13.12.1996

Illusion oder Wirklichkeit, das ist hier die Frage

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Illusion oder Wirklichkeit, das ist hier die Frage

NACH dem „Ende der Illusion“ von François Furet (Piper Verlag 1996) hat Karel Bartoseks Buch „Les Aveux des archives“ in Frankreich jüngst eine vehemente Debatte über Rolle und Methoden einer Historiographie des Kommunismus ausgelöst. In beiden Büchern wird eine große Hoffnung der Menschheit, der Sozialismus, auf eine düstere Verschwörung von Spionen und Polizeiagenten, auf Verrat und ideologische Verblendung reduziert. Die Debatte hat neben der politischen auch eine ethische Relevanz. Die Autoren,die sich die Neuschreibung der Geschichte zur Aufgabe gemacht haben, gehen offensichtlich – ähnlich wie jene, über die sie schreiben – von der Ansicht aus, daß der Zweck die Mittel heilige.

 ■ Von MOSHE LEWIN *

In seinem jüngsten Buch hat sich François Furet das ehrgeizige Ziel gesetzt, das Problem der „kommunistischen Illusion“ zu ergründen, Ursache und Wirkung dieser Illusion nachzugehen. Doch der Historiker hat zu diesem Zweck nicht etwa eine Geschichte der Sowjetunion oder einen Essay über ihre Ideologie und ihren Gründungsvater verfaßt. Gleichwohl handelt das etliche hundert Seiten starke Buch von internationaler Geschichte, und im Zentrum steht die Sowjetunion.

Die Passagen über Lenin verzichten auf jegliche belegten biographischen Daten und auf jegliche Analyse der Weltlage beziehungsweise der Lage in Rußland in der damaligen Epoche; unschwer erkennt man bei der Lektüre, daß der Autor ein glühender Verfechter der These ist, daß Geschichte allein von großen Menschen gemacht wird. Laut Furet braucht man sich nur vorzustellen, was ohne Lenin im Oktober 1917 geschehen wäre, und schon wird einem klar: Der Oktober 1917 war ein Unfall – und Lenin war Schuld. Als Anstifter einer Revolution, die alle anderen entscheidenden Ereignisse dieses Jahrhunderts losgetreten hat, wird Lenin auf diese Weise indirekt als der Mensch dargestellt, der andere Diktaturen „gespeist“ hat: sogar Mussolini soll er inspiriert haben, der unter Lenins Einfluß stand, als er noch zum radikalen Flügel der italienischen Sozialisten gehörte. In einem Wort: Der Wunsch, die Welt zu verändern, den Millionen Menschen teilen, ist auf einen einzigen Menschen zurückzuführen, der zudem noch offensichtlich ein Abenteurer war.

Man kann die Machtübernahme durch die Sowjets nur verstehen, wenn man Lenin und seinen Ideen eine Geschichte und eine Entwicklung zugesteht. Dann kann man sich fragen, wie ein Revolutionär, der wie so viele russische Intellektuelle von der sozialistischen Bewegung in Europa geprägt war, eine Revolution in einem so rückständigen Land ins Auge fassen konnte. Vergessen wir, daß Furet seinem Lenin einerseits unterstellt, daß er „die Macht an sich reißen wollte“ und dabei jede Chance wahrnahm, und andererseits gleich darauf schreibt, daß ihm die Macht „in die Hände fällt“. In Lenins theoretischen Schriften reißt ein Revolutionär aber nichts an sich, er entscheidet vielmehr, wann eine Situation für die Revolution günstig ist. Alles andere wäre für Lenin purer Blanquismus und damit zum Scheitern verurteilt gewesen.

