16.05.1997

Demokratie im Abseits

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Demokratie im Abseits

DURCH die Auflösung der französischen Nationalversammlung und die Vorverlegung der für März 1998 vorgesehenen Parlamentswahlen, die der französische Staatspräsident Jacques Chirac aus reinen Opportunitätsgründen beschloß, hat die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse sowie Chiracs eigener Ruf als Staatsmann neuerlich Schaden genommen. In der Tat war dieses Vorgehen für die Mehrheit der Bürger ein rein taktisches Manöver und stellt, auch wenn keine Gesetzesübertretung damit verbunden war, in den Augen vieler einen klaren Machtmißbrauch dar.

Abgesehen davon, daß dieser Schachzug die oppositionellen Gruppierungen völlig überrumpelt hat – und damit jedes Fair play vermissen läßt –, besteht die offenkundige Absicht darin, die Wahlkampagne möglichst abzukürzen und dadurch die wesentlichen Fragestellungen auszublenden. Denn der Nationalversammlung, die nun gewählt wird, kommt die Ratifizierung einer historischen Entscheidung zu: der Verzicht auf ein ganzes Stück nationalstaatlicher Souveränität durch ein Ja zum Euro. Die europäische Einheitswährung wird den gesamten ökonomischen und damit auch den sozialen Bereich prägen und keiner politischen Einflußnahme unterliegen, denn sie ist von den demokratischen Mechanismen „abgekoppelt“ und hat nur den Direktiven der Europäischen Zentralbank in Frankfurt Folge zu leisten.

Bei allen rhetorischen Verschleierungsversuchen muß man sich im klaren darüber sein, daß es jetzt um künftige Regierbarkeit geht – und um das Risiko, daß sich in Frankreich das ultraliberale Modell ebenso durchsetzen wird wie in den USA, Großbritannien und anderswo. Das aber würde das Ende eines bestimmten Politikbegriffs bedeuten, eine Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags und die Verschärfung der sozialen Brüche.

Es würde auch die Verabschiedung von einer bestimmten Vorstellung von Demokratie bedeuten. Insbesondere da der Wirtschaftsliberalismus dazu tendiert, das Gewicht einiger Akteure des öffentlichen Lebens zu verstärken – der Financiers, Industriellen, Technokraten und Medien –, die sich allein den Gesetzen des Geldes unterwerfen und nie den Entscheidungen des Volkes. Wahlen werden unter diesen Umständen immer mehr zur reinen „Pflichtübung“, zu einer „dramaturgischen Funktion“, einer Art „Narrenfest“, auf dem viele Kandidaten ungestraft Versprechungen äußern können, die zu erfüllen sie nie beabsichtigen.

Unter diesem Prozeß leidet die Idee der Demokratie, die Verzweiflung (oder die Gleichgültigkeit) der Bürger nimmt zu, und die extreme Rechte zieht daraus den Nutzen. Es scheint also der Moment gekommen zu sein, um neu über Politik nachzudenken und die Demokratie neu zu begründen.

I.R.

Siehe unser Dossier auf den Seiten 7 bis 15

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von I.R.