15.11.1996

Gewaltmarsch zur Einheitswährung

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Gewaltmarsch zur Einheitswährung

IN einer Zeit, da man in der europäischen Öffentlichkeit kaum noch an Sinn und Nutzen einer Einheitswährung glaubt, die auf den Kriterien der Maastrichter Verträge basiert, beschleunigt sich der Entscheidungsprozeß, der ihre Einführung zum 1. Januar 1999 herbeiführen soll. Das stagnierende Wachstum und die steigende Arbeitslosigkeit machen die europäischen Regierungen jedoch kaum nervös. Die politischen Kräfte in Deutschland, die die Spielregeln festlegen und ihre Anwendung überwachen, verfolgen unerbittlich ihr Ziel, Europa den Forderungen der Weltmärkte anzupassen. In Frankreich sind die „Regierungsparteien“ entweder verstummt oder resigniert.

Von BERNARD CASSEN

Wenn der Countdown einmal läuft, bleibt für Einzeleinwände kaum noch Zeit. Auf der Madrider Ministerratssitzung im Dezember 1995 wurde der Zeitplan bis zum 1. Januar 1999, dem Stichtag für den Euro, verabschiedet. Sein Ablauf ist mit so komplizierten bürokratischen Prozeduren verbunden, daß – so mahnen die Experten – keine Zeit bleibt, um die politischen Optionen erneut zu diskutieren, die mit der Ratifizierung der Maastrichter Verträge beschlossen wurden.1

Das soll bedeuten, daß die französischen Wähler, als sie diesen Verträgen im September 1992 mit knapper Mehrheit zustimmten, zugleich für die vielgescholtenen Konvergenzkriterien – z. B. die Reduzierung des Haushaltdefizits auf weniger als 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) – samt ihrer verheerenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt votierten. Und zudem für die Abschaffung der Banque de France als nationaler Institution, für die Auslieferung der Währungspolitik, die bislang noch via Wahl der Regierung von den Bürgern beeinflußt werden kann, an eine Gruppe von Bankleuten, die niemandem Rechenschaft schuldig sind, usw. So gesehen hat Jacques Chirac am 26. Oktober 1995 mit seiner Wende zu einer Sparpolitik, die sich den „Kampf gegen das Haushaltsdefizit“ zur Richtschnur macht, seine Wahlversprechen verraten und wieder zu seinen 1992 vertretenen Positionen zurückgefunden.

An der Richtigkeit der berühmten Konvergenzkriterien zweifeln mittlerweile auch Leute wie Valéry Giscard d'Estaing, Jaques Delors2 und Laurent Fabius, die 1992 noch für die Annahme des Referendums plädierten: Vielleicht haben deshalb die EU-Kommission in Brüssel und die Regierenden in Bonn ihren Ton verschärft und wollen nur noch ein hartes Entweder- Oder gelten lassen.

Jacques Santer, der Präsident der Europäischen Kommission, verdonnert seine Leute zum Schweigen: „Ob die Einheitswährung gut für die Beschäftigung ist? Diese Frage stellt sich gar nicht.“3 Karl Lamers, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und Vertrauter von Helmut Kohl, äußert sich dagegen sehr offen und ohne „soziale“ Heuchelei. In einer schulmeisterlichen Antwort an Philippe Séguin, den Präsidenten der französischen Nationalversammlung4, ließ er die Katze aus dem Sack: „Die Regeln für die Europäische Währungsunion, festgelegt in den Maastrichter Verträgen, orientieren sich am deutschen Vorbild und erscheinen deshalb vielen Franzosen als deutsches Diktat. Aber das ist keineswegs der Fall. Sie stehen vielmehr unter dem Diktat der internationalen Realität, sprich der globalen Konkurrenz.“ Zum besseren Verständnis hatte Lamers zuvor gewisse Elemente dieser Realität aufgezählt: „Die staatlichen Sozialleistungen sind keine Garantie für Gerechtigkeit und in ihrer aktuellen Form auch nicht mehr finanzierbar. Die Politik muß sich an der internationalen Realität orientieren. Ein Ausdruck dieser Realität sind die Erwartungen der internationalen Finanzmärkte.“

Man sollte meinen, daß diejenigen, die in der Einheitswährung das Patentrezept für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, die Schaffung einer europäischen Identität und so weiter sehen, der Auffassung entgegentreten müßten, wonach Politik nicht mehr den Forderungen der Bürger, sondern „den Märkten“ zu gehorchen habe. Aber von Séguin kam dieser Widerspruch nicht, und zwar aus gutem Grunde: Alles, was Lamers so unverblümt sagte, ist längst in den EU-Verträgen festgeschrieben: Dort wird den „unabhängigen“ Zentralbanken als den „Wortführern“ der Märkte die Verantwortung für die Währungen übertragen. Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer hat vor kurzem daran erinnert, wie das einmal aussehen wird, als er dafür plädierte, „das Sozialsystem zu reformieren und die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen“5.

