15.11.1996

Die militanten Vorreiter der digitalen Revolution

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Die militanten Vorreiter der digitalen Revolution

OHNE allzugroßes Vertrauen in die Regulierungskräfte des Marktes hat die US-amerikanische Monatszeitschrift Wired soeben den Gang an die Börse verpaßt. Dieses Scheitern relativiert ein wenig den bislang beachtlichen Erfolg einer Zeitschrift, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Internet und sämtliche Auswirkungen der technologischen Revolution hochzuloben. Die total dem Zeitgeist verschriebene Publikation predigt den Glauben an das „digitale Zeitalter“ fast immer in Verbindung mit einer Anklage gegen eine regulierende Rolle des Staates.

Von HERBERT I. SCHILLER *

Die neue ökonomische Konstellation hat sich in den USA bereits in den sechziger Jahren angekündigt, als die dem Verteidigungsministerium unterstehende Behörde Arpa (Advanced Research Projects Agency) ein Telekommunikationsnetz errichtete, das atombombensicher sein sollte. Bald darauf erschienen die ersten populärwissenschaftlichen Werke, die den Computer als Geschenk des Himmels priesen, das ein neues, wahrhaft humanes Zeitalter bringen würde. Ein früher Prophet dieses Umbruchs war Alvin Toffler, der Bücher über den „Zukunftsschock“ und die „Zukunftschance“ verfaßte.1

Seitdem hat die Kampagne zur Verbreitung der Ansicht, daß Computer schlechterdings notwendig und unumgänglich seien, die ideologische Landschaft der USA umgestaltet. Wired, die Bibel der Netzsurfer, ist einer der eifrigsten Propagandisten des neuen Glaubens. Das im Januar 1993 gestartete Monatsmagazin des „digitalen Zeitalters“ konnte die Zahl seiner Abonnenten von 30000 auf 200000 steigern, indem es mit seiner hektischen Begeisterung ein Publikum anheizte, das von den MTV-Videoclips die Nase voll hatte.2

Obwohl die Zeitschrift frei und unabhängig sein will, haben die ökonomisch und ideologisch herrschenden Kreise ihren Nutzen bald erkannt. Und ihren finanziellen Wert. Ein Jahr nach dem Start von Wired hat die Gesellschaft Conde Nast 17 Prozent der Anteile erworben und anschließend verkündet, man wolle das Blatt innerhalb von fünf Jahren auf 450000 verkaufte Exemplare bringen. Conde Nast gehört zu Advanced Publications, dem Medienzweig der Gruppe Newhouse, der Zeitungen, Zeitschriften, Kabelfernsehkanäle und Verlage umfaßt. 1991 lag der Marktwert von Newhouse bei 7 Milliarden Dollar, was es zu einem der größten amerikanischen Unternehmen in Familienbesitz macht.3 Damit kann Newhouse zwar nicht mit Time Warner oder Disney konkurrieren, ist aber einer der wichtigsten Medienkonzerne des Landes.

Was bietet Wired – als offensichtlich völlig unabhängiges Presseorgan – seinen Lesern? Welches sind seine Lieblingsthemen? An erster Stelle steht die Werbebotschaft. Bevor der Leser auf einen Artikel stößt, muß er sich durch zahllose Seiten mit – manchmal recht gut gemachter – Werbung kämpfen. Naturgemäß überwiegen die Anzeigen von Elektronik- und Telekommunikationsfirmen: Sony, Compaq, IBM, Motorola, Panasonic, Bell, NEC, Intel, Novell, Microsoft usw. Aber es wird auch für andere Dinge inseriert, die einen Leserstamm von jungen Aufsteigern interessieren: Markenhemden, schicke Autos, Kleidung von Armani usw.

Außer dem Verkauf solcher Waren widmet sich Wired der Aufgabe, den Siegeszug der Computertechnologie zu feiern. Und zugleich die positiven sozialen Auswirkungen, die mit ihrer Verbreitung einhergehen. Die redaktionelle Masche des Magazins besteht darin, von allen vorgestellten Neuheiten zu behaupten, dies sei der letzte Schrei, einfach umwerfend, so unglaublich innovativ, daß der Mensch des 21. Jahrhunderts unmöglich darauf verzichten könne. Wer keine hinreichende Begeisterung für die neuen Technologien aufbringt, wird als archaisches Wesen belächelt, das im digitalen Zeitalter keine Überlebenschance hat.