Basierend auf einer (von vielen Marxisten geteilten) Analyse der russischen Gesellschaft entwickelte Lenin in seiner Schrift „Was tun?“ folgende Theorie: Zunächst bedürfe es innerhalb des rückständigen Landes einer kapitalistischen Entwicklung, und zu diesem Zwecke müßten Liberale und Demokraten den Zaren stürzen und eine bürgerliche Demokratie errichten. Eine Machtübernahme der Bolschewiki stünde nicht auf der Tagesordnung. Nachdem er diese Schrift in der sibirischen Verbannung verfaßt hatte, sah Lenin hinter jeder russischen Birke den Kapitalismus emporsprießen. Aber unter dem Einfluß der Revolution von 1905 änderte er seine Meinung: Der Kapitalismus war noch zu schwach entwickelt, die liberalen Kräfte noch zu zaghaft und unreif. Von nun an beschäftigte er sich in seinen Analysen immer ernsthafter mit der Bauernfrage. Das ließ ihn auch seine Strategie überdenken: Zwar hoffte er immer noch, daß Rußland eine bürgerlich-demokratische Phase durchlaufen würde, doch betrachtete er von nun an die Bauern, deren revolutionäres Potential er zuvor unterschätzt hatte, als wichtigsten Bündnispartner. Ihm schwebte eine Regierungskoalition der Bolschewiki mit der Masse der Landbevölkerung vor, vertreten durch die Partei der Sozialrevolutionäre (SR).

Dann, im April 1917, erblickte eine dritte Version des „Leninismus“ das Licht der Welt: Angesichts der Ungeduld der Bauern und der Vertiefung der Krise zeigte sich, daß die demokratischen Kräfte der Situation nicht gewachsen waren. Doch Lenin war bereit zu warten und mit anderen Kräften, die sich boten, zusammenzuarbeiten. Die Bolschewiki würden nur dann alleine die Macht ergreifen, erklärte er öffentlich, wenn jede andere Lösung scheitern würde.

Eines steht fest: Lenin hat nicht eine einzige Revolution „gemacht“, er hat sich damit begnügt, sie vorauszusagen. Beide Revolutionen, 1905 und 1917, sind von selbst ausgebrochen. Und er hat auch nie eine Regierung gestürzt. Diese zerfielen vielmehr in immer rascherer Folge und wechselten im Zweimonatsrhythmus. Im September 1917 hatten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre (SR), die sich um Partner für eine demokratische Regierung bemüht hatten, die Kontrolle über die Situation verloren. Die Partei der Bolschewiki versuchte, ein gemeinsames Programm mit ihnen zu entwickeln – unter der Bedingung, daß sie ihre Bemühungen um die Gunst der Liberalen einstellten. Das darauf erfolgende Nein war die Totenglocke sowohl für jenen Flügel der bolschewistischen Partei, der für eine Koalitionsregierung eintrat, als auch für die beiden Parteien, die das Bündnisangebot zurückgewiesen hatten. Die Machtübernahme durch die Bolschewiki erschien nun als einzig realistischer Ausweg. Damit war eine „revolutionäre Situation“ entstanden. Es mußte gehandelt werden, das Land befand sich in Auflösung.

Noch ein historisches Mißverständnis muß angesprochen werden – vorausgesetzt, man läßt es als Mißverständnis gelten, daß Furet die Organisation der Bolschewiki systematisch als „Sekte“ bezeichnet. Denn die Bolschewiki waren bereits eine gut organisierte und einflußreiche Partei, die bei den Wahlen zu den Räten und Gemeinden einen Sieg nach dem anderen erringen konnte. Einer Sekte wäre das nicht gelungen, und sie hätte auch niemals die Aufgabe vollbracht, die auf die Bolschewiki zukam. Die Machtübernahme durch die Partei – keineswegs eine geheime Verschwörung, da alle Welt mit ihr rechnete – war kein Putsch. Es gab keine Regierung mehr, die diesen Namen verdient hätte, Rußland war ein Land ohne Staat. Die einzige nationale Institution, die noch funktionierte, war der Arbeiter- und Soldatenrat, dem die Menschewiki und die SR weiterhin vorstanden, über den sie jedoch im September 1917 die Kontrolle einbüßten. Die Macht, die die Bolschewiki ergriffen, wurde ihnen also sozusagen vom Rätekongreß übertragen, denn dort waren sie in der Mehrheit, unterstützt vom linken Flügel der SR.

