13.06.1997

Wo alle sich zu einig sind

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Wo alle sich zu einig sind

Von SERGE HALIMI *

WAS sollen wir, was sollen Journalisten und Intellektuelle noch tun in einer Welt, in der 358 Milliardäre schon fast über mehr Reichtümer verfügen als die halbe Weltbevölkerung? In der Mosambik für seine Schuldentilgung doppelt soviel Geld aufwendet wie für Gesundheit und Erziehung, obwohl in diesem Land jedes vierte Kind vor dem fünften Lebensjahr an einer Infektionskrankheit stirbt? Eine Welt, wo der Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen feststellt, das Wirtschaftsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern werde demnächst, falls sich der derzeitige Trend fortsetzen sollte, „nicht mehr bloß ungerecht, sondern geradezu unmenschlich sein“? Wo das Geld die Politik, zumal in den demokratischen Ländern, in einem Maße dominiert, daß man die beiden Sphären kaum noch auseinanderhalten kann, wo die Gesetze von denen gemacht werden, die die großen Schecks ausstellen, und wo die Bürger des Wählens so überdrüssig sind, daß sie das Feld lieber gleich den Investoren überlassen?

Doch wie können wir, die Journalisten und Intellektuellen, unsere Kritik an diesen Zuständen geltend machen und Lösungsvorschläge vorbringen, wenn die Milliardäre dieser Erde – ein Bill Gates, Rupert Murdoch, Jean-Luc Lagardère, Ted Turner oder Conrad Black – die Zeitschriften und Verlage besitzen, für die wir schreiben, die Radiosender, in denen wir berichten und kommentieren, die Fernsehanstalten, die uns auf den Bildschirm zaubern? Wenn die Entwicklungsländer mit Kultur und Informationen aus den Industrieländern überschwemmt werden, während in umgekehrter Richtung kaum Informationen fließen? Wenn die, welche die Schecks ausstellen, die Gesetze ausarbeiten, investieren, umstrukturieren und entlassen, gleichzeitig unsere Arbeitgeber, unsere Anzeigenkunden, unsere Vertriebsleiter, Gesprächspartner und „Entscheidungsträger“ sind?

Anders gesagt, können wir, Journalisten und Intellektuelle, in dieser globalisierten und totalitären Welt, in diesem neuen globalitären Universum, noch die Rolle einer Gegenmacht spielen und denen Gehör verschaffen, deren eigene Stimme nicht zählt? Können wir den Schwachen den Rücken stärken und die Starken schwächen? Können wir dies und vielleicht noch mehr tun, wo doch einige von uns – und oft die mit dem größten Einfluß und der größten Medienpräsenz – schon genauso zur Führungselite gehören wie die Mächtigen der Geschäfts- und Finanzwelt?

Notwendige Fragen, unvermeidliche Antworten: Für uns wird es immer schwieriger, das zu tun, was wir tun müssen. Bewußt oder unbewußt sind wir immer häufiger die Büttel des Establishments und die Schönredner der Ungerechtigkeit – auch das ein Resultat der Globalisierung. Natürlich, sie ist nicht unausweichlich: Schon mehrfach im Lauf der Geschichte wurde das Unumkehrbare rückgängig gemacht. Doch die Massenmedien, dieses Werkzeug der herrschenden Mächte, wollen uns um jeden Preis weismachen, daß der große kapitalistische Wandel, der das Jahrhundertende prägt, „unumgänglich“ ist. Und uns davon überzeugen, daß er im Grunde sogar wünschenswert ist. Gerade die Journalisten und Intellektuellen aber sollten wissen, welche Wirkung von einer Ideologie ausgeht, die sich Tag für Tag, Stunde um Stunde über eine Welt ohne Grenzen ergießt, über eine Welt, die niemals schläft.

Vor zweieinhalb Jahren hat Le Monde diplomatique diese Art Propangada erstmals „Einheitsdenken“ genannt. Der Ausdruck schlug so gut ein, daß Jacques Chirac ihn nur wenige Wochen später benutzte, um dem dahindümpelnden Wahlkampf neuen Schwung zu geben. Drei Monate später wurde er Präsident der Republik. Überflüssig zu sagen, daß der Ausdruck mit wachsender Popularität seine ursprüngliche Bedeutung verlor.

Was also ist – oder eher war – das Einheitsdenken? Es ist die ideologische Schönfärberei der Interessen des Weltkapitals, die musikalische Untermalung der Belange der Finanzmärkte. Es propagiert in den wichtigsten Presseorganen die neoliberale Politik, wie sie von der OECD, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der WTO aufs wärmste empfohlen wird, von jenen großen internationalen Wirtschaftsorganisationen also, die von dem Restbestand an Glaubwürdigkeit, Sachkenntnis und Autorität, der ihnen noch geblieben ist, rücksichtslos Gebrauch machen.

