15.11.1996

Kulturrevolution auf japanisch

zurück

Kulturrevolution auf japanisch

DER Einfluß des Fernen Ostens auf die Kultur und Gesellschaft Europas ist zwar weniger aggressiv als die Amerikanisierung unserer Lebensstile, doch ist er deswegen nicht weniger real. Japanisch geprägte Produkte und Produktionsverfahren „kolonisieren“ die westlichen Gesellschaften auf leisen Sohlen. Dieser Einfluß setzt sich durch über neue Produkte, wie auch über bestimmte Vorstellungen und Modelle industrieller Fertigung und Unternehmensführung. Besonders die jüngeren Generationen sind dafür empfänglich.

Von MARC BOSCHE *

Das Schicksal der Kolonisatoren sei es, insgeheim von der Kultur der Besiegten unterwandert zu werden, meint der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung in seiner Autobiographie. Das Beispiel Japans scheint dieser Behauptung recht zu geben. Seit das Land 1945 von der US-amerikanischen Armee besetzt wurde, gewinnt es einen immer stärkeren Einfluß auf die westlichen Gesellschaften, auch wenn das häufig unbemerkt bleibt.

Diese Faszination verbreitet sich weniger über politische Ideologien oder Religionen als vielmehr über Objekte. So hat das Telefaxgerät in Asien auf Betreiben asiatischer Herstellerfirmen eine ungeheure Verbreitung gefunden. Es erlaubt die einfache Übertragung der chinesischen Bilderschrift und der Schriftzeichen anderer asiatischen Sprachen, ohne auf die Tastatur angewiesen zu sein, die für das römische Alphabet entwickelt wurde.1 Das Faxgerät ist heute in der ganzen Welt verbreitet, doch man hat längst vergessen, daß die analoge Übermittlung von Schriftzeichen eine Methode ist, die sich zwingend aus den Erfordernissen der asiatischen Sprachen ergeben hat.

Auch die Zahl der tragbaren Geräte nimmt ständig zu; man denke etwa an den Discman, an das Funktelefon oder den Microcomputer. Die Verbreitung der Kleinstcomputer geht vorwiegend auf die Strategie der Firma Toshiba in den achtziger Jahren zurück. Die Begeisterung für diese platzsparenden Geräte hat mit den knapp bemessenen Arbeitsplätzen in japanischen Großraumbüros zu tun. Der von den internationalen Großherstellern entwickelte Laptop ist ein Gerät, das die Bildschirmarbeit erheblich verändert hat, ohne daß man dies groß wahrgenommen hätte.

Die Bedeutung, die in der Verbreitung solcher Phänomene liegt, wird nicht immer erkannt. Der westliche Kulturbegriff meint in der Regel einen Kodex von Ideen und Werten, umfaßt also nicht die Abfolge der verschiedenen Gebrauchsgegenstände. Demnach ist die Fähigkeit, den Einfluß des Fernen Ostens zu verdrängen oder gar zu leugnen, keine neue Erscheinung. Bis vor wenigen Jahren lernten wir noch, der Buchdruck sei eine europäische Erfindung. Buchdruck mit beweglichen Lettern aus Holz oder Metall war jedoch in China und Korea bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts bekannt.2 Es ist sogar ein koreanisches Druckwerk von 1397 erhalten, das mit beweglichen Schriftzeichen aus Metall hergestellt wurde.

Für den Soziologen Marshall Sahlins gehört zu „Kultur“ gerade auch diese Verbreitung von Gegenständen, dieser inflationäre Konsum um des Konsums willen.3 Wer die Zeichen dieser Verbreitung kontrolliert und deren Normen und Kriterien bestimmt, wird dieses Spiel der Zeichen – und vielleicht auch der Bedeutungsinhalte – gewissermaßen beherrschen. Auf diese Weise setzt sich eine bestimmte Soziokultur durch, wobei es allerdings im Zeitalter der multinationalen Konzerne schwerfällt, jeweils ihren genauen Ursprung zu bestimmen. Dennoch sind noch immer einige einflußreiche nationale Kulturen identifizierbar. Der American way of life etwa macht sich in den Waren und Dienstleistungen, die Europa überfluten, allenthalben bemerkbar. Aber es läßt sich auch nicht mehr übersehen, daß dieser dominierende Einfluß mit immer mehr japanisch und asiatisch geprägten Produkten durchsetzt ist.

