11.04.1997

Wird der Dual überleben?

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Wird der Dual überleben?

DAS slowenische Volk verdankt seine Identität der Kultur, oder genauer der Literatur. Im Unabhängigkeitskampf war die Feder wirkungsvoller als die Waffen. Im 7. Jahrhundert stellte das Fürstentum Karantanien (dessen Kerngebiet im heutigen Kärnten liegt) eine eigene politische Einheit dar. Als es zu Beginn des 9. Jahrhunderts unter die Herrschaft der Franken geriet, wurden die herrschenden Adligen ausgeschaltet. Die zu Leibeigenen gemachten Bauern bewahrten jedoch dank der slowenischen Sprache ihre eigene Identität. 1278 bemächtigten sich die Habsburger – für 640 Jahre – des gesamten Territoriums. Im 13. Jahrhundert besaß das Slowenische noch einen legalen Status. In der Folge dominierte über mehrere Jahrhunderte die deutsche Sprache und ließ das Slowenische auf den Rang einer bloßen bäuerlichen Mundart absinken. Das slowenische Nationalbewußtsein äußerte sich in dieser Phase im Kampf gegen die Germanisierung. Mangels militärischer Führung waren es die Intellektuellen und Kleriker, die den Kampf gegen die Assimilation führten.

Der erste Text in slowenischer Sprache, die „Blätter von Freising“, stammen aus dem 10. Jahrhundert und dienten der Evangelisierung. Die literarische Sprache entstand Mitte des 16. Jahrhunderts und wurde von Primož Trubar (1508-1586), einem Anhänger der Reformation, entwickelt. Er ging von der Überzeugung aus, jeder Christ müsse die Bibel in seiner Sprache lesen können, und schrieb die ersten beiden Bücher in slowenischer Sprache: 1550 erschienen ein slowenischer Katechismus und eine Grammatik, das „Abecedarium“. Obwohl sich die katholische Kirche mit der Gegenreformation wieder durchsetzte, wurde die katholische Liturgie in slowenisch gelesen, das sich mit Beginn der Alphabetisierung und der Einführung der Schulpflicht weiter ausbreitete. Damit kamen mehr Menschen mit der literarischen Sprache in Berührung. Dennoch bedurfte es begeisterungsfähiger und engagierter Persönlichkeiten wie Valentin Vodnik (1758-1819), um den Mangel an universitären Einrichtungen auszugleichen. Nachdem Slowenisch von der französischen Besatzungsmacht als offizielle Sprache anerkannt wurde, schrieb Vodnik zahlreiche Lehrbücher für die Grundschule.

Die Veröffentlichung der ersten Grammatik in slowenischer Sprache im Jahr 1808 mit dem Titel „Grammatik der slawischen Sprache in Krain, Kärnten und der Steiermark“ und der bedeutende Beitrag von Männern wie Vodnik bereiteten den Boden für France Prešeren (1800-1849), den größten slowenischen Dichter, dessen Werk sich mit dem seiner europäischen Zeitgenossen messen kann. Er beteiligte sich aktiv an den damals aktullen Kontroversen, insbesondere über die Orthographie mit dem Buch „Nova pisarija“ (Die neue Schreibweise). Die 1989 eingeführte Nationalhymne wurde 1844 von Prešeren geschrieben.

1848 brachen überall in Europa Revolutionen aus. Die slowenischen Intellektuellen veröffentlichten das erste politische Programm zugunsten eines „vereinigten Slowenien“. Die darin erhobenen Forderungen blieben bis 1918 und darüber hinaus aktuell, da sie bereits den künftigen slowenischen Staat in Umrissen vorwegnahmen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte die Literatur einen beträchtlichen Aufschwung, als die Sprache definitiv vereinheitlicht wurde, immer mehr Zeitschriften und Zeitungen erschienen und verschiedene Gedichtbände veröffentlicht wurden – was vor 1848 die Ausnahme gewesen war. In dieser Zeit trat erstmals ein Mann auf, der eine Sonderstellung einnehmen sollte: Fran Levstik (1831-1887). Im Rahmen seiner umfassenden literarischen Tätigkeit beschäftigte er sich auch mit den Problemen der Rechtschreibung. Er setzte seine Theorie in der kurzen Erzählung „Martin Krpan“ in die literarische Praxis um. Darin befreit ein robuster und sympathischer slowenischer Bauer Wien und seine feigen Aristokraten von einem bösen Riesen.

MIT der Behauptung der kulturellen Autonomie konnte sich die Literatur entfalten, deren schöpferischer Ausdruck nun nicht mehr rein didaktischen oder patriotischen Zwecken zu dienen hatte. Seit dem 20. Jahrhundert äußerte sich der literarische Reichtum in bedeutenden Strömungen wie der Moderne, dem Realismus oder dem Naturalismus. Die maßgebliche Rolle der Schriftsteller im öffentlichen Leben blieb noch lange bestehen. Ivan Cankar (1876-1918), der größte slowenische Schriftsteller, gab dem geistigen Leben seiner Epoche durch seine literarische Tätigkeit wie durch sein politisches Engagement neue Impulse. Als Angehöriger der Schule der moderna war er Anhänger der Idee eines jugoslawischen Staates.

Der Kampf der slowenischen Soldaten während des Ersten Weltkriegs, die Widerstandsbewegung während des Zweiten Weltkriegs und der acht Tage dauernde Krieg im Jahr 1991 – gegen die jugoslawische Bundesarmee – zeigen, daß die nationale und individuelle Verteidigung nicht mehr nur in den Büchern stattfindet. Es kommt zu einer schrittweisen Entkoppelung von Literatur und Politik, obwohl die Intellektuellen bei der Begründung und Durchsetzung der Unabhängigkeit eine entscheidende Rolle spielten. In der gegenwärtigen Phase, da der Übergang zur Marktwirtschaft einen intensiveren Austausch mit dem Ausland gebracht hat, spielen sie nach wie vor eine maßgebliche Rolle. Wird der Dual, diese archaische grammatikalische Form, die zwei Personen oder Dinge bezeichnet und sich in der slowenischen Sprache gehalten hat, die Kämpfe der modernen Zeit überdauern?

KLADVIJ SLUBAN

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von KLADVIJ SLUBAN