Inmitten dieses Chaos waren allein die marxistischen Revolutionäre in der Lage, den einzig möglichen Weg einzuschlagen. Unabhängig von jeder Ideologie war es die oberste Aufgabe, einen Staat zu bilden, der stark genug war, um die Einheit des in Auflösung befindlichen Landes zu retten. Den gleichen Wunsch hatten auch die Demokraten, doch um die Lage in den Griff zu bekommen, bedurfte es einer motivierten und organisierten Kraft. Wer im Kontext von 1917 einen besessenen persönlichen Wunsch nach Machtergreifung unterstellt, wird der historischen Realität nicht gerecht, denn zu diesem Zeitpunkt stellte sich die Machtübernahme als zwingende historische Aufgabe. Die Darstellung von Lenin als Demiurg und alleinigem Urheber der Geschichte läßt sich daher mühelos widerlegen: Die Funktionsweise der bolschewistischen Partei, die man quellenmäßig insbesondere für die Jahre 1917/1918 gut dokumentieren kann, steht im Widerspruch zu dem monolithischen Bild, das François Furet uns bietet.

Zum damaligen Zeitpunkt ist die bolschewistische „Sekte“ bereits eine echte politische Partei. Lenins Wort zählt, aber er muß durchaus für seine Vorschläge kämpfen. Furet erwähnt dies nur ganz vage, wohl aus Angst, damit seine eigene Darstellung zu unterminieren. Andere einflußreiche Führer der Partei widersetzten sich Lenin. Die „Aprilthesen“ (1917) wurden unter anderem von Lew Kamenew, einem seiner engsten Genossen, als abenteuerlich angegriffen. Der Entscheidung zur Machtübernahme ging ein schwerer Konflikt zwischen den beiden gegensätzlichen Strategien voraus. Lenin hätte fast den Kampf um den Frieden von Brest Litowsk verloren (März 1918), was François Furet ebenfalls nur am Rande vermerkt. Auch wenn man die Fakten für unerheblich hält, ist die Vorstellung, Lenin habe in seiner Partei wie ein Diktator geherrscht, vollkommen verfehlt. Zudem stellt sich die Frage, was das für ein Diktator sein soll, der sich den Abstimmungen politischer Instanzen unterwirft. Noch deutlicher wird dies ab März 1921 in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP).

Wer aber ist die Partei?

DIE Vorstellung von Lenin als Vater des Stalinismus – beziehungsweise von einem „stalinistischen Bolschewismus“, dessen blutige Spur von Verbrechen und Terror das Wesen der ganzen Sowjetperiode von Lenin bis Breschnew ausgemacht habe, stellt eine völlige Mißachtung der Komplexität des wirklichen Rußland dar. Damit wird ein demokratisches Potential unterstellt, das die Bolschewiki angeblich zerstört haben, obwohl diese Annahme bekanntermaßen illusorisch war. Daß sich zwei diktatorische Kräfte in der Arena gegenüberstanden, lag nicht am Bolschewismus, auch nicht am Bürgerkrieg. Es handelt sich vielmehr um die ureigene Entscheidung des Landes, um sein eigenes Drama, das nicht auf den bösen Willen einer Einzelperson zurückgeht. Wer das nicht sieht, unterschätzt die Bedeutung der Alternativen, die innerhalb eines diktatorischen Modells existieren können. Indem Furet in seiner Argumentation das bolschewistische Rußland als essentiell starr und terroristisch darstellt, nimmt er der russischen Geschichte alles Fleisch und Blut: Diese ganze Geschichte fließt in Lenin zusammen, dem machthungrigen Monster und Urheber eines Stalinismus, der angeblich bereits an der Macht war, schon vor Stalin und ebenso nach ihm. In diesem Bild ist keinerlei Bewegung oder Transformation auszumachen. Und es gibt weder Gesellschaft noch Kultur und paradoxerweise eigentlich auch keine Ideologie.