Diese kulturelle Prägung läßt sich auch bei den Methoden der Produktion und Arbeitsorganisation feststellen. Unternehmenskultur, Qualitätszirkel, Null Fehler, Just-in-time-Prinzip, flexible Werkstätten, totale Qualitätskontrolle oder programmierte Kostensenkung, all diese betrieblichen Konzepte sind tatsächlich japanischen Ursprungs.

Manche beruhigen sich mit dem Hinweis, einige dieser Konzepte – wie Qualitätszirkel oder Qualitätskontrolle – seien ursprünglich im Westen erfunden und ausprobiert worden. Doch die neuen Spielregeln der Logistik und der Computerfertigung sind aus Japan zu uns gekommen und wurden von westlichen Ingenieuren in den achtziger Jahren für ihre Fabrikationsanlagen übernommen. Solche Konzepte beeinflussen jeden einzelnen Beschäftigten und entwickeln damit ihre prägende Wirkung auf die Kultur der betreffenden Länder. Denn es bleibt keineswegs folgenlos, wenn man in einer Atmosphäre arbeitet, die vom Begriff der totalen Qualität geprägt ist, in der jeder Handgriff zählt, die jedem die größte Aufmerksamkeit abfordert und persönliche Verantwortung zu einer grundlegenden Dimension von Arbeit macht.

In den USA wurden diese Methoden zu Beginn der achtziger Jahre eingeführt, zumal in der Autoindustrie, die sich als erste Branche der japanischen Konkurrenz erwehren mußte. Der Erfolg von William Ouchis Buch „Theory Z“, das der Autor 1981 im Anschluß an eine Studienreise publiziert hat, war einer der ersten Hinweise auf die bevorstehende Umwälzung der Methoden im Produktionsmanagement, die auf den ökonomischen Erfolg Japans zurückzuführen waren.

Auch außerhalb der Arbeitswelt ist dieser Einfluß in Europa spürbar: Japanische Lebensart beginnt auch die Konsumsphäre zu durchdringen. Futons haben sich nicht nur als platzsparende Jugendmöbel durchgesetzt. Ein Blick in den Katalog eines beliebigen Möbel- oder Einrichtungshauses reicht aus, um festzustellen, daß Japan mit allen möglichen Details vertreten ist: mit Trennwänden aus durchscheinendem Papier, mit Bonsai-Bäumchen, niedrigen Tischen und so fort. Auch die Modeboutiquen lassen sich von der japanischen Ästhetik inspirieren. Die Idee von Verkaufsräumen mit nackten weißen Wänden, wo die Kleidungsstücke ohne große Dekoration einfach auf Bügeln hängen, ist eine japanische Idee. Und wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, daß junge Europäer an Karaoke Geschmack finden könnten5 – dieser zutiefst asiatischen Form des Freizeitvergnügens, bei dem man sich in Gesellschaft – und im Gleichklang mit dem entsprechenden Musikvideo – als Gesangsinterpret bekannter Musikstücke produzieren darf?

Die Welt reduzieren

AM stärksten sind die Kinder von dieser „Kolonisierung“ betroffen. Sie lesen immer mehr japanische Comics, die in Europa bereits eine feste kulturelle Größe darstellen. Die Begeisterung für diese Mangas ist auf die japanischen Zeichentrickfilme zurückzuführen (häufig handelt es sich um Koproduktionen mit US-amerikanischen Firmen), die täglich mehrere Stunden lang im Fernsehen laufen. Noch deutlicher ist die Entwicklung bei den Video- und Computerspielen und ihrem von Konkurrenz und Gewalt geprägten Universum. Einer der Marktführer in dieser Branche ist die Firma Nintendo, ein mittelständisches Unternehmen aus Kyoto mit knapp tausend Beschäftigten, das im Sommer 1992 den höchsten Profit aller japanischen Firmen erzielte. Die „Gameboys“ werden inzwischen abgelöst durch die „Playstations“ von Sony und das „Saturn“-System von Sega. Anfang der neunziger Jahre hat eine Untersuching in den USA ergeben, daß Mario, die kleine Emblemfigur der Firma Nintendo, heute schon populärer ist als Walt Disney‘s Mickey Mouse.