Die Hüter des Allerheiligsten

AUCH wenn die Politiker eine so grundlegende Verantwortung aus der Hand geben, bleiben sie in den Augen der Öffentlichkeit dennoch rechenschaftspflichtig für Entscheidungen, an denen sie gar nicht mehr teilhaben. Sie können nur noch hoffen, daß die künftige Europäische Zentralbank in Frankfurt sich gegenüber ihrem Klagen nicht nur taub stellen wird. Das Beispiel der unabhängig gewordenen Banque de France dürfte inzwischen aber den Politikern die Augen geöffnet haben. Hier hat sich Notenbankpräsident Jean- Claude Trichet zum Richter aufgeschwungen, der die Regierung und damit auch die Wähler mit seinen souveränen Urteilssprüchen konfrontiert. Mit gnädiger Herablassung erklärte er vor kurzem, der Haushaltsentwurf von Premierminister Juppé sei „ein Schritt in die richtige Richtung“, was eigentlich besagt, Juppé hätte es getrost „noch besser machen können“.

Unter den strengen Blicken von Hans Tietmeyer und Finanzminister Theo Waigel, den selbsternannten Hütern des Allerheiligsten der europäischer Währungspolitik, ist nicht nur die Regierung in Paris zum Gewaltmarsch in Richtung Euro aufgebrochen. Auch in Madrid, Rom, Brüssel, Helsinki, Lissabon und so weiter werden die Sozialausgaben gekürzt und die nötigen buchhalterischen Tricks vollführt, um das Haushaltsdefizit unter die 3-Prozent-Schwelle (bezogen auf das BIP) zu drücken.

Aber der deutschen Regierung reicht das noch nicht. Beim Treffen der Wirtschafts- und Finanzminister am 21. September in Dublin arbeitete sie auf einen „Stabilitätspakt“ hin, der bei den in den Euro-Club aufgenommenen Ländern jedes Haushalts-„Ungleichgewicht“ unterbinden soll. Gelingt das nicht, drohen strenge Finanzsanktionen. Ein französischer Bankier kommentierte treffend: „Man braucht eine Eins für die Zulassung und eine Eins beim ständigen Leistungsnachweis.“6 Die einzelnen Regierungen wissen nun, daß ihnen in Zukunft keinerlei Spielraum bleiben wird, um auf die Konjunkturentwicklung zu reagieren oder noch weiterreichende Ambitionen zu verfolgen: etwa eine Alternative zu der Politik zu entwickeln, die das aktuelle soziale Desaster herbeigeführt hat. Eine „andere Politik“ also, die von der Annahme ausgeht, daß das Haushaltsdefizit nicht die Ursache, sondern die Folge der Arbeitslosigkeit ist.7

So aber unterwerfen sich die politischen Führer mit unwürdigen Verrenkungen der Zuchtrute der deutschen Währungsbehörden, die nach dem treffenden Diktum von Karl Lamers nur die „Markterwartungen“ ausdrücken. Und von denen sie bestenfalls ein wenig Mitleid und ein paar Erleichterungen erhoffen dürfen. Der „Stabilitätspakt“ ist also nicht nur ein eindeutiges Resultat des Einheitsdenkens, er wird künftig auch als Geburtszange eingesetzt, um eine einheitliche Politik ans Licht der Welt zu ziehen. Denn die Regierungen, die sich für den Euro qualifizieren, werden nicht nur das Instrument der Währungspolitik – die der Europäischen Zentralbank vorbehalten sein wird – auf Dauer eingebüßt haben, sondern auch eine selbständige Haushaltspolitik.

Welchen Sinn hätte dann aber noch ein politischer Wechsel in Frankreich oder anderswo? Auf die hypothetische Möglichkeit einer „Europäischen Wirtschaftsregierung“, der die Europäische Zentralbank unterstellt wäre, kann man im Ernst nicht hoffen. Die Maastrichter Verträge schließen sie aus, und es ist auch nicht damit zu rechnen, daß sie im Laufe der Regierungskonferenz wieder aufgegriffen wird, denn hier würden vor allem Bonn und London, aber auch andere ihr Veto einlegen.