Kommen wir auf den wahren Lenin zurück, der nach dem Ende des Bürgerkriegs vor einem verwüsteten Land steht. Für ihn ist nun die Stunde des Friedens und der Demobilisierung gekommen. Die Neue Ökonomische Politik (NEP) wird eingeführt, und man arbeitet fieberhaft am Entwurf einer neuen Strategie, denn der Frieden eröffnet völlig neue Perspektiven. Die Vorstellung vom Sozialismus müsse „revidiert werden“, erklärt Lenin 1922 bei seinem letzten öffentlichen Auftritt anläßlich des XI. Parteikongresses und betont, daß die Diskussionsfreiheit für die Partei eine absolute Notwendigkeit sei. Die Schärfe seiner Kritik schockiert nicht eben wenige seiner Mitstreiter. Von diesen Reaktionen unbeeindruckt beschäftigt er sich, solange seine Gesundheit es zuläßt, mit dem Entwurf des neuen politischen Kurses.

Die NEP legt den Schwerpunkt auf die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit der Bauernschaft (dem Kern der Nation); sie will den politischen Zwangsmaßnahmen, denen die Bauern unterworfen waren, ein Ende setzen, ihnen nicht weiter einen wie auch immer gearteten „Kommunismus“ aufzwingen, ihnen die Möglichkeit einräumen, ihre Interessen selber zu definieren. Lenin und Trotzki streben eine gemischte Wirtschaft an, wobei sie über einen langen Zeitraum an die Marktkräfte appellieren. Etliche Kader kehren aus dem Bürgerkrieg mit neuen Vorstellungen über die zu realisierenden Ziele und die politischen Mittel zurück.

Die Mehrheit der Parteimitglieder, die nach 1917 beigetreten waren, übernahmen jetzt Posten auf allen Ebenen der Verwaltung. Manche folgten der offiziellen Parteilinie – Schluß mit den Methoden des Kriegskommunismus! –, andere forderten die Beibehaltung eines starken Staates, da ihnen Zwangsmaßnahmen in Rußland als einziges probates Mittel erschienen. Insbesondere die Bauern- und die Nationalitätenfrage erhitzten die Gemüter, von der Basis bis zur Parteispitze.

Die Konfrontation von Lenin und Stalin bezüglich der Nationalitätenfrage erhellt am besten die Unvereinbarkeit der gesellschaftlichen Visionen. Auf der einen Seite die zentralisierte, uniforme Struktur, die einer eisernen Disziplin unterliegen soll, auf der anderen Seite ein stärker dezentralisiertes Gebilde, das den einzelnen Nationalitäten eine nicht unerhebliche Souveränität bot, doch innerhalb eines Rahmens, der jeder Art von Nationalismus und nationaler Unterdrückung eine Absage erteilte. Stalins Konzept eines übermächtigen Staates ging von genau entgegengesetzten Prioritäten aus, die sich aber noch durch den ideologischen Diskurs tarnen ließen: Stalin hielt sich erst gar nicht mit dem Entwurf einer neuen Strategie auf, er konzentrierte sich ganz auf Fragen der Taktik. Die Konfrontation mit Lenin brachte bei ihm sehr bald nach 1922, womöglich sogar schon früher, einen regelrechten Haß auf Lenin hervor.

An diesem Punkt bedarf es einer Klarstellung: Wenn man Lenin und die Anfänge des Sowjetsystems in ihren Kontext einordnet – wie es oben versucht wurde –, braucht man keineswegs darauf zu verzichten, zwischen guter und schlechter Politik, zwischen Irrtum und Notwendigkeit zu unterscheiden. Man wird zum Beispiel die Auflösung der verfassunggebenden Versammlung, den manipulierten Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre ebenso untersuchen müssen wie das Verbot der Fraktionsbildung innerhalb der bolschewistischen Partei und die Niederschlagung des Aufstands von Kronstadt.

Und der Terror? Im Bürgerkrieg gab es den Terror seitens der „Roten“, aber natürlich war auch das andere Lager in dieser Hinsicht keineswegs zimperlich. In dieser und vielen anderen Fragen gilt es, die Argumente der einen wie der anderen Seite zu untersuchen, wenn man zu einem ausgewogenen Urteil kommen will. Dabei wären auch die Meinungen von Lenins Zeitgenossen, von Freunden wie von Gegnern, zu berücksichtigen. Um die einzelnen Protagonisten zu verstehen, muß man sich vor allem noch einmal in die Wirren hineinversetzen, in denen sich diese damals selber befanden.