Leicht faßlich, von den großen „Regierungsparteien“ bereitwillig übernommen und dank der Globalisierung hundertfach geklont und in sämtliche Sprachen übersetzt, versucht diese neue Orthodoxie die Regierungen in aller Welt auf „die einzig mögliche Politik“ einzuschwören: auf die, die den Reichen genehm ist.

Ein französischer Essayist hat festgestellt: „Der Totalitarismus der Finanzmärkte gefällt mir auch nicht. Aber ich weiß, daß es ihn gibt, und wäre froh, wenn alle Eliten dies wüßten. Ich weiß nicht, ob das, was die Märkte denken, richtig ist, aber ich weiß, daß man nicht gegen die Märkte denken kann. Ich bin wie der Bauer, der den Hagel nicht liebt, aber mit ihm leben muß. Wenn man nicht eine gewisse Anzahl von Regeln beherzigt, die so streng sind wie die Vorschriften des kanonischen Rechts, können die 100000 Analphabeten, die über die Märkte bestimmen, der Wirtschaft eines Landes schweren Schaden zufügen. Die Experten machen diese Tatsache wenigstens publik.“ Wenn Alain Minc, der Autor dieser Analyse, von „Experten“ spricht, denkt er sicher auch an Journalisten und Essayisten. Und leider nicht zu Unrecht. Doch wenn man diese chemisch reine Probe einer Marktmeteorologie akzeptiert, diese Legitimation einer neuen Diktatur, wird die Politik bald nur noch die Bühne für Scheindebatten zwischen Parteien sein, die ihre kleinen Differenzen stolz hervorkehren, um besser über das gewaltige Ausmaß an Willfährigkeit und Borniertheit hinwegzutäuschen, das sie stillschweigend eint. Und als logische Folge dieser Pseudodebatten wird die Wahlmüdigkeit um sich greifen.

Das geschieht bereits. In den USA, wo ausländische Firmen sich die berühmt gewordenen „Kaffeekränzchen“ im Weißen Haus einiges haben kosten lassen – womit die Grenze zwischen Innenpolitik und Welthandel noch durchlässiger geworden ist –, gaben vergangenen November nur noch 48,8 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, die niedrigste Beteiligung seit 1924. Auf diesem Tiefstand angekommen, wird die Gleichgültigkeit des Volks fast schon zu einem Akt des zivilen Ungehorsams.

Ein anderes, weniger bekanntes Beispiel führt uns zugleich eine Art automatisiertes Schreiben vor Augen, das bereits weit verbreitet ist und das Le Monde diplomatique als „Marktjournalismus“ bezeichnet hat. Vergangenen Dezember errichteten griechische Bauern Straßensperren, um gegen die rigiden Sparmaßnahmen ihrer Regierung zu protestieren. Einer von ihnen sagte: „Das einzige Recht, das wir haben, ist abzustimmen, und das hilft uns nicht weiter.“ Tatsächlich hatten Wahlen stattgefunden, aus denen die unternehmerfreundliche Sozialistische Partei als Sieger hervorgegangen war. Scheinheilig kommentierte damals die Washington Post: „Dies waren die ersten wirklich modernen Wahlen in der Geschichte des Landes, das die Demokratie erfunden hat. (...) In allen Grundfragen sind sich die beiden Parteien mehr oder minder einig.“

Dürfen Journalisten und Intellektuelle den Gedanken akzeptieren, daß sich eine „wirklich moderne“ Demokratie dadurch auszeichnet, daß es zwischen den großen Parteien keine strittigen Punkte mehr gibt, weil „100000 Analphabeten“ in allen wesentlichen Fragen allein entscheiden? Und wenn wir es akzeptieren, mit welchem Recht wollen wir uns dann noch über „Extremismus“ und „Populismus“ aufregen, die ja auch einen berechtigten Zorn ausdrücken, den Zorn über Politiker, die alle unter einer Decke stecken und in einer real polarisierten Gesellschaft fiktive Debatten führen? Statt uns über die „political correctness“ zu mokieren, in der ein Teil der amerikanischen Linken angeblich befangen ist, sollten wir lieber aufpassen, daß wir es nicht mit der „economical correctness“ übertreiben und uns zu Claqueuren der Finanzmärkte degradieren lassen.

Ein Klischee geht um in der Welt: „Noch drei Jahre bis zum Jahr 2000.“ Tatsächlich spielt sich um die Definition dessen, was modern ist und was nicht, ein ständiger ideologischer Kleinkrieg ab. Der Marktjournalismus assoziiert mit „Modernität“ ganz automatisch Freihandel („Öffnung“), starke Währung („Macht“), Deregulierungen („Erleichterungen“), Privatisierungen („Wettbewerb“), die Kommunikation (der glücklich Vernetzten) und ein bestimmtes Europa (das des Freihandels, der starken Währung, der Deregulierungen, der Privatisierungen und der Kommunikation).

