Weg eines Lebens in Afrika
ABDULRAZAK Gurnah wurde 1948 auf der Insel Sansibar als Sohn jemenitischer und kenianischer Eltern geboren. Er zählt zu jenen englischsprachigen Autoren, die sich ähnlich den großen Schriftstellern des ehemaligen britischen Empire wie Salman Rushdie, Ben Okri, Michael Ondaatje oder Hanif Kureishi in Großbritannien zunehmender Bekanntheit erfreuen. Nachdem infolge der Revolution vom 12. Januar 1964 die einflußreichen Familien arabischen Ursprungs von der Insel der Gewürznelkenbäume vertrieben wurden, lebt Gurnah seit 1968 in England im Exil. Er lehrt an der Universität von Kent Literatur und verfaßt gleichzeitig vergnügliche Romane wie „Memory of Departure“, „Pilgrim's Way“, „Dottie“ und „Paradise“. Das letztgenannte Werk wurde 1994 für den angesehenen Booker- Preis vorgeschlagen.
Die Geschichte spielt zu Anfang des Jahrhunderts, zwischen 1906 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Sie endet mit der Beschreibung von deutschen Soldaten, die auf die Jagd nach jungen einheimischen Männern gehen, um sie zwangsweise für die Armee zu rekrutieren. „Zwei Gefangenenreihen wurden gebildet. Bei Anbruch der Nacht brachen sie in Richtung Stadt auf. An der Spitze marschierte der deutsche Offizier.“ Der Roman ist aus dem Blickwinkel eines zwölfjährigen Suaheli geschrieben, der als Pfand für die Schulden seines Vaters als Sklave ins Haus des reichen arabischen Händlers Aziz kommt, den er lange Zeit für seinen Onkel gehalten hat. „Das verlorene Paradies“ ist ein Initiationsroman: Der kleine Yusuf sammelt Erfahrungen, wird zum reifen Mann und bricht schließlich aus seinem Dasein als Diener (rehani) aus, um sich den deutschen Truppen anzuschließen. Der Autor läßt uns am Untergang der arabisch-muslimischen Gemeinschaft teilhaben, deren Reichtum aus dem Handel mit Sklaven, Gold, Elfenbein und Gewürzen herrührte. Treffend schildert Gurnah eine der letzten Karawanen, die in die Region der Großen Seen vordringt, um dort Rhinozeroshörner zu erstehen, die bei den indischen Händlern sehr begehrt sind. Die Westmächte haben die Kontrolle über die ganze Region und schließlich über ganz Afrika übernommen. „Als erstes bauten sie einen abschließbaren Schuppen, dann eine Kirche und schließlich einen überdachten Markt, um den gesamten Handel im Auge zu haben und sich ihren Anteil am Gewinn sichern zu können.“
Die Gebieter von gestern ziehen sich in die Stille ihrer Gemächer zurück und sinnen über vergangene Zeiten nach, die Dienstboten sind nach wie vor geschäftig in der Küche oder, wie der alte Mzi Hamdani, in dem „verschlossenen Garten“ tätig. Nur vereinzelt wird die Wut in dieser Erzählung laut, die keinem Schwarz- weiß-Denken anhängt. Bewohner der Küste und des Hinterlandes, „Zivilisierte“ und „Wilde“ leben Seit an Seit und haben miteinander zu tun.
„Das verlorene Paradies“ ist auch eine Liebesgeschichte, die aus Tausendundeiner Nacht stammen könnte. Der Reiz des Romans liegt nicht nur darin, daß er ein Stück Geschichte der Suaheli-Gesellschaften wiederaufleben läßt, die dem kolonialen Raubzug zum Opfer gefallen sind, daß der Lebensweg eines jungen Mannes nachgezeichnet wird oder daß ein orientalisches Märchen erzählt wird. Der Text liest sich darüber hinaus mit großem Genuß. Der Autor versteht sein Fach. Die Anspielungen auf Joseph Conrad („Herz der Finsternis“) oder V.S. Naipaul („An der Biegung des großen Flusses“) sind lediglich ein Kunstgriff, um die Leser zu ködern. Abdulrazak Gurnah zieht uns in ein Meer von Geschichten und führt uns auf eine Reise zwischen Hölle und Paradies.
Abdurahman Waberi
dt. Birgit Althaler
Fußnote: „Das verlorene Paradies“, von Abdulrazak Gurnah, aus dem Englischen übersetzt von Inge Leipold, Frankfurt/M. (W. Krüger Verlag) 1996.