14.02.1997

Kulturen im Angebot

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Kulturen im Angebot

Von JACK RALITE *

DIE Begriffe Digitalisierung, Internet, Informationsautobahn, Satelliten, Netze – verweisen allesamt auf greifbare Neuerungen, die, obwohl noch im Anfangsstadium, immer öfter die Rolle ideologischer Versatzstücke im neoliberalen Diskurs spielen. Jack Valenti, Präsident der Motion Picture Association of America (MPAA), einer Vereinigung, der die großen amerikanischen Studios angehören, sagt es ganz offen: „Satelliten, Glasfaser und Digitalisierung schaffen eine neue Situation, in der der Verbraucher das letzte Wort darüber hat, was er sehen will. Deshalb brauchen wir eine Politik der Deregulierung.“ Der globale Markt, der bisher als wichtigster Faktor zur Regulierung der Gesellschaften galt, hat einen Graben aufgerissen zwischen der kommerziellen Ausdrucksfreiheit, die kein neues Menschenrecht ist, sich jedoch in voller Entfaltung befindet, und der künstlerischen und bürgerlichen Ausdrucksfreiheit, die, obwohl immer noch ein echtes Menschenrecht, auf dem Rückzug ist.

Dieser „Krieg ohne Schlacht“, um eine Sentenz von Heiner Müller aufzugreifen, wird insbesondere im Bereich der audiovisuellen Medien und des Kinos ausgetragen, und das mit zunehmender Erbitterung. Dabei hatten die Autoren – keineswegs nur europäische – 1993, in der Endphase der Uruguay-Runde der Gatt-Verhandlungen, einen konstruktiven Vorschlag gemacht: die „Kulturausnahme-Klausel“, mit der man der Kultur allgemein eine Sonderstellung einzuräumen und der Allmacht eines laut Octavio Paz „gewissen- und erbarmungslosen“ Marktes Schranken aufzuerlegen gedachte. Leider beschnitt die Europäische Union dieses Vorhaben sogleich und mochte sich nur für die Vereinbarung einer „gesonderten Ausnahmebehandlung“ für den audiovisuellen Bereich stark machen. Im Ergebnis der Verhandlungen wurde der audiovisuelle Bereich in den Sektor Dienstleistungen mit einbezogen und damit auch den Regelungen von Gatt unterworfen. Gewissermaßen als Trostpreis konstatierte man im Protokoll einen Dissens mit den Vereinigten Staaten in dieser Frage.

Strotzende Amerikaner

WÄHREND Europa somit lediglich einen taktischen Aufschub erwirkt hatte, nutzten Washington und Hollywood ihren Vorteil und erzwangen, beflügelt von diesem ersten strategischen Sieg, ein Abkommen, das im wesentlichen auf der schriftlich niedergelegten US Global Audiovisual Strategy basiert und folgende Kernpunkte hat:

– Vermeidung „restriktiver Maßnahmen“ (damit sind die Ausstrahlungsquoten europäischer und nationaler Werke gemeint) und Unterbindung der Ausdehnung dieser Maßnahmen auf die neuen Kommunikationsmittel.

– Verbesserung der Investitionsbedingungen für amerikanische Firmen und entsprechende Liberalisierung der bestehenden Regelungen.

– Vermeidung unnützer Auseinandersetzungen über kulturelle Fragen zugunsten der Erschließung gemeinsamer Interessenbereiche.

– Verknüpfung der Fragen der audiovisuellen Medien mit der Entwicklung neuer Kommunikations- und Telekommunikationsdienste im Sinne der Deregulierung.

– Absicherung, daß die derzeitig an kulturelle Fragen gebundenen Restriktionen nicht zum Präzedenzfall für zukünftige Diskussionen werden, die sich in anderen internationalen Bereichen eröffnen.

– Vermehrung der amerikanischen Zusammenschlüsse und Investitionen in Europa.

– Diskrete Erkundung der Zustimmung zum amerikanischen Standpunkt bei den Betreibern, die von den Reglementierungen und Quoten betroffen sind, also bei privaten Fernsehanstalten, Werbeproduzenten, Telekommunikationsgesellschaften.

Diese Strategie trägt bereits Früchte. Alle Verbesserungen der europäischen Schutzmaßnahmen sind erst einmal blockiert, wie aus der Neuauflage der Eurodirektive „Fernsehen ohne Grenzen“ aus dem Jahre 1989 hervorgeht, die jetzt ausläuft. Bei einem ersten Durchgang stimmte das Europaparlament im Februar 1996 für einen Text, der von der Vorlage der Kommission und des Rates stark abwich: er bekräftigte die Quotenpflicht, wandte diese auch auf die neuen Dienste an und enthielt ein Verbot der praktizierten Entregionalisierung der Verteilerorganisationen sowie eine strenge Definition des Begriffs „Werk“. Bei der zweiten Lesung im Oktober 1996 war das Parlament außerstande, sich der neuen „Gemeinschaftshaltung“ des Rates zu widersetzen, die die Kommission unter Einbeziehung der amerikanischen Anweisungen ausgearbeitet hatte. In ihren wesentlichen Verordnungen bleibt die Direktive aus dem Jahre 1989 in Kraft. Sie bietet weder einen Fortschritt noch eine Antwort auf die neuen Probleme und läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Minimale Reglementierung des Bestehenden, keine Reglementierung dessen, was kommt.

Ungarn, Tschechien und Polen, die sich um einen Beitritt zur Europäischen Union bewerben, haben mit ihr Beitrittsvereinbarungen ausgehandelt, nach denen die Direktive „Fernsehen ohne Grenzen“ in das nationale Recht übernommen werden muß. Washington allerdings intervenierte sofort mit der Drohung, die Aufnahme dieser Länder in die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu blockieren. Lediglich Polen hat sich dem Druck nicht gebeugt, aber der Marktanteil der amerikanischen Filme liegt in den drei Ländern ohnehin schon jetzt bei über 90 Prozent.