In jeder Nummer von Wired kommen Autoren zu Wort, die das Fortschrittsdogma nachbeten und sich als Claqueure der amerikanischen und internationalen Computerindustrie betätigen. Einer dieser Adepten formulierte sein Credo in fast schon pathologischer Sprache: „Plötzlich hat uns die Technologie die Macht verliehen, nicht nur die äußere Wirklichkeit zu manipulieren, die Welt um uns herum, sondern auch und vor allem uns selbst. Ihr könnt alles werden, was ihr wollt.“4

Bei der Lektüre von Wired könnte man meinen, diese Schöne Neue Welt – für manche eine eher erschreckende Perspektive – sei bereits Realität geworden. Ein noch nicht ganz unkritischer Beobachter hat die Philosophie der Zeitschrift wie folgt resümiert: „Die Computer führen uns in eine utopische Zukunft der Symbiose von Mensch und Maschine, zu einer Religion, für die Cyberspace das Medium ist, das ein Goldenes Zeitalter einleitet. Ein Zeitalter der Digitalisierung, das den Geist endlich von der Materie befreit und den Aufstieg zu einer höheren Bewußtseinsebene ermöglicht.“5

Ihre digitale Erleuchtung scheint den Blick der Redakteure so sehr getrübt zu haben, daß sie nicht mehr sehen, wie viele Menschen noch immer mit sehr viel banaleren Problemen zu kämpfen haben, die seit Beginn der industriellen Revolution nie zu existieren aufgehört haben (Unsicherheit, Armut, Arbeitlosigkeit, Ausbeutung). Ein Autor, der häufig für Wired schreibt und die Sache des digitalen Zeitalters recht geschickt vertritt, behauptet sogar allen Ernstes, die Weltgesellschaft sei durch eine neue Kluft gespalten: auf der einen Seite die Anhänger des Internet, auf der anderen seine verstockten Gegner. Alles andere sei nur eine Funktion dieser Spaltung, die an die Stelle des früheren Klassenkampfs getreten sei. Bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen etwa müsse man sich fragen: „Wer tut am Ende mehr für das Net, Dole oder Clinton?“6

Gedankliche Kurzschlüsse dieser Art findet man in jeder Nummer. Ein besonders begeisterter „Internaut“ ist der festen Überzeugung: „Die Linke ist tot. Die Rechte ist tot. Ohne daß man sie offiziell hätte ausrufen müssen, hat sich unversehens eine Welt- und Wirtschaftsordnung der Netze etabliert.“7 Und die ebenfalls technologiebegeisterte Esther Dyson, die regelmäßig in Wired schreiben darf, bläst begeistert in dasselbe Horn und behauptet einfach, die Zeit der politischen Organisationen sei vorüber: „Parteien sind überflüssig, wenn offene Netze den Menschen ermöglichen, sich von Fall zu Fall zusammenzutun, statt sich ein für allemal einer festen Gruppe anzuschließen.“ Natürlich gab es solche Ideen, die jetzt so kühn daherkommen, in ähnlicher Form schon vor hundert Jahren. Aber wie kann man von Revolutionären, die für die digitale Befreiung kämpfen, auch noch historische Kenntnisse erwarten?

Die Technologie als einzige Lösung

OHNE Mühe erkennt man in den Analysen von Wired den Versuch, die marktbeherrschenden Kräfte zu legitimieren. Doch das ist nicht alles. Ein inhaltliches Merkmal verdient besonders hervorgehoben zu werden: die ständige Behauptung, ein vernetztes und technologisch hochgerüstetes Gemeinwesen könne die Mängel der modernen Gesellschaften überwinden. Wired meint, daß die Technologie ein neues und humaneres Zeitalter eingeleitet habe. So falsch diese Analyse ist, so gut kommt sie bei einem verunsicherten und ratlosen Publikum an, das endlich wieder an etwas glauben will. Dabei zeigt Wired sich außerstande, zu realisieren, daß die unbedingte und leidenschaftliche Bejahung des elektronischen Zeitalters einhergeht mit einer Anbiederung an die sozialen Kräfte, die die zugehörigen Technologien produzieren. Die Zeitschrift „vermeidet es tunlichst, auf die Ursprünge der Informationsverarbeitung und auf Einzelheiten ihrer Geschichte einzugehen“9. Das ist nur zu verständlich: Ein Blick in die Vergangenheit würde die engen Verbindungen zwischen den Wegbereitern von gestern und den Nutznießern von heute aufdecken; und damit wäre die digitale Revolution kaum mehr als Akt der Befreiung glaubhaft zu machen.

