14.02.1997

Liberal, aber das mit eiserner Faust

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Liberal, aber das mit eiserner Faust

Von BERTRAND CHUNG *

IST die Demokratisierung in Süd- Korea gestoppt? Präsident Kim Young Sam hat die Studentendemonstrationen vom August und die Arbeiterproteste Ende Dezember 1996 mit autoritären Maßnahmen beantwortet. Viele Bürger befürchten die Rückkehr der bösen Geister der Vergangenheit. Das beunruhigt um so mehr, als Präsident Kim Young Sam an der Spitze der Demokratiebewegung gegen die Militärdiktatur gekämpft hat.

Wie erklärt sich dieser Wandel? Weil im Dezember 1997 Präsidentschaftswahlen anstehen, will sich Präsident Kim Young Sam unbedingt der politischen Rechten annähern. Die hat ihm noch längst nicht verziehen, daß er seine beiden Amtsvorgänger, die Präsidenten Chun Doo Hwan und Roh Tae Woo wegen des Massakers von Kwangju beziehungsweise wegen Korruption vor Gericht stellen und verurteilen ließ. Die Verfassung verbietet Kim Young Sam eine zweite fünfjährige Amtszeit. Deshalb will er einen Mann seines Vertrauens wählen lassen, um auch nach Ende seiner Amtszeit politisch mitmischen zu können. Die neuen Arbeitsgesetze, die unter anderem Entlassungen erleichtern, erklären sich zum Teil aus der wirtschaftlichen Krise des Landes. Die Wachstumsrate ist von 9,3 Prozent 1995 auf unter 7 Prozent 1996 gesunken, für 1997 rechnet man mit 5 Prozent. Das koreanische Außenhandelsdefizit ist 1996 auf 20 Milliarden Dollar, die Auslandsverschuldung auf 100 Milliarden Dollar gestiegen. Die komparativen Vorteile bei Löhnen, Bodenpreisen, Zinsen und Devisenkursen sind im raschen Schwinden begriffen. Die Löhne nähern sich dem Niveau der entwickelten Länder, Industriegrundstücke gehören inzwischen zu den weltweit teuersten. Die Zinsen liegen höher als in den Industrieländern. Um seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, muß Süd-Korea, kurz gesagt, seine Wirtschaftsstruktur umbauen. Im Oktober 1996 hat die Regierung das Ziel verkündet, die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb eines Jahres um 10 Prozent zu steigern. In diesem Kontext ist die Reform der Arbeitsgesetzgebung zu sehen. Aber daß die am 26. Dezember verabschiedeten Gesetze alle Garantien gegen willkürliche Entlassungen abschafften, zeigt die Unfähigkeit der südkoreanischen Gesellschaft, soziale Konflikte friedlich zu lösen.

Im Unterschied zu den Ländern Lateinamerikas, die im Zeitraum 1950-1980 auf die Entwicklung der Substitutionsindustrie setzten, hat Süd-Korea sich für die Exportförderung entschieden. Für das Wachstum war dies äußerst positiv, die Kehrseite zeigt sich im sozialen Bereich. Auf der einen Seite hat der Staat gigantische Mischkonzerne, die chaebol, geschaffen (siehe den Artikel von Laurent Carroué). Sie sollen im Verein mit den regierenden Militärs den Kern der künftigen kapitalistischen „Kaste“ bilden. Auf der anderen Seite sorgte der Staat für billige Arbeitskräfte, indem er die Gewerkschaftsbewegung gnadenlos unterdrückte.

Die Kehrseite der beschleunigten Industrialisierung war also ein autoritäres Regime und ein enormes Ungleichgewicht zwischen den Klassen, den Industriebranchen und den Regionen. Diese Widersprüche haben eine militante Arbeiterklasse hervorgebracht, die sich mit den Studenten verbündet. Seit 1961 wurden den Arbeitern die Koalitionsfreiheit, das Recht zu Tarifverhandlungen und zum Streik vorenthalten, und damit ein angemessener Anteil am erzielten Wohlstand. Die Gewerkschaftsunruhen vom Juli 1987 leiteten eine Wende ein. Es kam zu Lohnsteigerungen, die weit höher ausfielen als die Produktivitätssteigerungen. Weiterhin ungelöst blieb das Problem der autoritären Arbeitsbeziehungen. Seit 1993 hat unter der Regierung Kim Young Sam die Konzentration der wirtschaftlichen Macht weiter zugenommen. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit wurde die Kontrolle der chaebols gelockert, die man nach ihren wilden Spekulationsgeschäften der achtziger Jahre verordnet hatte. Zudem engagierten sich die Konglomerate in völlig disparaten Branchen, was ihrer notwendigen Spezialisierung entgegenstand und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit schwächte. Die chaebols hatten also nur ihre partikularen Interessen und ihre gesellschaftliche Macht im Auge, ohne daß die Gesellschaft davon profitiert hätte.

Unter der Herrschaft der Militärs wurde die Zivilgesellschaft von dem aufgeblähten autoritären Staat sozusagen aufgesogen. Aber Industrialisierung und Urbanisierung haben dazu geführt, daß immer mehr Intellektuelle, Professoren, Kirchenvertreter, Studenten und Gewerkschafter sich für eine Demokratisierung engagieren. Ab 1980 wurde diese Zivilgesellschaft zum Motor des gesellschaftlichen Wandels. Doch inzwischen wird die Zivilgesellschaft von der wachsenden Dominanz der Konglomerate erfaßt, die auch den Bereich der Medien und der Kultur prägt. Zahlreiche Führer der früheren außerparlamentarischen Opposition sind in die Parteien und in den Staatsapparat aufgestiegen. Der Arbeiterklasse ist zwar zahlenmäßig stark, aber zwischen zwei antagonistischen Gewerkschaftsbewegungen aufgespalten. Die Studentenbewegung wird durch ihre ideologische Radikalität geschwächt. Die Oppositionsparteien können den mächtigen konservativen Parteien wenig entgegensetzen. Was dringend nottut, ist eine große demokratische Partei als Gegenmacht. Ihr Fehlen gefährdet den Demokratisierungsprozeß und vergrößert die Gefahr erneuter gewaltsamer Auseinandersetzungen.

dt. Christian Voigt

* Forschungsdirektor an der Ehess, Leiter des Centre de recherches sur l‘économie et la société de la Corée, Paris.

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von BERTRAND CHUNG