Zweiter Schwerpunkt der Hollywood-Offensive sind die Investitionen. Giganten wie Time-Warner- Turner, Disney-ABC, Westinghouse-CBS drängen massiv nach Europa: Sie kaufen Studios, errichten Multiplexanlagen, greifen in die Kabelnetze ein und schließen Abkommen mit lokalen Unternehmen. Darüber hinaus schaffen sie Programmsender mit allgemeinem Inhalt oder thematischen Schwerpunkten – derzeit etwa fünfzig –, und zwar in einem Ausmaß, daß die in den nächsten Jahren im Osten zu erwartenden privaten Fernsehanstalten möglicherweise komplett in amerikanischer Hand sein werden.

An die Stelle der etwa hundertvierzig nationalen Monopole der audiovisuellen Medien ist ein weltweites Oligopol getreten, das aus fünf oder sechs Gruppen besteht und dessen Führungsspitze US-amerikanisch ist. Wirtschaftlich ausgedrückt, gestaltet Europa seine Bilanz des Austauschs von Bildern mit den Vereinigten Staaten zunehmend negativ. 1988 waren es 2,1 Milliarden Dollar, 1995 ganze 6,3 Milliarden Dollar. Auch in den internationalen Organisationen sind die Amerikaner auf dem Vormarsch. An erster Stelle geschieht das in der OECD – im Rahmen der Verhandlungen zu einem multilateralen Investitionsabkommen, mit dem der Fluß ausländischer Investoren begünstigt und die Subventionszuteilungen, die allein an nationale Hersteller gehen, unterbunden werden sollen. Die USA wollen erreichen, daß ihre Investitionen in Europa wie nationale und europäische Investitionen behandelt werden, denn das würde ihnen den Zugang zu den finanziellen Hilfsprogrammen auf Gemeinschaftsebene (Programm Media) sowie auf nationaler Ebene (Subventionsfonds in Frankreich) bescheren. Unterdessen bemüht sich die französische Regierung, vertreten vom Minister für Finanzen und mißtrauisch beobachtet von den Urhebervereinigungen, um die Aufnahme einer „Kulturausnahme“-Klausel in das multilaterale Investitionsabkommen, ähnlich der Klausel, die auf Forderung Kanadas in das Freihandelsabkommen für Nordamerika aufgenommen wurde. Die Partie ist noch lange nicht entschieden.

Ein weiterer Schauplatz der Auseinandersetzung ist die Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO), mit Sitz in Genf. Im Dezember 1996 wurden hier verschiedene Vorschläge debattiert, wie man die internationalen Regelungen auf dem Gebiet der Autorenrechte vereinheitlichen könnte (vgl. den Artikel von Pierre Quéau, S. 10/11). Die Vereinigten Staaten haben keinen Zugang zu den Kopierabgaben (die Steuer auf Leerkassetten), die sie mit Nachdruck verlangen. Ihre Ziele sind deutlich: Autoren- und Nebenrechte erkennen sie unter der Bedingung an, daß die Inhaber der Rechte diese den großen audiovisuellen Gruppen zur Vermarktung überlassen. Eine Offensive rollt auf die Autoren- und Künstlervereinigungen zu, mit der das Copyright (als potentieller Markt) gegenüber dem moralischen Recht (als individueller Verfügung über das eigene Werk) aufgewertet werden soll; eine erste Bresche in die europäische Front hat Washington bereits geschlagen: Mit dem britischen Autorenverband wurde ein Abkommen geschlossen, das allerdings sofort auf die Mißbilligung der entsprechenden europäischen Vereinigungen stieß. Beim WTO-Gipfel im Dezember 1996 in Singapur schließlich wurden zwar die Autorenrechte für CD-ROM-Veröffentlichungen beibehalten, doch bei den Glasfasermedien und den neuen Technologien wurden die Weichen auf Deregulierung gestellt.

Selbstgefällige Europäer

DIE Vermarktung der Kultur, von der hauptsächlich die Vereinigten Staaten profitieren, rollt wie eine Dampfwalze über alles hinweg. Doch die Alte Welt kann und muß reagieren, auch wenn die Mehrheit ihrer audiovisuellen Gruppen und der Regierungen eher zur Nachahmung amerikanischer Praktiken neigt. An erster Stelle stünde die Schaffung einer europäischen audiovisuellen Industrie, die diesen Namen auch verdient. Es ist doch bemerkenswert, daß dieser Industriezweig in Europa nur 0,3 Prozent der nationalen Bruttosozialprodukte ausmacht. Weiter wäre zu fragen, warum der Europarat, der vierzig Staaten vertritt, nicht die Initiative ergreift und einen „Bildgipfel“ einberuft, ähnlich dem von 1992 in Rio. Künstler, Autoren, Juristen, Forscher und Produzenten könnten dort Feinarbeit an den Autorenrechten betreiben – und zwar auf der Grundlage des moralischen Rechts und nicht des Copyrights.

Will Europa seinen selbstgefällig vor sich her getragenen kulturellen Ehrgeiz beweisen, dann muß es für ein Forum sorgen, in dem Ausdruck, Kreativität, staatsbürgerliches Bewußtsein und Arbeit Platz finden, für einen der Vielfalt geöffneten Raum also, wo sich auf neue Weise regionale, nationale und internationale Kultur mischen und artikulieren können. Bisher war die Anziehungskraft von Geld und Macht der beherrschende Faktor für die Betreiber. Die Gesellschaft aber braucht andere Treibstoffe.

dt. Esther Kinsky

* Mitveranstalter der Etats généraux de la culture.

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von JACK RALITE