Die Kinder des Abendlandes leben bereits mehrere Stunden pro Tag in einer nach japanischen Kriterien entworfenen Welt aus Zeichentrickfilmen, Videospielen, Comics, Walkmen, Mini-Hifi-Anlagen, Videorecordern. Als Jugendliche erwartet sie dann eine Reihe weiterer japanischer Kulturprodukte: CDs von Sony, digitale Fotoapparate, Videokameras, Motorräder, Futons, Laptops, superdünne Kondome made in Japan und so weiter.

John Sculley, der ehemalige Präsident von Apple, legt Wert auf die Feststellung, daß seine Computer den Miniaturisierungskriterien aus Japan entsprechen: „Einer der Gründe für den durchschlagenden Erfolg Japans liegt im Bestreben, die Objekte auf ihre schlichteste und kleinste Form zu reduzieren. (...) Der japanische Ansatz besteht darin, die Welt zu reduzieren, um ihr Wesen zu erfassen, sie auszudrücken und handhabbar zu machen. Es sind die Bonsais wie die Minitransistoren, die es Japan ermöglicht haben, nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich in den Weltmarkt vorzudringen; beide entspringen der Tendenz, die Dinge zu miniaturisieren. Apple hat sich in seiner Unternehmensphilosophie von den Japanern leiten lassen. Es ist kein Zufall, daß der Macintosh zum Zeitpunkt seiner Markteinführung der kleinste bis dahin hergestellte Bürocomputer war.“6

Allerdings wurde die Bedeutung dieser Miniaturisierung von westlichen Firmen nicht immer richtig begriffen. Häufig hat man sie als bloße Verkleinerung verstanden. In Wirklichkeit zielt diese Tendenz noch auf etwas ganz anderes. Sony vertreibt seit 1979 Aufnahmegeräte, die in die Hosentasche passen. Der Leiter des Unternehmens, Akio Morita, schreibt: „Miniaturisierung und kompakte Formen haben die Japaner immer gereizt: Unsere Truhen ließen sich ineinanderstellen, unsere Fächer zusammenfalten, unsere Gemälde einrollen.“7 Seit 1952 schon arbeitet Sony daran, elektronische Geräte zu entwickeln, die kleiner sind als die der US-amerikanischen Konkurrenten. Akio Morita erklärt, wie in den fünfziger Jahren die Idee entstanden ist, Radios mit Transistoren zu bestücken: „Unser Ziel war klar – ein Radio, das in einer Hemdtasche Platz finden sollte. Kein tragbares Radio, insistierte ich damals mit Emphase, sondern ein Taschenradio.“8 Regency, eine amerikanische Firma, hatte mit Hilfe von Texas Instruments schon Anfang der fünfziger Jahre, noch kurz vor Sony, ein Miniradio für den US-Markt herausgebracht – und wieder verworfen, weil man für das Konzept keine Zukunft sah!

25 Jahre nach dem Miniradio von Sony, das 1955 mit Erfolg in den Handel kam, wurden die westlichen Elektronikunternehmen 1979 erneut überrumpelt – diesmal von der Einführung des Walkman, der binnen kurzem großen Anklang fand. In diesem Vierteljahrhundert hatten die Produktmanager den eigentlichen Sinn der Taschengegenstände offenbar noch immer nicht begriffen. Nach wie vor sahen sie im Walkman lediglich die verkleinerte Fassung einer bekannten Sache. Damit ist der westlichen Welt die Revolution der „nomadisierenden“ Gegenstände völlig entgangen, obwohl sie von diesen zur gleichen Zeit überflutet wurde.

