diese Haltung ist nicht zuletzt ein Resultat der schweren Krise, die 1966 ein Beschluß zur Situation in Südwestafrika ausgelöst hatte.6 Nachdem in einem mehrere Jahre dauernden Verfahren die Zuständigkeit des Gerichtes festgestellt worden war, hatte dieses mit seiner Entscheidung, die beschwerdeführenden Staaten Äthiopien und Liberia hätten kein begründetes Interesse, gegen die südafrikanische Apartheidpolitik zu klagen, tiefe Enttäuschung ausgelöst.

So ist es nicht verwunderlich, daß sich die Staaten Zeit lassen, die Erklärung zu unterzeichnen, durch die sie sich der Gerichtsbarkeit des IGH unterwerfen, und daß viele der Verhandlung fernbleiben – so Island im Streit gegen Großbritannien um die Fischereigrenzen (1972), Frankreich in der Streitsache der Kernwaffenversuche (1973), die Türkei im Streit um das Ägäische Meer (1976), der Iran im Fall des Botschafts- und Konsularpersonals der USA in Teheran (1979) und die Vereinigten Staaten in der zweiten Phase der Streitsache Nicaragua (1985). Seither ist unter den Richtern ein Bemühen um Konsens spürbar, verbunden mit dem deutlichen Willen, den Interessen beider Parteien genüge zu tun.7

Die seit den achtziger Jahren bestehenden Ad-hoc-Organe zur Regelung bestimmter Rechtssachen unterstreichen die Entwicklung in Richtung auf eine Schiedsgerichtsbarkeit. Bei diesen von Fall zu Fall neu zusammengesetzten Kammern haben die streitenden Parteien die Möglichkeit, mit dem Präsidenten des IGH über Anzahl und Auswahl der Richter zu verhandeln, auch wenn sich das Gericht formal die Entscheidung vorbehält. Besonders deutlich wurde die Entschlossenheit (vor allem der westlichen Staaten), Einfluß auf die internationale Gerichtsbarkeit zu nehmen, in der Rechtssache der Seegrenzen im Golf von Maine zwischen den USA und Kanada: Die Staaten lavierten so lange, bis eine rein westlich besetzte Kammer zustande kam.8 Nachdem verschiedene Richter nichtwestlicher Herkunft heftig davor gewarnt hatten, auf diese Weise die Unabhängigkeit und allgemeine Geltung der Gerichtsbarkeit zu gefährden, wurden solche Ungeschicklichkeiten seither vermieden.

Einige Staaten pflegen eine so selbstherrliche Auffassung ihrer Souveränität, daß sie auch Illegalität in Kauf nehmen: Urteile, die ihnen nicht passen, werden einfach mißachtet. In dieser Hinsicht können sich Washington und Teheran die Hand reichen. Zudem machten die USA als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates von ihrem (juristisch umstrittenen) Vetorecht Gebrauch, als der Sicherheitsrat (der bei Mißachtung eines Urteils für Maßnahmen zu dessen Durchsetzung zuständig ist) sie auffordern wollte, ihren Verpflichtungen gegenüber Nicaragua nachzukommen. Glücklicherweise sind solche Weigerungen selten, da sie dem internationalen Ansehen eines Staates deutlich schaden. Die Beteiligten bemühen sich eher vorab darum, jede Verurteilung zu vermeiden, die zu beachten sie nicht bereit sind.

Der IGH ist in seinem Handlungsspielraum nicht nur durch bestimmte Ausdrucksformen staatlicher Souveränität, sondern auch durch einen anderen Faktor eingeschränkt: die Unzulänglichkeiten des internationalen Rechts, eine unvermeidbare Folge der unterschiedlichen Entwicklungen, die sich weltweit seit der Entkolonialisierung vollzogen haben. Die bestehenden Kräfteverhältnisse haben zwar eine Machtkonzentration bewirkt, der allerdings das institutionelle Zentrum fehlt. Wie soll man das Recht unter diesen Bedingungen vereinheitlichen? Das internationale Recht beruht im wesentlichen auf zwei Grundlagen: Verträge und Gewohnheitsrecht. Erstere gelten nur für die jeweiligen Vertragspartner, letzteres ist nur bindend, wenn es nachweisbar ist, was oft schwierig ist.

Angesichts dieser eher unklaren und widersprüchlichen Rechtsgrundlagen tendiert der Gerichtshof oft dazu, sich den Problemen zu entziehen. Die persönlichen Haltungen der einzelnen Richter verbinden sich nicht zu einem Kollektivgeist, der sie zu einer Prätorianergarde machen würde, die entscheidende Fortschritte in der internationalen Rechtsordnung erkämpft – nur in manchen abweichenden Meinungen ist davon etwas zu spüren.

