17.01.1997

Zum Tod von Jacques Decornoy

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Zum Tod von Jacques Decornoy

Von CLAUDE JULIEN

NACHDEM er schon seit einiger Zeit von schlimmen Vorankündigungen heimgesucht worden war, konnte unser Freund – mein Freund – Jacques Decornoy vom Tod nicht mehr überrascht werden. Er, den jede Ungerechtigkeit in Rage brachte, hat ihm kaltblütig entgegengeblickt und ihn mit Gelassenheit empfangen. Er starb am Montag dem 16. Dezember im Alter von neunundfünfzig Jahren.

Die Stationen einer beruflichen Laufbahn vermitteln nur ein unzureichendes Bild von der Vielschichtigkeit eines menschlichen Lebens. Das seine war durchdrungen von Willensstärke, Engagement, Entschlossenheit im Dienste nicht etwa persönlichen Ehrgeizes, versteht sich, sondern einer von Jugend an gereiften Lebensentscheidung: für jene dazusein, sich einzusetzen und zu kämpfen, die von einer gegen Schwache, Arme und Alleingelassene unbarmherzigen Gesellschaft mit Füßen getreten werden.

Seiner Herkunft nach gehörte Jacques gewiß nicht zum Stamm der „Erben“, der ihm reichlich Gelegenheit zu beißendem Spott und Kritik bot. Nach Abschluß seines Studiums an der Nationalen Verwaltungshochschule ENA schlug er wie selbstverständlich die sich anbietende Karriere im höheren Staatsdienst aus. Um seinen Überzeugungen treu bleiben zu können, entschied er sich für den Journalismus und kam als Siebenundzwanzigjähriger zu uns in die Auslandsredaktion von Le Monde. Das war der Beginn einer langen, manchmal stürmischen Freundschaft. Einer Freundschaft auf solidem Fundament, denn von vornherein stand für uns beide fest, daß wir für die Mächtigen nicht zu gebrauchen waren und die Aufmerksamkeit auf das Schicksal derer lenken wollten, denen die herrschende Dreifaltigkeit aus Geld, Waffen und Spitzentechnologie keine Chance läßt – immerhin drei Viertel der Weltbevölkerung.

Unser erstes gemeinsames Engagement war Vietnam, wo die militärische Eskalation ein selten barbarisches Ausmaß erreicht hat. Jacques reiste als Sonderberichterstatter quer durch das im Krieg lebende Land und schilderte furchtbare Ereignisse, die den Eindruck erweckten, als sei hier eigens ein Versuchslabor ersonnen worden, um gleichermaßen ausgeklügelte wie grausame Waffen zu erproben. Er berichtete über die Zustände in Dorfkrankenhäusern, ließ prominente und anonyme Kämpfer zu Wort kommen und ahnte die Folgen dieser langen Konfrontation voraus. Seine Artikel schockierten, und das um so mehr, als Jacques nie etwas verheimlichte. „Der Skandal“, schrieb Bernanos, „besteht nicht darin, die Wahrheit zu sagen, sondern durch Auslassung in sie eine Lüge einzuflechten, die sie äußerlich unverändert läßt, ihr aber wie ein Krebsgeschwür Herz und Eingeweide zerfrißt.“ Diese Art Krebs war es sicher nicht, woran Jacques nun gestorben ist.

Noch einmal Bernanos: Unter den Texten, die Jacques ausgewählt hatte, damit sie auf seiner Beerdigung gelesen würden, fand sich jener Satz, in dem der Pamphletist der „Erniedrigten Kinder“ sich für „zutiefst solidarisch mit den armen Leuten“ erklärt. Dies ist vielleicht der einzige Fall, in dem Jacques keine Wahl zu treffen brauchte: es entsprach seiner Natur, sich spontan auf die Seite der „armen Leute“ zu stellen, in Asien, dessen Vielfalt er für die Zeitung erschloß, genauso wie in Frankreich, das unter der Arroganz, der Habsucht und häufig auch der Unfähigkeit seiner Würdenträger leiden muß.

Jacques wußte nur zu gut, daß die kühle „Objektivität“ des Journalisten ein Trugbild ist. Die Rolle des nüchternen Betrachters war ihm zuwider. Genauso aber mißtraute er der Empörung, die sich nicht auf sorgfältig recherchierte Fakten stützt, auf überprüfte Aussagen oder Unterlagen, die manch einer nur flüchtig durchblättert, weil sie ihm zu trocken erscheinen. Deshalb war ich glücklich, ihn dreiundzwanzig Jahre nach dem Beginn seiner Arbeit bei Le Monde als Mitarbeiter von Le Monde diplomatique zu gewinnen.

Lediglich den beruflichen Werdegang ins Gedächtnis zu rufen, birgt die Gefahr, das Wesentliche im dunkeln zu lassen. Jacques scheute keine Mühe, sich für eine Sache einzusetzen. Er war ein Arbeitstier und ließ sich durch nichts von seinem unstillbaren Erkenntnisdrang abbringen; er suchte Erkenntnis, um zu verstehen, und wollte verstehen, um etwas zu bewegen. Sein Verstand schien immer auf der Lauer zu liegen, in stiller Bereitschaft, seinen Kenntnisstand zu erweitern, wenn er staubtrockene Unterlagen zu durchforsten hatte oder bei seinem Lieblingsbouquinisten stöberte. Bei Musik und bei der Lektüre von Gedichten blühte er auf. Die Kultur war für ihn nicht bloß Zierde des Geistes, sondern ein unverzichtbarer Schlüssel für die Deutung oft unverständlicher Zeichen, für die Begegnung mit fremden, durch andere Kulturen geprägte Menschen.

Bei all dieser unermüdlichen Arbeit trug er stets eine subtile Mischung aus Fröhlichkeit und Wut zur Schau. Auch wenn er manchmal innerlich kochte im Kampf gegen Dummheit und Unmenschlichkeit, wir wußten, daß er bei allem Groll eine leise Hoffnung nährte. Und ich wußte, daß dieser Groll weichen würde, wenn der entscheidende Moment herankam: Er starb in bewußter Gelassenheit.

Seine Frau Denise, seine beiden Töchter Myriam und Noémi, die er in Vietnam nach Kriegsende adoptiert hatte, kennen unser Gefühle für ihn und unsere Trauer, aber auch unsere Freude, einen solchen Freund gehabt zu haben. Es bleibt die Verbundenheit gegenüber einem grenzenlosen Engagement, das mit gleicher Leidenschaft von anderen fortgeführt und lebendig erhalten wird.

dt. Christian Hansen

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von CLAUDE JULIEN