Es läuft immer auf dieselbe Weise: Japanische Industrielle entdecken in der westlichen Welt innovative Ideen, kaufen die Technologie oder vergeben einen Auftrag an ein führendes westliches Forschungsinstitut. Zuweilen lassen sie westliche Ingenieure Prototypen entwickeln. Dann nehmen sich japanische Arbeitsgruppen den neuen Produktentwurf oder Produktionsprozeß vor. Als Substrat all dieser Erfahrungen bringen japanische Industrielle die neuen Produktreihen zur Serienreife, mit denen sie den Markt revolutionieren. Koreaner, US-Amerikaner und Europäer müssen reagieren und die japanischen Innovationen so schnell wie möglich aufgreifen. Die haben sich damit weltweit durchgesetzt. Und am Ende bleibt den Forschern der englischsprachigen Wissenschafts-Community, die sich auf Management und Ingenieurswissenschaften spezialisiert haben, nichts Besseres, als der Entwicklung in akademischen Schriften ein Denkmal zu setzen.

Akio Morita nannte den Taylorismus die „offene Wunde des Westens“9. Westliche Industrielle machen immer noch den Unterschied zwischen dem Produkt und seiner Vermarktungsstrategie. Demgegenüber werden japanische Produkte von einer kaufmännischen Idee her konzipiert, ganz im Stil einer neuen Dienstleistung. Sie werden also auf ihre Funktion hin entworfen: Beispielsweise entspricht der Wegwerf-Fotoapparat von Fuji, der „Quicksnap“, dem sporadischen Bedürfnis, Fotos zu machen.

Japanische Innovationen verkaufen sich, ohne daß in der Startphase viel Werbung nötig wäre. Statt auf Marktanalysen zu vertrauen wie die meisten westlichen Industriellen, begnügen sich die japanischen Manager mit einem allgemeinen, aber detaillierten und aktuellen Überblick und verlassen sich ansonsten auf ihre Kenntnis der Menschen – und ihrer Wünsche. Die abstrakte, praxisferne Ausbildung westlicher Führungskräfte schärft nicht den Blick dafür, wie sich Dinge unter dem Einfluß einer Idee verwandeln. Die japanischen Ingenieure hingegen begreifen aufgrund ihrer praxisnahen Ausbildung und der (wie lange noch vorhandenen?) innigen Verbindung zu ihren kulturellen Traditionen, wie man die Essenz einer Idee in ein winziges Stück Materie bannen kann.

Dank dieser intuitiven Fähigkeiten und der gleichzeitigen Beherrschung ausgefeilter Organisationstechniken sind die japanischen Industriellen, ohne daß es groß aufgefallen wäre, zu Designern eines neuen Lebensstils geworden. So weben sie ständig weiter an den symbolischen Formen des Alltäglichen. Und die Produkte, die betrieblichen Strukturen und die Vorstellungen aus dem Fernen Osten werden allmählich von der westlichen Kultur aufgesogen – wie sanfter Dauerregen von porösem Stein. Die symbolischen Formen des Ostens verschmelzen kontinuierlich mit der westlichen Kultur – zum Segen der internationalen Konzerne.

dt. Miriam Lang

1 Siehe Gérard Henry, „Fieberhafte Suche nach einer kulturellen Identität“, Le Monde diplomatique, Juli 1996.

2 Siehe Etiemble, „L'Europe Chinoise“, Paris (Gallimard) 1988, Bd. I, S. 33.

3 Marshall Sahlins, „Kultur und praktische Vernunft“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994.

4 William Ouchi, „Theory Z: How American Business can meet Japanese Challenge“, Reading (Addison-Wesley) 1981.

5 Siehe VSD vom 1. Mai 1996.

6 John Sculley und John A. Byrne, „Meine Karriere bei Pepsico und Apple“, Düsseldorf (Econ) 1989.

7 Akio Morita, „Made in Japan“, Paris (Robert Laffont) 1986.

8 Ebenda.

9 Ebenda.

* Professor an der Ecole supérieure de sciences économiques et sociales, Paris.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von Marc Bosche