13.12.1996

Goya: die bekleidete und die nackte Maja

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Goya: die bekleidete und die nackte Maja

Von JOHN BERGER

ZUERST liegt sie in einem Phantasiekostüm auf dem Sofa: dem Kostüm, um dessentwillen sie eine Maja genannt wird. Dann ist sie – in der gleichen Stellung und auf dem gleichen Sofa – nackt.

Seit die Bilder – zu Anfang des Jahrhunderts – zum ersten Mal im Prado aufgehängt wurden, hat man immer wieder gefragt: Wer ist sie? Ist sie die Herzogin von Alba? Vir einigen Jahren wurde die Leiche der Herzogin exhumiert und ihr Skelett ausgemessen – in der Hoffnung, dies würde nun beweisen, daß sie nicht das Modell war! Aber wenn nicht sie – wer dann?

Man neigt dazu, die Frage als Teil des trivialen Hofklatsches abzutun, aber wenn man die beiden Gemälde betrachtet, enthalten sie tatsächlich ein faszinierendes Geheimnis. Nur – die Frage ist falsch gestellt. Sie lautet nicht: „Wer?“ Wir werden es nie wissen und wenn, wären wir nicht sehr viel klüger. Die Frage heißt: „Warum?“ Wenn wir imstande wären, die zu beantworten, könnten wir etwas mehr über Goya erfahren.

Meine eigene Erklärung ist, daß es für die nackte Maja kein Modell gab. Goya entwickelte das zweite Bild aus dem ersten. Die bekleidete Fassung vor Augen, entkleidete er sie in seiner Phantasie und hielt das Vorgestellte auf der Leinwand fest. Und hier der Beweis:

Da ist einmal die verblüffende Übereinstimmung in beiden Stellungen (bis auf das hintere Bein). Sie kann nur das Ergebnis einer Idee sein: „Jetzt will ich mir vorstellen, daß sie keine Kleider anhat.“ Hätte sie ihm tatsächlich bei verschiedenen Gelegenheiten Modell gesessen, wären die Abweichungen mit Sicherheit größer.

Wichtiger ist: die Zeichnung des Akts, die Art, wie die Formen ihres Körpers dargestellt sind. Man betrachte diese runden, hohen, nach außen gerichteten Brüste. Keine Brust einer liegenden Figur ist so geformt. Wir finden die Erklärung in der bekleideten Fassung. Hochgebunden und korsettiert nehmen sie genau diese Form an, und mit dieser Unterstützung behalten sie sie auch im Liegen. Goya hat die Seide entfernt, um die Haut zu enthüllen, doch hat er zu berücksichtigen vergessen, daß die Form sich dadurch verändert.

Das gleiche gilt für die Oberarme, vor allem den vorderen. Im Akt wirkt er auf groteske, ja unmögliche Weise dick –, so dick wie der Oberschenkel unmittelbar über dem Knie. Wieder erkennt man an der bekleideten Fassung, warum: Goya mußte die Kontur des nackten Arms unter den gefältelten Schultern und Ärmeln der Jacke erraten und hat sich dabei verschätzt, weil er die Form bloß vereinfachte, anstatt sie neu zu entwickeln.

Vergleicht man die nackte mit der bekleideten Version, so ist beim Akt das hintere Bein leicht zum Betrachter hin gedreht. Hätte Goya das nicht getan, wäre eine Lücke zwischen den Beinen entstanden, und die Bootsform des Körpers wäre zerstört gewesen. Dann hätte der Akt paradoxerweise der bekleideten Figur weniger geähnelt. Aber wenn das Bein wirklich in dieser Weise bewegt worden wäre, hätte das auch die Lage der Hüften verändert. Und der Eindruck, als schwebten Hüften, Bauch und Schenkel frei im Raum – so daß wir nicht ausmachen können, in welchem Winkel sie das Bett berühren –, beruht darauf, daß trotz der Verlagerung des hinteren Beins die Form der vorderen Hüfte und des vorderen Schenkels genau von der bekleideten Figur übernommen wurde, als sei die Seide ein Nebel, der sich plötzlich gehoben hat.

Tatsächlich ist die ganze vordere Kontur des Körpers, wie er Kissen und Laken berührt – von der Achselhöhle bis zur Zehenspitze –, beim Akt so wenig überzeugend, wie sie in der ersten Fassung überzeugt. Im ersten Bild geben Kissen und Sofa bisweilen der Form des Körpers nach, bisweilen setzen sie ihm Widerstand entgegen: Die Linie, wo sie sich treffen, ist wie eine Naht, bei der der Faden abwechselnd sichtbar wird und wieder verschwindet. Beim Akt hingegen wirkt diese Linie wie der Rand einer Ausschneidefigur und hat nichts von diesem „Geben-und-Nehmen“, das in der Wirklichkeit immer zwischen einer Figur und ihrer Umgebung stattfindet.