Im Fall der Annexion Ost-Timors durch Indonesien hatte Portugal als Verwaltungsmacht den Gerichtshof angerufen. Es führte Beschwerde gegen Australien, das mit Indonesien einen Vertrag über die Seegrenzen vor der Küste Ost-Timors geschlossen hatte. Indonesien konnte nicht direkt beklagt werden, da es sich der Gerichtsbarkeit des IGH nicht unterworfen hat. Portugal forderte die Richter auf, Australien wegen dieses Vertrages zu verurteilen, denn durch diesen sei das Recht des Volkes von Ost-Timor auf Selbstbestimmung mißachtet und also das Völkerrecht gebrochen worden. Da Indonesien bei Verfahrenseröffnung nicht zugegen war, erklärte sich das Gericht jedoch für nicht zuständig. Es wies aber darauf hin, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundprinzip alle anderen Rechte bricht. Praktische Folgen hatte dieser Schiedsspruch nicht.9

Der Wertestreit innerhalb der internationalen Gemeinschaft schlägt sich noch deutlicher in den jüngsten Gutachten nieder. Unter dem Druck von gesellschaftlichen Kräften, die sich für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzen, machten die Generalversammlung der Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von ihrem Anhörungsrecht Gebrauch und verlangten vom Internationalen Gerichtshof ein Rechtsgutachten über die Rechtmäßigkeit der Drohung mit Atomwaffen beziehungsweise ihres Einsatzes.10 Doch die Konflikte sind in dieser Frage so vehement und die wenigen Atommächte so einflußreich, daß der Gerichtshof zwischen die Fronten geriet.

Mißachtung der Urteile

SO erklärte er sich gegenüber der WHO für nicht zuständig, mit der Begründung, daß die Zielsetzung dieser Organisation ihr Gesuch nicht rechtfertige. Die Antwort an die Generalversammlung der Vereinten Nationen versuchte, einen offenen Bruch zu vermeiden, der aber aus dem Gutachten trotz allem herauszulesen ist. So heißt es darin, das internationale Recht sehe weder die Genehmigung noch das Verbot dieser Waffen vor, die Drohung mit Atomwaffen oder deren Einsatz sei nur dann unzulässig, wenn ihr Einsatz den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen oder der Rechtsprechung bezüglich bewaffneter Konflikte widerspreche. Das Gericht erinnert daran, daß die Bedrohung durch solche Waffen oder deren Einsatz generell den Menschenrechten zuwiderlaufe, fügt jedoch hinzu, daß nicht endgültig auf die Recht- oder Unrechtmäßigkeit dieser Waffen für den Fall geschlossen werden könne, daß sich ein Staat „in einer Extremsituation legitimer Selbstverteidigung befindet, in der sein Überleben als Staat auf dem Spiel steht“.11 Die Uneinigkeit in der Frage der nuklearen Abschreckung wird deutlich, auch wenn das Gericht die Verpflichtung der Staaten betont, über atomare Abrüstung zu verhandeln (wobei der französische Richter bedauerte, daß diese Feststellung in den Bescheid aufgenommen wurde).

Nachdem sie eine Mehrheitsentscheidung getroffen hatten, packte die Richter so sehr das Bedürfnis, wieder in ihr eigenes Lager zurückzukehren, daß ein jeder eine Erklärung oder ein Sondervotum abgab. Erwähnenswert ist der Kommentar des Gerichtspräsidenten, der vermeiden wollte, daß sein Votum in irgendeiner Weise als Begründung für die Rechtmäßigkeit der Atomwaffen interpretierbar sein könne. Ferner die Tatsache, daß sich der französische und der amerikanische Richter strikt an die politische Linie ihrer Regierungen hielten, wobei der amerikanische Richter unter dem Vorwand eines Sondervotums den Irak heftig attackierte. Schließlich fällt das Bemühen einzelner Richter auf, kleine Fährten für die Zukunft zu legen. So betonten sie, daß das Gebot des Schutzes der Zivilbevölkerung und die Verpflichtung, den Kämpfenden kein unnötiges Leid zuzufügen – die Grundlagen des Rechts über bewaffnete Konflikte –, mit dem Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich unvereinbar seien. Ebenfalls wurde festgehalten, daß sich die Atommächte geweigert haben, das Verbot von Kernwaffen zu einem neuen Gewohnheitsrecht zu erklären. Damit tritt deren Verantwortung nur um so deutlicher zutage, und das Gutachten ist beispielhaft für die gegenwärtig auf internationaler Ebene herrschende Rechtsunsicherheit in entscheidenden Fragen.