Die NEP trug nach einiger Zeit die ersten Früchte. Diese Phase mag historisch betrachtet nur als kurze Episode erscheinen, aber sie hat ihre Zeitgenossen weit über die Jahre des blutigen Chaos hinaus geprägt und das Land wieder auf die Beine gebracht. In Anbetracht der Verwüstung im Jahre 1921 lieferte der Wiederaufbau den Beweis für den Erfolg der Regierung: Bald konnte die Gesellschaft wieder den Hunger stillen, das Wirtschaftspotential der zaristischen Zeit wurde wieder hergestellt. Die Bauernschaft war befriedet, der Terror eingedämmt, es wurden wieder Gesetze beschlossen. Die Zahl der politischen Gefangenen nahm ab, die Repressionen durch die politische Polizei ließen sich mit den brutalen Ausschreitungen der vorangegangenen und der nachfolgenden Jahre nicht vergleichen.

In dieser Periode diente die politische Polizei nicht als Instrument blinder Repression. Es entwickelte sich eine beachtliche Vielfalt auf dem Gebiet der Presse, des kulturellen Lebens, der politischen Debatten. Gewiß, das Bild war nicht ungetrübt, doch es läßt sich nicht leugnen, daß die NEP ein wichtiges und durchaus eigenständiges Kapitel der Sowjetgeschichte darstellt.

Sieben oder acht Jahre später, auf dem Höhepunkt des Stalinismus, bietet sich folgendes Bild: Das Land wird von einem Despoten regiert, der sich in allen Dingen stets das letzte Wort vorbehält. Die Partei als politische Organisation ist zu einem unterwürfigen Verwaltungsapparat geworden, dessen Angehörige ebenso wie alle anderen Bürger einem unbeschreiblichen Terror ausgesetzt sind. Die Eliten, einschließlich der Mitglieder des Politbüros, werden terrorisiert, keiner weiß, wie lange ihm noch zu leben gestattet ist. Was die Bevölkerung als ganze betrifft, so haben wir inzwischen hinreichend Kenntnisse über die Geschichte der Kollektivierung, also über die Deportationen der Bauern, die ständig wachsende Zahl der Gefangenen und über das Grauen, dem sie in den Lagern des Gulag ausgesetzt sind.

Zur Zeit der NEP gab es nichts von alledem. Unter Lenin war eine kollegiale Führung des Landes gesichert, Entscheidungen wurden nach harten politischen Kämpfen getroffen und mußten manchmal dem Zentralkomitee sowie den Kongressen und Parteikonferenzen buchstäblich abgerungen werden. Stalin hingegen wartete geduldig, bis seine Stunde kam. Es gab für ihn nur eine Lösung, um die totale Kontrolle der eigenen Partei durchzusetzen: Er mußte sie zerstören.

Wie kann man angesichts all dessen den Begriff des Bolschewismus – einer ganz offensichtlich politischen Organisation – zu einem Synonym für diesen Stalinismus machen, der sich angeblich seit 1917 nicht verändert hat und deshalb schlicht als „zweiter Bolschewismus“ bezeichnet wird? Die dargestellten Unterschiede zwischen diesen beiden historischen Phasen verbieten es, sie derart zu einem begrifflichen Amalgam zu verschmelzen.

Wir dürfen uns damit allerdings nicht den Blick dafür verstellen lassen, daß die Bolschewiki eine politische Partei waren, die bereits im Absterben begriffen war. Der Kampf zwischen den einzelnen politischen Richtungen wurde schrittweise zugunsten der Befürworter eines schrankenlosen Etatismus entschieden. Sie setzten ihr politisches Modell auch für die Zeiten des Friedens durch – und für diese allzu kriegerische Wahl zahlten viele Menschen einen sehr hohen Preis.