Das Gesicht des Akts springt aus dem Körper heraus, nicht weil es verändert oder später hinzugemalt wurde (wie einige Autoren gemeint haben), sondern weil es gesehen statt beschworen ist. Je länger man den nackten Körper anschaut, desto deutlicher wird man gewahr, wie außerordentlich vage und substanzlos er ist. Zunächst wird man durch sein Leuchten getäuscht und glaubt, daß dies das Glühen des Fleisches ist. Aber hat er nicht eher etwas vom Licht einer Erscheinung? Das Gesicht kann man berühren. Den Körper nicht. Goya war ein hochbegabter Zeichner und von großer Erfindungskraft. Er zeichnete menschliche Figuren und Tiere in so schneller Bewegung, daß er sie zweifellos ohne Modell gezeichnet haben muß. Wie Hokusai wußte er fast instinktiv, wie die Dinge aussahen. Die Kenntnis der Erscheinungen lag beim Zeichnen in der Bewegung seiner Finger und seines Handgelenks. Wie aber konnte dann das Fehlen eines Modells für diesen Akt sein Gemälde so wenig überzeugend und so künstlich ausfallen lassen?

Die Antwort liegt, glaube ich, in seinem Motiv, die beiden Bilder zu malen. Es ist denkbar, daß beide Gemälde als neue Art eines skandalösen trompe l'÷il in Auftrag gegeben wurden – bei dem die Kleider einer Frau im Nu verschwanden. Allerdings war Goya in dieser Phase seines Lebens nicht der Mann, der einfach irgendwelche Aufträge eines anderen angenommen hätte. Wenn es sich also bei diesen Bildern um einen Auftrag handelte, muß er seine eigenen subjektiven Gründe gehabt haben, ihn anzunehmen.

Was also war sein Motiv? Wollte er sich, wie es zunächst offensichtlich schien, zu einer Liebesaffäre bekennen und sie feiern? Das wäre glaubhafter, wenn der Akt wirklich nach einem Modell gemalt worden wäre. Wollte er mit einer Affäre prahlen, die in Wahrheit gar nicht stattgefunden hatte? Das widerspricht Goyas Charakter; seine Kunst ist frei von jeglichen Bravourstücken. Mein Vorschlag ist: Goya hat die erste Fassung des Bildes als zwangloses Porträt einer Freundin (oder auch Geliebten) gemalt, dann aber – während er sie malte, wie sie so dalag in ihrem Kostüm und ihn anblickte – verfolgte ihn plötzlich die Idee, sie hätte keine Kleider an.

Und warum verfolgte sie ihn? Männer ziehen Frauen immer mit den Augen aus – eine ganz beiläufige Form, so zu tun „als ob“. Könnte es sein, daß ihn der Gedanke verfolgte, weil er sich vor seiner eigenen Sexualität fürchtete?

Es gibt in Goyas Werk eine ständige Unterströmung, in der sich Sexualität und Gewalt verbinden. Daher stammen die Hexen und – zu einem Teil – auch sein Protest gegen die Schrecken des Krieges. Man nimmt allgemein an, daß er dagegen protestierte, weil er Zeuge dieser Hölle im spanischen Unabhängigkeitskrieg war. Das trifft zu. Mit vollem Bewußtsein identifizierte er sich mit den Opfern. Aber voller Verzweiflung und Grauen erkannte er auch sein mögliches alter ego unter den Folterern.

Die gleiche Unterströmung flammt als erbarmungsloser Stolz aus den Augen der Frauen, die ihn anziehen. In Dutzenden von Gesichtern – sein eigenes eingeschlossen – zuckt sie als spöttische Provokation um volle, schlaffe Münder. Sie ist gegenwärtig im geballten Abscheu, mit dem er nackte Männer malt, deren Nacktheit er immer mit Bestialität gleichsetzt, und ebenso in den Irren im Irrenhaus, den kannibalischen Indianern, den Hurerei treibenden Priestern. Sie ist gegenwärtig in den sogenannten schwarzen Gemälden, die Orgien der Gewalt darstellen. Aber am beharrlichsten zeigt sie sich in der Art, wie er menschliches Fleisch malte.