Den Antrag, den Grundwert „Beschäftigung“ auf eine Stufe mit der Geldstabilität zu stellen, hat die Mehrheit der fünfzehn Regierungen abgelehnt. Dies sagt einiges darüber aus, wie ehrlich das Lamento über die „Spaltung der Gesellschaft“ gemeint ist oder die Parole vom „Kampf gegen den sozialen Ausschluß“ und andere Slogans für den innenpolitischen Gebrauch. Wenn Minister und Europakommissare hinter verschlossenen Türen als „verantwortungsbewußte“ Menschen diskutieren, grinsen sie über so ungereimtes Zeug. Und sie lächeln nachsichtig, wenn ein paar Teilnehmer glauben, solche Forderungen nach der Rückkehr in ihre Hauptstädte vertreten zu müssen. Und man läßt ihnen die Behauptung durchgehen, sie selbst „hätten ja gewollt“, aber leider hätten „ihre Partner nicht zugestimmt“. Und wenn's drauf ankommt, kann man die Bürger nach altbekanntem Muster ein wenig erpressen: Wollt ihr etwa Europa gefährden, nur weil ihr die Folgen der Einheitswährung fürchtet?

Die Wirtschaftskommentatoren behaupten tatsächlich, die Einheitswährung wäre für immer vom Tisch, wenn sie 1999 nicht eingeführt würde, und dann sei der Aufbau Europas ernsthaft gefährdet oder gar zunichte gemacht. Weitsichtiger wäre allerdings die Frage, ob die Einheitswährung nicht eher zum Untergang Europas führt, statt seine Einigung zu befördern. Würde man die Wähler rückhaltlos informieren und dann befragen, könnten sie das, was man ihnen ungerechtfertigterweise als Europa präsentiert, mit sozialem Rückschritt und Abbau der Demokratie gleichsetzen.

Es ist also verständlich, warum die Idee eines Referendums zu diesem Thema in Frankreich die meisten Verantwortlichen der „Regierungsparteien“ und bei fast allen Medien in Panik versetzt. Dänemark und Großbritannien mußte man das Recht einräumen, über den Übergang zur dritten Phase der Währungsunion und damit zum Euro eigenständig zu entscheiden, andernfalls hätten beide Länder die Maastrichter Verträge nicht ratifiziert. Dagegen erfolgt dieser Übergang für die anderen Länder automatisch. Bezeichnenderweise hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, ungeachtet aller bestehenden Verträge, dieses Recht auch für Deutschland gefordert. Sollte das, was drei Ländern, und nicht den unwichtigsten, richtig erscheint, nicht auch für die anderen gut sein? Wäre es von Jacques Chirac zuviel verlangt, die gesamte Bevölkerung nicht nur – wie beabsichtigt – in Erziehungsangelegenheiten direkt zu konsultieren, sondern auch in einer nicht weniger entscheidenden Frage: Ob nämlich die Bürger auch weiterhin die Freiheit haben sollen, über die Gestalt der Gesellschaft zu entscheiden, in der sie leben?

dt. Christian Voigt

1 Le Monde diplomatique veranstaltet im Dezember in Le Mans ein Colloquium mit dem Titel „Europa – für oder gegen uns?“.

2 Valéry Giscard d'Estaing formuliert klipp und klar: „Ich glaube nicht, daß es für unser Land wünschenswert ist, sich in einem Zustand wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Schwäche auf das große europäische Abenteuer einzulassen“, (L'Express, 10. Oktober 1996). Jacques Delors vertritt seinerseits die Ansicht, daß die europäische Währung ohne eine europäische Regierung „zum Trojanischen Pferd der Globalisierung“ werden könnte. (Le Nouvel Observateur, 26. September-2. Oktober 1996).

3 Le Soir, Brüssel, 17. Oktober 1996.

4 „Non, monsieur Séguin, il n'y a pas d'autre politique“, Le Monde, 12. Oktober 1996.

5 Interview mit Le Monde, 17. Oktober 1996. Siehe die Antwort Pierre Bourdieus, „Warnung vor dem Modell Tietmeyer“, Zeit, 1. November 1996.

6 Le Nouvel économiste, Paris, 18. Oktober 1996.

7 Siehe Liem Hoang-Ngog und Pierre-André Imbert, „Fünf Ansatzpunkte für eine neue Beschäftigungspolitik“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von Bernard Cassen