16.05.1997

Kleines Glossar für Wahlkämpfer

zurück

Kleines Glossar für Wahlkämpfer

Anachronismus: G„Errungenschaften, soziale“ und „Demokratie“.

Anpassung: Euphemistische Bezeichnung für „Unterwerfung“ oder „Sozialabbau“. Beispiel: „Die notwendige Anpassung unseres sozialen Netzes“ (Jacques Chirac) G„Zukunft“ und „Wandel“.

Bruch, sozialer: Immer darauf hinweisen, daß er allein die Folge der undifferenzierten Verteilung der G„sozialen Errungenschaften“ ist. In dieser offensichtlich paradoxen Begründung wird die subtile Denkweise des Argumentierenden deutlich.

Demokratie: Gewisse Leute beklagen, sie sei ins Abseits manövriert worden (siehe Seiten 7 bis 11), während sie doch in einer sich wandelnden Welt schlicht anachronistisch ist und ausgedient hat.

Einheitsdenken: Irrige Vorstellung, wonach die einzig notwendige Wirtschaftspolitik, die seit knapp zwanzig Jahren verfolgt wird, auf einer Ideologie gründe, die den Interessen einer bestimmten sozialen Klasse dienen soll. Da diese Überzeugung aber leider allzu weit verbreitet war, mußte sie konterkariert werden. Dies ist schon fast gelungen: Indem ein jeder bei jeder Gelegenheit das G„Einheitsdenken“ anprangert, kann sich auch jeder, einschließlich Chirac und Madelin, in der Rolle des Dissidenten gefallen. Damit wurde der Kritik am Einheitsdenken jede Wirksamkeit entzogen.

Elan, neuer: Wenn eine besonders ausgelaugte Mannschaft ihre Fähigkeiten anpreist. Umgangssprachlich spricht man eher von „Kontinuität“.

Errungenschaften, soziale: Erblast aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Zwangsläufig abträglich in einer „sich rasch wandelnden Welt“. Die „erworbenen Pfründen“ sollte man stets anprangern, auch – ja vor allem – wenn man selbst als hoher Beamter an der Spitze eines großzügigen und wenig anspruchsvollen Unternehmens dahingedämmert hat (so Edouard Balladur als Vorsitzender der Gesellschaft für den Bau des Mont-Blanc-Tunnel) oder wenn man als wendiger Journalist, der überall die Klinken putzt, heute noch in deren Genuß kommt.

Flexibilität: Äußerste Anpassungsfähigkeit, die zum einen die Bereitschaft des Beschäftigten ausdrückt, für weniger Geld mehr zu arbeiten (G„Herausforderung“), und zum anderen die Fähigkeit der großen „Unternehmer“, die Zahl der Beschäftigten entsprechend einer im allgemeinen fallenden Kurve zu verändern.

Globalisierung: Höchstes Glück und Seligkeit, die aus der Verschmelzung von Markt und Multimedia hervorgehen. Schürt jedoch die Angst der Analphabeten und der G„Populisten“ obwohl sie den armen Ländern die Chance bietet, das Mittelalter zu überwinden, indem sie billige Sportschuhe herstellen, und den „wohlhabenden“ Beschäftigten der reichen Länder ermöglicht, „schlank“ in die „Moderne“ einzutreten.

Kommunikation: Ist per se gut, wie auch der internationale Handel (G„Globalisierung“).

Krise: Gibt es nicht. Es handelt sich um einen „Umbruch“, aus dem jeder, vor allem als Anleger, für sich den größten Nutzen ziehen sollte.

Moderne: Sollte man stets verteidigen (G„Zukunft“).

Populismus: Ist keineswegs Ausdruck der Angst der herrschenden Klasse vor dem Volk, wie die Populisten selbst meinen. Vielmehr handelt es sich um einen unentbehrlichen Begriff, mit dessen Hilfe man ohne unnötige intellektuelle Anstrengung alle G„Anachronismen“, die den G„neuen Elan“, die G„Flexibilität“ und die G„Globalisierung“ behindern, in einen Topf werfen und ablehnen kann. Ein guter Journalist sollte dieses Konzept möglichst ebenso häufig zitieren wie die Worte „zwar“, „gewissermaßen“ und „eigentlich“ oder auch die Adjektive „unumgänglich“ (vorzugsweise in Verbindung mit „Globalisierung“) und „wirklichkeitsfremd“ (vorzugsweise in Verbindung mit „soziale Errungenschaften“).

Randgruppen: Sind stets aufs neue der sichtbare Beweis für ihre eigene Unfähigkeit, die „Herausforderung“ der G„Globalisierung“ aufzugreifen. Die Bezeichnung „Randgruppen“ ist den Begriffen „Arme“ oder „Arbeitslose“ vorzuziehen. Wirklich moderne Zeitungen beklagen unter der Rubrik „Gesellschaft“ das Schicksal der „Randgruppen“ und feiern im Wirtschaftsteil die „Herausforderung“ durch die Globalisierung.

Reform: Setzt voraus, daß die Entscheidungsträger endlich den „Mut“ aufbringen, die sozialen Errungenschaften „aufzuweichen“, so daß dem Aufstand der Vertreter von Standesinteressen und Populisten die Stirn geboten werden kann.

Rigorosität: Wird im allgemeinen von den Betroffenen, denen es an Weitblick mangelt, wenig geschätzt, doch erhöht sie das Ansehen derer, die sich ihrer bedienen (im Denken wie im Verhalten) und damit sozialen Mut und Rationalität beweisen. Unter den möglichen Synonymen sollte man „Sparmaßnahmen“ und „Ungleichheit“ vermeiden, vielmehr von „Konsequenz“, „Sanierung“ oder „wirtschaftlichem Denken“ sprechen.

Wandel: Gesetzmäßigkeit einer Welt, „die sich immer schneller verändert“. Der Wandel ist notwendig. Altmodische Geister meinen immer noch, daß nur verändert werden sollte, was schlecht ist, während das ihrer Meinung nach Bewährte (G„Errungenschaften“, soziale oder „Demokratie“) erhalten werden sollte. Sie beweisen damit ihr zauderndes Wesen.

Zukunft: Recht schwammiger Begriff. Man muß sich „dafür entscheiden“, obwohl sie auf jeden Fall kommen wird. Allein die Zukunft erlaubt es, „den Herausforderungen von heute zu begegnen“, eine Aufforderung, die um so feierlicher klingt, als wir uns „auf dem Weg ins dritte Jahrtausend befinden“. Der Irrtum – den Millionen von französischen Wählern begehen dürften – besteht allerdings darin, daß diese Schwelle am falschen Jahrhundert angesetzt wird. In den Vereinigten Staaten wurde das Risiko einer solch falschen zeitlichen Orientierung durch eine geniale Idee umgangen: Bill Clinton entwarf den Bau einer „Brücke ins 21. Jahrhundert“. Deren Benutzung wird natürlich gebührenpflichtig sein.

Fr.B. und S.H.

dt. Erika Mursa

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von Fr.B. und S.H.