Es ist schwierig, das mit Worten zu beschreiben, und dennoch macht gerade dies jedes Goya-Porträt unverwechselbar. Das Fleisch hat bei ihm einen eigenen Ausdruck, so wie es in den Porträts anderer Maler die Gesichtszüge haben. Dieser Ausdruck verändert sich mit dem Porträtierten, aber immer ist er eine Variation des gleichen Verlangens: des Verlangens nach Fleisch als Nahrung für eine Begierde. Das ist keineswegs eine rhetorische Metapher. Es trifft fast wörtlich zu. Manchmal hat das Fleisch etwas Blühendes an sich, den Schmelz einer Frucht. Manchmal ist es gerötet und sieht hungrig aus – bereit zu verschlingen. Häufig – und das ist der Angelpunkt seiner intensiven psychologischen Einsicht – weist es auf beides zugleich hin: auf den, der verschlingt, und den, der verschlungen wird. Alle monströsen Ängste Goyas sind darin enthalten. Seine grauenhafteste Vision ist die Satans, der die Leiber der Menschen frißt.

Sogar in dem scheinbar alltäglichen Gemälde der Schlachtbank kann man die gleiche Todesangst erkennen. Ich kenne kein anderes Stilleben auf der ganzen Welt, das so eindringlich darstellt, daß ein Stück Geschlachtetes vor kurzem noch lebendiges, fühlendes Fleisch war, kein Bild, das die emotionale Bedeutung mit der wörtlichen Bedeutung des „Schlachtens“ derart verbindet. Das Schreckliche dieses Bildes, das ein Mann gemalt hat, der sein ganzes Leben lang Fleisch gegessen hat, liegt eben darin, daß es kein Stilleben ist.

Wenn ich recht habe, wenn Goya die nackte Maja malte, weil ihn die Vorstellung ihrer Nacktheit verfolgte – und das heißt, daß er sich ihr Fleisch in seiner ganzen Provokation vorstellte –, können wir vielleicht darangehen zu erklären, warum das Bild etwas so Künstliches hat. Er malte es, um einen bösen Geist auszutreiben. Wie die Fledermäuse, die Hunde und Hexen gehört sie zu den Monstern, die der „Schlaf der Vernunft“ gebiert; aber anders als diese ist sie schön, weil sie begehrenswert ist. Um sie aber wie einen Geist auszutreiben, um sie bei ihrem Namen zu nennen, mußte er sie soweit wie möglich ihrem Bild als Bekleidete annähern. Er malte keinen Akt. Er malte eine Nackte, die – wie ein Geist – in einer bekleideten Frau erscheint. Darum hält er sich so eng an die bekleidete Fassung, und darum ist seine sonst so große Erfindungskraft hier so ungewöhnlich gehemmt.

Ich will nicht unterstellen, es sei Goyas Absicht gewesen, daß wir die beiden Bilder so interpretieren. Er erwartete, daß man sie als das nahm, was man sah: die bekleidete und die unbekleidete Frau. Worauf ich hinaus will, ist, daß die zweite, die nackte Fassung vermutlich eine Erfindung war und daß sein Gefühl und seine Einbildungskraft ihn zwangen, sie zu erfinden, weil er versuchte, seine eigenen Begierden auszutreiben.

Warum wirken diese beiden Gemälde so überraschend modern? Wir hielten den Maler und sein Modell für ein Liebespaar, als wir davon ausgingen, daß diese Frau bereit war, für beide Bilder Modell zu sitzen. Doch wie wir jetzt sehen, beruht die starke Wirkung dieser Bilder gerade darauf, daß sich vom einen zum andern so wenig entwickelt. Der einzige Unterschied ist, daß sie unbekleidet ist. Das müßte eigentlich alles verändern, tatsächlich aber verändert es nur die Art, wie wir sie betrachten. Sie selbst hat genau den gleichen Ausdruck, die gleiche Haltung, die gleiche Distanz. Alle großen Akte der Vergangenheit enthalten eine Aufforderung, das Goldene Zeitalter mit ihnen zu teilen. Sie sind nackt, um uns zu verführen und zu verwandeln. Die Maja ist nackt, aber gleichgültig. Es ist, als sei ihr nicht bewußt, daß sie gesehen wird, als betrachteten wir sie heimlich durch ein Schlüsselloch, oder genauer, als wisse sie nicht, daß ihre Kleidung inzwischen „unsichtbar“ geworden ist.

Darin – wie in vielem anderen – war Goya prophetisch. Er war der erste Maler, der einen Akt wie etwas Fremdes malte, der die Sexualität von der Intimität trennte, der an die Stelle sexueller Energie eine Ästhetik der Sexualität setzte. Es gehört zum Wesen dieser Energie, Schranken zu durchbrechen. Und es gehört zur Funktion der Ästhetik, sie zu errichten. Goya mag, wie ich angedeutet habe, seine eigenen Gründe gehabt haben, diese sexuelle Kraft zu fürchten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält die Ästhetik der Sexualität eine Konsumgesellschaft munter, konkurrenzfähig und unbefriedigt.

(1969)

aus: John Berger, „Das Sichtbare und das Verborgene“. Aus dem Englischen von Kyra Stromberg. © 1990 Carl Hanser Verlag München Wien.

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von JOHN BERGER