Insgesamt sind es eine Menge Zwangslagen und Dilemmata, die François Furet mit seinem „monochromen“, antileninistischen Blick entgehen, auch wenn er durchaus erkennen läßt, daß Stalin den alten Bolschewismus zerstört hat, um einen neuen zu errichten.

Dieselbe kritische Sichtweise läßt sich auch an Furets Behandlung der Epoche nach Stalins Tod im Jahre 1953 erproben. Jetzt sind die obersten politischen Führer nicht mehr Opfer eines blinden und massiven Terrorismus. Auch die Mehrzahl der Bürger lebt nicht mehr in der Angst, eines Tages zu verschwinden. Der Polizeiapparat ist nicht mehr ermächtigt, Menschen nach festgelegten Quoten zu verhaften. Der Gulag behält zwar für die breite Öffentlichkeit noch immer seinen alten Namen, aber es handelt sich jetzt um ein anderes Strafsystem: Millionen Häftlinge sind entlassen worden, man muß sich jetzt etwas zuschulden kommen lassen, um verhaftet zu werden. Wer den Mut hat, dem Verbot der politischen Aktivität zu trotzen, kennt nunmehr die Regeln, nach denen er behandelt wird. Demgegenüber beruhte das Wesen des Stalinismus auf Willkürherrschaft.

Die Veränderungen, die im Bereich der sozialen Gesetzgebung vorgenommen wurden, sind zu zahlreich, um hier aufgezählt zu werden. Die Bewegungsfreiheit im Inland und die Möglichkeit zum Arbeitsplatzwechsel werden jetzt garantiert, Abtreibungen sind legal, Renten und andere Zuwendungen werden erheblich verbessert und ganz allgemein ist der Lebensstandard gestiegen. Kann man unter solchen Bedingungen nach wie vor, wie es François Furet tut, von „stalinistischem Kommunismus“ sprechen oder dem armen Breschnew das Etikett „Bolschewist“ ankleben, oder, was noch lächerlicher und durch nichts gerechtfertigt ist, im Hinblick auf seine Person von „Messianismus“ sprechen?

Was jedoch vollends verblüfft, ist Furets totales Desinteresse an der Geschichte dessen, was auch nur im entfernten an Gesellschaft erinnern könnte. In diesem Bereich hätte zweifellos festgestellt werden müssen, daß es auch offene Unterstützung für den Kommunismus gab. Die Erkenntnis, daß die Gesellschaft trotz aller Zwänge, denen sie ausgesetzt ist, durchaus existiert und Gewicht hat, daß die Zwänge Stück für Stück verschwinden und daß der Staat selbst dem Druck der gesellschaftlichen Reaktionen nachgeben muß, all das führt zu der Einsicht, daß in diesem System in Wahrheit eine Vielzahl von Realitäten und Ideologien existierten. Begriffe wie „Kommunismus“ und „Totalitarismus“ hingegen versperren den Weg zu seinem Verständnis. Unbestreitbar ist im Zusammenhang mit dem Stalinismus die Tatsache, daß ungeheure Grausamkeiten begangen wurden, deren verwirrende pathologische Aspekte im übrigen noch zu klären sind. Die Historiker haben noch viele Jahre Arbeit vor sich, bis sie alle Aspekte erforscht und verstanden haben.

Wir stehen hier vor einem erstaunlichen Sachverhalt: Diejenigen, die um faktische Informationen über die unschuldigen Opfer bemüht sind, gelten neuerdings als Nostalgiker, die von dem Wunsch angetrieben werden, etwas von der kommunistischen Vergangenheit zu retten. Wie Furet behauptet, handelt es sich dabei um „Revisionisten“, die zwar die begangenen Grausamkeiten anerkennen, doch „mit dem Argument, die Grausamkeiten seien keine notwendige Folge des Systems, davor zurückschrecken, die Geschichte als Ganze zu verurteilen“. Das also ist das eigentliche Ziel des Autors: die Geschichte als Ganze zu verurteilen!

