15.11.1996

Mutter Teresa – eine Medienheilige

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Mutter Teresa – eine Medienheilige

Von CHRISTOPHER HITCHENS *

DIE Heiligen“, schrieb George Orwell 1949, „sollte man solange für schuldig halten, bis das Gegenteil erwiesen ist.“ Bei Mutter Teresa scheint man es lieber umgekehrt zu halten. Während sich das Ansehen einer Person des öffentlichen Lebens gewöhnlich an ihren Taten bemißt, wird alles, was Mutter Teresa tut, im Lichte ihres Rufs gesehen. Und dieser Ruf ist der einer Heiligen, die sich selbstlos für die Ärmsten der Armen aufopfert.

Zwei Beispiele aus jüngerer Zeit. Im November 1995 sollten die Iren per Volksentscheid über das Recht auf Ehescheidung abstimmen. Irland war der letzte europäische Staat, in dem die Scheidung bis dato verboten war. Zur gleichen Zeit aber verhandelte das Land mit den Protestanten in Ulster, die befürchten, ein Abkommen mit Dublin könnte den Einfluß der katholischen Kirche überhandnehmen lassen. Wohl auch um die Protestanten im Norden zu beruhigen, riefen die meisten irischen Parteien dazu auf, bei dem Referendum mit Ja zu stimmen. Der Ausgang war denkbar knapp, am Ende siegten die Scheidungsbefürworter mit 50,3 Prozent. Mutter Teresa, die keine Irin ist, rief dazu auf, mit Nein zu stimmen.

Einige Monate später gab sie der amerikanischen Zeitschrift Ladies Home Journal, die von Millionen Hausfrauen gelesen wird, ein Interview. Als sie auf ihre Freundschaft mit Lady Diana, der Prinzessin von Wales, und auf die unmittelbar bevorstehende Scheidung im britischen Königshaus angesprochen wurde, sagte Mutter Teresa gelassen: „Es ist gut, wenn es vorbei ist. Keiner von beiden war wirklich glücklich.“ Wie man sieht, werden arme Frauen von Mutter Teresa mit Moralpredigten abgespeist, einer Prinzessin hingegen wird mit unendlicher Milde so gut wie alles vergeben. Nirgends in der Presse hielt man es für nötig, diese widersprüchlichen Äußerungen nebeneinanderzustellen, denn das hätte das schöne Bild der „Medienheiligen“ getrübt.

Gleichwohl ist der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis für Mutter Teresa durchaus typisch. Und es gibt noch etliche andere Dinge, die man gerne mit Schweigen übergeht. 1981 reiste Mutter Teresa nach Haiti und nahm dort die höchste Auszeichnung des Landes aus den Händen der Familie Duvalier entgegen. Anschließend bedankte sie sich mit einer devoten Rede, in der sie völlig unverfroen behauptete, der Diktator Jean-Claude Duvalier – „Baby Doc“ – und seine Frau Michèle würden „die Armen lieben“, und die würden ihn deshalb auch so sehr „verehren“.

1990 besuchte Mutter Teresa Albanien, das Land, aus dem ihre Eltern stammten (sie wurde in Skopje, der Hauptstadt Makedoniens, geboren). Sie hatte keine Skrupel, ein Blumengebinde auf dem Grab des früheren stalinistischen Machthabers Enver Hodscha niederzulegen, dessen Regime eines der repressivsten auf der Balkanhalbinsel war. Sie legte noch einen weiteren Kranz in Tirana nieder: zu Füßen des Denkmals „zum Ruhme von Großalbanien“ – einer expansionistischen Idee, die auf den Kosovo (in Serbien), Südepirus (im Norden Griechenlands) und den Westen des heute unabhängigen Makedonien spekuliert. Viele Albaner waren schockiert darüber, daß sie sich an der Seite der Witwe des ehemaligen Diktators zeigte und kein Wort über die Menschenrechtsverletzungen verlor.

1992 intervenierte Mutter Teresa beim Prozeß gegen den Betrüger Charles Keating, der die US-amerikanischen Sparkassen um 252 Millionen Dollar erleichtert hatte, und zwar überwiegend auf Kosten von Kleinsparern. Keating, der zuvor als Saubermann gegen die Pornographie zu Felde gezogen war, hatte Mutter Teresa 1,25 Millionen Dollar gespendet und ihr sein Privatflugzeug zur Verfügung gestellt. Und „die Medienheilige“ hatte sich nicht gescheut, als Gegenleistung ihr hohes Ansehen in die Waagschale zu werfen, um Keating zu helfen. Sie verfaßte sogar einen Brief an das Gericht, in dem sie um Milde für einen Mann bat, „der viel getan hat, um den Armen zu helfen“. Einer der Staatsanwälte bat sie daraufhin, sie möge doch bitte das aus dem Diebstahl stammende Geld, das sie erhalten hat, an die Eigentümer zurückgeben. Doch Mutter Teresa ist natürlich viel zu unschuldig, um einen Blick für die Unredlichkeit anderer Menschen zu haben, und lehnte reinen Gewissens ab.

