Eine von Gott verlassene Welt
ANGESICHTS der extremen Gewalt in Kolumbien war ein solch extremes Buch nötig. Die Situation ist auch durch eine noch so getreue Chronik der Ereignisse nicht wiederzugeben. Um der Realität gerecht zu werden, bedarf es paradoxerweise der Fiktion, des bösen Witzes, des düsteren Lachens, der krampfhaften Fröhlichkeit. Den kurzen Roman von Fernando Vallejo kann man als Parabel, als Gedicht oder als Reiseführer lesen. In jedem Fall handelt es sich um ungeschminkte, reine Literatur über die reine Wirklichkeit. Der Erzähler (Vallejo?), ein Mann in reifen Jahren, kehrt nach mehreren Jahrzehnten, die er in Mexiko verbracht hat, in seine Geburtsstadt Medellin zurück. Dort trifft er auf Alexis, einen kaum dem Jugendlichenalter entwachsenen Berufskiller, der zu seinem Freund und Geliebten wird. Der Anblick seines nackten Liebsten, einzig mit drei Überwürfen der Heiligen Maria Auxiliadora bedeckt, die drei Schußwunden verbergen, „stürzt ihn ins Delirium tremens“.
Auf einer Pilgerfahrt zur Jungfrau der Mörder, auf die er seine junge Eroberung begleitet, entdeckt der Erzähler die Vorstädte. In seiner Jugend gab es diese Elendsviertel noch nicht. Endlose Stadtviertel voller baufälliger Hütten, die „vor lauter Häßlichkeit schon wieder schön sind“, voll lärmenden Lebens und des ständigen Zwiespalts zwischen der Lust zu töten und einer rasenden Fortpflanzungswut. Wie viele Morde hat sein junger Geliebter auf dem Gewissen? Der Erzähler weiß nur von einem, den Alexis vor seinen Augen begangen hat. Im übrigen hat der Erzähler nicht die Angewohnheit, Fragen zu stellen wie die Priester, die den Mördern im übrigen als Buße für jeden Toten den Besuch einer Messe auferlegen. Deshalb sind die Kirchen von Medellin voller Jugendlicher. An einem Dienstagabend erlebt er Alexis das erste Mal in Aktion. Sein Opfer, ein Punk, der dem Erzähler mit seiner Hardrockmusik auf die Nerven geht, erhält eine Kugel mitten in die Stirn; gerade dort, wo ihm an einem Aschermittwoch das Kreuzzeichen aufgemalt worden war.
Von da an wird der junge Alexis zum Gesandten des Teufels, der Ordnung in eine von Gott verlassene Welt bringt. Als Racheengel beseitigt er alles, was nach Ansicht seines Begleiters das Böse verkörpert: den Lärm von Transistorradios den Schwachsinn im Fernsehen, die Dummheit der Politiker, die Korruptheit der Präsidenten, Fußballspiele, Vallenatos (Volkstänze), Presselügen und Grammatikfehler. Als Alexis seinerseits vom neuen Liebchen des Erzählers getötet wird, gehen hundertfünfzig Leichen auf seine Rechnung – eine zweifellos selbst für Medellin etwas übertriebene Zahl. Indessen setzt Alexis' Nachfolger dessen missionarisches Werk fort. Es besteht darin, die Leiden der verwünschten Stadt zu mildern, indem er die Fortpflanzungswut ihrer Bewohner dämpft. Denn diese Wut führt nur zur weiteren Ausbreitung des Elends.
Fernando Vallejo liefert weder eine Chronik der Vorstädte noch eine Studie über die Kriminalität in Kolumbien. Er präsentiert eine Art Fabel über Einzelschicksale, die sich um so bedrückender erweisen, als die jugendlichen Mörder wissen, daß sie eines Tages selbst einem anderen, jüngeren Mörder zum Opfer fallen werden. Vallejo sagt uns nichts anderes, als daß die Kriminalität in den Elendsvierteln von Medellin nur das Symptom einer Krankheit ist, die bald die ganze Welt heimsuchen wird. Der Roman endet mit einer apokalyptischen Prophezeiung: „Weder Sodom noch Gomorrha, weder Medellin noch Kolumbien kennt Unschuldige. Wer immer hier lebt, ist schuldig; und erst recht, wer sich fortpflanzt. Die Armen bringen immer noch mehr Arme hervor, das Elend immer weiteres Elend. Je größer das Elend, desto mehr Mörder, und je mehr Mörder, desto mehr Tote. Das ist das Gesetz von Medellin, das künftig die ganze Erde beherrschen wird. Nehmt das zur Kenntnis.“
Ramon Chao
dt. von Birgit Althaler
Fußnote: „La Virgen de los sicarios“, von Fernando Vallejo, Bogotá (Alfaguara Hispanica).