Ein Holzweg... Der Versuch, Rußland von der offiziellen kommunistischen Ideologie oder deren Pendant, dem Antikommunismus, her zu verstehen, ist zum Scheitern verurteilt. Bereits der Zusammenbruch des Sowjetregimes entsprach nicht den Voraussagen der „Totalitarismusexperten“. Der Führungsstab ist auf keine besonders totalitäre Weise abgetreten, nämlich ohne einen noch intakten Unterdrückungsapparat in Gang zu setzen. Und eigentlich versteht es sich von selbst, daß ein System, das als Macht- und Privilegienpyramide strukturiert ist und der allgemeinen Bevölkerung keinerlei Zugang zu dem tatsächlichen Wirtschafts- und Staatsbetrieb gewährt, einer besonderen Klassifizierung bedarf. Die UdSSR hat für sich marktschreierisch das Etikett des Kommunismus beansprucht, doch tatsächlich hat sie ein System eines ganz eigenständigen Typs errichtet.

Rußlands historische Rolle

DER Grund für Rußlands enorme Bedeutung im 20. Jahrhundert läßt sich nur teilweise auf ideologische Faktoren zurückführen. In Wirklichkeit handelt es sich um ein komplexes Spiel wechselseitiger Spiegelungen zwischen den verzerrten Bildern der Mythen, die auf der Oberfläche erschienen sind, und den Wirklichkeiten nicht nur eines, sondern mehrerer Lager. Es waren also zahlreiche Faktoren und Kräfte, die als herausragende Akteure in das internationale Spiel eingespannt wurden. François Furets Methode, die gesamte Weltgeschichte rings um den Kommunismus zu arrangieren, hat einen ausgesprochen entstellenden Effekt. Der starke Einfluß der offiziellen sowjetischen Ideologie, den der Autor auf eine allgemeine Verblendung durch „universalistische“ Ideen zurückführt, läßt sich vor allem durch die Krise erklären, die eine von den Zeichen der Auflösung geprägte Welt erfaßt hatte – und zwar ganz unabhängig von den Absurditäten, die die Linke oder die offizielle UdSSR dazu gesagt oder getan haben mögen. Ohne die Serie von Katastrophen, die das 20. Jahrhundert erschütterten, hätte die Ideologie der UdSSR diesen Einfluß nicht gehabt.

Der Umstand, daß unzählige Menschen in die Irre geführt wurden oder sich selbst getäuscht haben, läßt nicht einfach auf Verblendung schließen. Zu der Zeit, als sich in Rußland die große Umwälzung vollzog, steckte der Westen in einer tiefgreifenden Krise. Außerdem ist die verdienstvolle Rolle, die Rußland im Zweiten Weltkrieg gespielt hat, keine trügerische Illusion: Damals vollzog sich für das gesamte Europa eine Befreiung, ganz gleich was Stalin dann daraus gemacht haben mag. Wie immer Furet es drehen und wenden mag: Mit einem zerstörten Rußland hätte es keine Befreiung gegeben. Das alte Rußland, hätte es damals noch existiert, wäre, so denke ich, zu einer solchen Anstrengung nicht imstande gewesen. Sobald diese Dynamik erschöpft war, setzte der Abstieg der UdSSR ein und führte – ausgelöst durch die Wirkung systemimmanenter Faktoren – zu ihrem endgültigen Zusammenbruch. Damit wurde auch der Anspruch, ein globales Gegenmodell darzustellen, vollends lächerlich.

Kein Zweifel: Die Frage nach dem Scheitern des Sozialismus (oder Kommunismus) in Rußland, die so viele Menschen beschäftigt, hat etwas von einer Falle. Um die Geschichte zu begreifen, muß man die offenkundige Tatsache zugeben: „Sozialismus“ und erst recht „Kommunismus“ sind keine adäquaten Begriffe. Folglich muß man die Frage anders formulieren: Was ist es eigentlich, was in Rußland gescheitert ist? Genügend Stoff zum Nachdenken.

dt. Esther Kinski

* Historiker, veröffentlichte u. a. „Gorbatschows neue Politik: Die reformierte Realität und die Wirklichkeit der Reformen“, Frankfurt a. M. (Fischer Tb.) 1988.

Le Monde diplomatique vom 13.12.1996, von MOSHE LEWIN