Das gottgegebene Leid der Armen

OFFENBAR hat Mutter Teresa immer wieder reichlich Zeit, um sich den Reichen und Mächtigen zu widmen. Doch wie sieht es mit ihrer weithin berühmten Sorge für die Armen und Schwachen aus? Die Bilanz fällt weniger eindeutig aus, als man erwarten würde. Britische und amerikanische Ärzte haben etwa auf das eher dürftige Niveau der medizinischen Versorgung in den Hospizen hingewiesen, die von Mutter Teresa in Kalkutta unterhalten werden: Es gibt keine schmerzstillenden Mittel, die Spritzen werden unter kaltem Wasser gereinigt, die Ernährung der Patienten ist katastrophal, und der Tod wird mit fatalistischem Gleichmut hingenommen. An fehlendem Geld kann es nicht liegen. Der genaue Kontostand ihres Ordens, der Missionarinnen der Nächstenliebe, ist zwar nicht bekannt, aber jedermann weiß, daß enorme Summen gesammelt wurden, die ohne weiteres ausreichen würden, um in Kalkutta eine vernünftige Klinik zu betreiben. Voller Stolz weist Mutter Teresa statt dessen darauf hin, daß sie 500 Klöster in 101 Ländern gegründet habe, „Indien nicht mitgerechnet“. Hat die „multinationale Missionarin“ also das Geld, das ihr Menschen spendeten, um das Leid der Armen zu lindern, womöglich zweckentfremdet, um ihrem Bekehrungseifer zu frönen?

Doch für welche Glaubenslehre genau wird geworben? Mutter Teresa vertritt mit Nachdruck eine sehr schlichte Form des christlichen Fundamentalismus. Aus einer stoisch-resignativen Grundhaltung heraus erachtet sie das Leid der Armen für gottgegeben. An den Wänden der von ihr betreuten Leichenhalle in Kalkutta kann man die Inschrift lesen: „Heute komme ich in den Himmel“. Es ist also nur folgerichtig, wenn Mutter Teresa mit den konservativen Katholiken Lateinamerikas und Europas sympathisiert und jedes politische Projekt ablehnt, das gegen die soziale Ungerechtigkeit kämpft. Nicht nur verurteilt sie mit aller Schärfe den Gebrauch von Verhütungsmitteln, sie hat auch deutlich gesagt, daß sie es nie akzeptieren würde, „Eltern, die abgetrieben haben, ein Kind zur Adoption anzuvertrauen“. Schon in der Rede, die sie 1979 bei der Entgegennahme des Nobelpreises hielt, hat sie den Schwangerschaftsabbruch als „die größte Bedrohung des Weltfriedens“ bezeichnet. Es überrascht also nicht, wenn man erfährt, daß Mutter Teresa sich bei innerkirchlichen Debatten um die „Befreiungstheologie“ und andere „moderne Häresien“ stets auf die Seite Papst Johannes Paul II. gestellt hat. Zudem hat sie einmal geäußert: „Es ist etwas sehr Schönes, wenn man sieht, wie die Armen ihr Kreuz tragen. Wie die Passion Christi, ist ihr Leid ein großes Geschenk für die Welt.“ Da es uns nun mal an Armen auf absehbare Zeit nicht mangeln wird, kann man sie also ohne weiteres zur Ausschmückung erbaulicher Reden in Anspruch nehmen.

Ein Waisenhaus gegen Abtreibung und Verhütung

WIE aber erklärt sich, daß eine Frau mit geradezu mittelalterlichen Ansichten so sehr bewundert wird, und das keineswegs nur von den Frommen? Ein Grund liegt vielleicht darin, daß viele von uns, die angesichts des Elends in der Dritten Welt ein schlechtes Gewissen empfinden, nur allzu froh sind, wenn sie eine Person gefunden haben, die stellvertretend das Gebot der Nächstenliebe erfüllt. Wenn man sich derart das Gewissen entlastet hat, legt man keinen großen Wert mehr darauf, die Motive und Taten dieser Stellvertreterin genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ohne daß die Anhänger der Familienplanung sich darüber aufregen würden, kann Mutter Teresa daher in aller Seelenruhe behaupten – und das hat sie schon mehr als einmal getan –, daß „es nie zu viele Babys geben wird, gerade so, wie es nie zu viele Blumen oder Sterne geben kann“. Im September 1996 verlieh ihr der amerikanische Kongreß den Ehrenbürger-Titel, eine Auszeichnung, die bislang nur William Penn und seiner Gattin (den Gründern des Staates Pennsylvania), Winston Churchill und Raoul Wallenberg zuteil geworden ist. Und obwohl während des Wahlkampfs sehr intensiv über Abtreibung und die (im übrigen stark überschätzte) Macht der religiösen Rechten diskutiert wurde, gab es im Kongreß nicht eine einzige Gegenstimme.

Im Januar 1980 habe ich zusammen mit anderen das kleine Waisenhaus in Kalkutta besucht, das Mutter Teresa gerade erst eröffnet hatte. Auch wenn diese Einrichtung angesichts der gewaltigen Probleme der Stadt nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein konnte, waren wir zunächst doch alle sehr beeindruckt. Als die Besichtigung fast vorbei war, hob Mutter Teresa plötzlich den Arm in die Höhe und klärte mich auf: „Sehen Sie, so kämpfen wir in Bengalen gegen Abtreibung und Verhütung.“ Dieses Bekenntnis hatte wenigstens den Vorzug der Offenheit. Mutter Teresa, die auch sonst nie verheimlicht hat, daß sie eine dogmatische Ideologie vertritt, geht es in erster Linie um die Werte eines konservativen Fundamentalismus, und nicht so sehr um humanitäre Hilfe.

Mutter Teresa war in der Wahl ihrer Gönner nie zimperlich, fast immer waren sie gleichermaßen reich, autoritär und skrupellos. Einige ihrer Verteidiger erinnern uns daran, daß auch Jesus nicht immer in der besten Gesellschaft verkehrte. Aber wenn man schon auf die Bibel verweist, wird man auch sagen müssen, daß der Rückhalt, den Mutter Teresa noch immer in einer ansonsten skeptischen und materialistischen Öffentlichkeit findet, eigentlich – ein kleines Wunder ist.

dt. Andreas Knop

* Journalist, Autor von „The Missionary Position“, London (Verso) 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.11.1996, von CHRISTOPHER HITCHENS