Trotz all seiner Begrenztheit und Machtlosigkeit sieht sich der Internationale Gerichtshof mit Arbeit überhäuft. Er wird zunehmend von kleinen und mittleren Staaten angerufen, denen es um die Verteidigung ihrer eigenen Interessen geht, aber auch darum, gemeinsame oder zumindest miteinander vereinbare Werte festzuschreiben. Dafür wäre eine Stärkung der internationalen Justiz dringend erforderlich, die jedoch zur Voraussetzung hätte, daß die Rechtsprechung des Gerichtshofs uneingeschränkt verbindlich würde. Auch die materielle Grundlage des Gerichtshofes müßte verbessert werden. Sein schon heute ungenügender Etat wäre völlig überfordert, wenn dem Gerichtshof im Zuge einer obligatorisch gewordenen Rechtsprechung noch wesentlich mehr Streitfälle übertragen würden.

Eine rasche Weiterentwicklung ist geboten. Der souveräne Staat im klassischen Sinne hat viel von seiner Bedeutung als selbstverständliches Entwicklungsziel der Menschheit eingebüßt. Zu viele Interessen und Rechte finden mittlerweile grenzüberschreitend Ausdruck und werden in einem übergeordneten Rahmen umgesetzt. Auch internationale Organisationen und selbst die immer bedeutenderen regierungsunabhängigen Organisationen werden wohl Zugang zu den internationalen Gerichtshöfen erhalten müssen. Und schließlich werden früher oder später alle Menschen in der Frage der Menschenrechte jenes Privileg für sich beanspruchen, das zur Zeit den Europäern vorbehalten ist, die als Privatperson den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anrufen können. Und statt, wie es bereits einige Male vorgekommen ist, mit der Erfindung einer weiteren Gerichtsbarkeit das Durcheinander zu steigern, wäre es an der Zeit, die Rolle des Den Haager Gerichtshofes zu überdenken und dessen Zuständigkeitsbereich zu erweitern. Man könnte die vorsichtige Spezialisierung, die mit der Einrichtung einer Kammer für Umweltfragen begonnen hat, durch die Schaffung einer Kammer für Menschenrechtsfragen verstärken. Das käme einer wahren Revolution gleich.

dt. Birgit Althaler

1 Streitsache „Militärische und paramilitärische Aktivitäten in und gegen Nicaragua“, Urteil vom 27. Juni 1986, IGH, Recueil des arrêts, avis consultatifs et ordonnances S. 14.

2 Gewählt sind jene Kandidaten, die in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat eine absolute Mehrheit erhalten. Diese beiden Organe wählen getrennt (Mitentscheidung). Das Vetorecht im Sicherheitsrat gilt in diesem Fall nicht. Wenn nicht alle Richtersitze in der ersten Runde besetzt werden, folgt eine zweite und, wenn nötig, auch eine dritte Runde.

3 Die momentan amtierenden Richter kommen aus den folgenden Ländern: Algerien, Volksrepublik China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Guyana, Italien, Japan, Madagaskar, Russische Föderation, Sierra Leone, Sri Lanka, Ungarn, Venezuela, Vereinigte Staaten.

4 Vgl. Keith Highet, „Increasing the Effectivness of the Court“. Kolloquium aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens des Gerichtshofes, Den Haag, April 1996.

5 Vgl. Brigitte Stern, „Chronique de la jurisprudence de la Cour internationale de justice“, Journal du droit international, Paris 1995, S. 739.

6 Streitsache „Südwestafrika“, Urteil vom 18. Juli 1966, IGH, Recueil 1966, S. 6.

7 Vgl. George Adi-Saab, „De l'évolution de la Cour internationale de justice. Réflexions sur quelques tendances récentes“, Revue générale de droit international public, Paris 1992, S. 273 ff.

8 Streitsache „Seegrenzen im Golf von Maine“, Urteil vom 12. Oktober 1984, IGH, Recueil 1984, S. 165.

9 Streitsache „Ost-Timor“, Urteil vom 30. Juni 1995. IGH, Recueil 1995, S. 90 ff.

10 Gutachten vom 8. Juli 1996.

11 Über das Gutachten wurde Absatz für Absatz abgestimmt. Bei dem Absatz, der die doppelte Feststellung enthielt, waren sich die Richter aus Ländern mit ständigem Sitz im Sicherheitsrats uneinig. China und Rußland stimmten zu, während die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien wegen ihrer Ablehnung des ersten Teils dagegen stimmten, wodurch sich ihre Stimmen zu denjenigen addierten, die den Absatz aufgrund des zweiten Teils ablehnten.

* Professorin für Recht an der Universität Paris VII – Denis Diderot.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von M.Chemillier-Gendreau