Wired ist erklärtermaßen antietatistisch und lehnt jede staatliche Einmischung auf gesellschaftlicher Ebene ab, verbreitet also die herrschende Ideologie, die jegliche Staatsgewalt schlicht mit Unterdrückung gleichsetzt. Die weltbeherrschende Macht des Marktes macht ihm dagegen kein großes Kopfzerbrechen.10

Kein Wunder also, daß Walter Wriston, der frühere Vorstandsvorsitzende der Citicorp-Citibank (der wichtigsten Bank der USA), in einem Interview seine Ansichten zur Zukunft des Geldes und der Weltwirtschaft in Wired darlegen durfte. Wriston hatte das Thema vor fünf Jahren zwar schon einmal erörtert, aber inzwischen ist aus dem geachteten Vertreter der Finanzwelt ein „cypherpunk“ oder heimlicher Anarchist geworden.

Begeistert ist Wriston vor allem von der Vorstellung, daß private Gelder in Milliardenhöhe in jedem Moment unkontrolliert dorthin fließen können, wo das transnationale Kapital die besten Verwertungsbedingungen vorfindet.11 Besonders neu ist das zwar nicht, denn seit nunmehr zwanzig Jahren nimmt das Volumen dieser Transaktionen ständig zu und beläuft sich heute auf weit über 1000 Milliarden Dollar täglich.

Dieses freie Flottieren von Kapital – im Interesse der multinationalen Konzerne, die ihr Geld dort anlegen, wo es am rentabelsten ist – erklärt zum Teil den Souveränitätsverlust der Staaten auf dem Gebiet der Wirtschaft. Die Telekommunikationsnetze tragen mithin entscheidend dazu bei, diejenigen noch mächtiger zu machen, die bereits die Macht haben: Großkonzerne, Militär, Nachrichtendienste und Polizei.

Bei allem volkstümlichen Parlieren wagen Wired und Wriston es allerdings nicht, diese Mächte beim Namen zu nennen. Auf die Frage des Magazins: „Wer ist heute dafür verantwortlich, daß die Staaten an Einfluß verlieren?“ antwortet der ehemalige Bankchef: „Niemand. Wenn sich die gewählten Politiker als schlecht erweisen, werden sie unverzüglich vom Markt bestraft. Eine solche Wirtschaftsdemokratie finde ich völlig in Ordnung.“12

Das also ist die moderne Definition der „Wirtschaftsdemokratie“: Die Finanzwelt entscheidet über die Tauglichkeit der gewählten Volksvertreter. Wired aber wird weiterhin alles Menschenmögliche tun, um seinen Lesern einzureden, daß das anbrechende Informationszeitalter, das bislang vorwiegend im Sinne einer „Demokratie“ mit Zensuswahlrecht funktioniert, schon heute ein Reich der Radikalität, der unendlichen Möglichkeiten und der Modernität darstelle.

dt. Andreas Knop

1 Alvin Toffler, „Future Shock“, New York (Random House) 1990, dt. „Der Zukunftsschock“, Bern/ München (Scherz) 1970, und „Third Wave“, New York (William Murrow) 1980, dt. „Die Zukunftschance. Von der Industriegesellschaft zu einer humaneren Zivilisation“, München (Bertelsmann) 1980.

2 Vgl. Yves Eudes, „MTV: Ein Lebensgefühl erobert die Welt“, Le Monde diplomatique, August 1995.

3 Laut Ronald Bettig, „Copywriting Culture“, Boulder (Westview) 1996.

4 Wired, San Francisco, Oktober 1994, S. 107. „Be what you want to be“ lautet der berühmte Slogan, mit dem die Armee der Vereinigten Staaten um Freiwillige wirbt.

5 David Bennahum, „The Myth of Digital Nirvana“, Educom Review, September/Oktober 1996.

6 John Perry Barlow, „The Powers That Were“, Wired, September 1996.

7 Mark Stahlman, Wired, Oktober 1994, S. 86.

8 Wired, Juni 1994, S. 80f.

9 Bennahum, a. a. O.

10 Vgl. Asdrad Torres, „Die große Illusion vom demokratischen Internet“, Le Monde diplomatique, November 1995.

11 Vgl. Philippe Quéau, „Qui contrôlera la cyber- économie?“, Le Monde diplomatique, Februar 1995.

12 Walter Wriston, „The Power of Money“, Wired, Oktober 1996, S. 140-143.

* Professor an der University of California, San Diego, u. a. Autor von „Information Inequality: The Deepening Social Crisis in America“, New York (Routledge) 1996.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von Herbert I. Schiller