Als „veraltet“ gilt umgekehrt all das, was der Wohlfahrtsstaat oder auch der Staat schlechthin verkörpert (so er sich nicht darauf beschränkt, mit seinem Gewaltmonopol für Sicherheit und Ordnung zu sorgen und das Eigentum zu schützen), des weiteren die Gewerkschaften (die angeblich nur noch „Besitzstandswahrer“ sind), die Nation (die dem „Nationalismus“ den Weg bereitet) und das Volk (das immer anfällig für „Populismus“ ist).

Wer als Journalist und Intellektueller noch wirklich nachdenkt und die Reflexe und die Haltung des Skribenten ablegt, wird vielleicht zu dem Schluß kommen, daß die geschilderte Modernität veraltet, das als veraltet Verunglimpfte dagegen notwendig ist. Er wird gegen die übliche Art von Globalisierung Widerstand leisten und versuchen, eine andere zu konzipieren. Vor allem aber wird er die Ansicht bekämpfen, daß es sich um ein Schicksal handelt, dem man nicht entrinnen kann.

Entmystifizierung der Zwangsläufigkeiten

UNSERE beiden Zeitschriften, Le Monde diplomatique und Manière de voir, sind gemeinsam bemüht, diese Entmystifizierung voranzutreiben. Wie sollte man nicht der scharfsinnigen Analyse von Martin Wolf zustimmen, die er vor zwei Jahren in einem Leitartikel der Financial Times unter dem Titel „Der Mythos der globalen Ökonomie“ vorgelegt hat: „Das Zusammenwachsen zu einer einzigen Weltwirtschaft“, schrieb er, „ist keineswegs ein unaufhaltsamer Prozeß. Die Staaten haben sich entschlossen, Handelsbarrieren abzubauen und auf eine Kontrolle der Wechselkurse zu verzichten. Wenn sie wollten, könnten sie diese Politik jederzeit stoppen.“ Sie sollten es. Helfen wir ihnen.

Aber das ist natürlich nicht das, worauf Martin Wolf in seinem Mehrspalter hinauswollte. Der Diskurs der Apostel der Globalisierung und der Märkte überrascht oft durch seinen Extremismus, durch seine Tendenz, keinen Raum für Zweifel zu lassen, durch seine unleugbare Ähnlichkeit mit der stalinistischen Orthodoxie der fünfziger oder dem Dogmatismus marxistischer Hardliner der sechziger Jahre.

Wer wagte noch nach der Lektüre dessen, was die Globalisierungsapostel schreiben, daran zu zweifeln, daß die Märkte zu nichts anderem da sind, als für das Glück der Menschheit zu sorgen? Und daß dieses Glück dank der Globalisierung tatsächlich nun endlich bis in den letzten Winkel unserer Erde vordringen wird? Mitunter laufen die Dinge allerdings nicht ganz so, wie die Priester des totalen Kapitalismus es versprochen haben. Dann kommen die üblichen Ausreden: „ein wenig Geduld noch“, „nur noch ein kurzes Stück, und wir haben es geschafft“, „Wandel ist immer schmerzhaft“, „die Bedingungen waren nicht optimal“, „wenn die Leute etwas unternehmungslustiger und flexibler gewesen wären, hätte man glänzende Ergebnisse erzielt“.

Soziale Ungerechtigkeit? Leugnen wir einfach ihre Existenz oder streichen wir ihre positiven Aspekte heraus. Besser noch, erzählen wir ihnen, daß sie das Produkt von zu viel Staat und zu wenig Markt ist. Es gibt eben immer noch keine Privatversicherung, die einem die freie Wahl der Schule oder des Krankenhauses gestatten würde. Noch nicht genug investorenfreundliche Entwicklungsbezirke in den Ghettos, nicht genug Steuererleichterungen für die Arbeitgeber, nicht genug Pensionsfonds. Und nicht genug Wettbewerb im öffentlichen Dienst.

Es erinnert ein wenig an das, was die Stalinisten mit dem Kommunismus anstellten, wenn man den Fehler immer bei den Menschen sucht, die auf dem Weg zur reinen und so prachtvoll florierenden Marktgesellschaft ins Straucheln oder zu Fall kommen, und nicht im Traum daran denkt, daß man vielleicht die völlig falsche Richtung eingeschlagen hat.

Und es erinnert ein wenig an die Stalinisten, wenn die Globalisierungsapostel an ihren Kritikern ein so großes Maß an Unvernunft entdecken, daß sie ihnen eigentlich ein Umerziehungsprogramm oder eine psychiatrische Behandlung verordnen müßten. Sind wir nicht unverantwortliche Maschinenstürmer, die lediglich „ausgemachten Blödsinn“ zu Papier bringen?

Wenn es nun aber in Wahrheit so wäre, daß der Markt ein Modell ist, das für die meisten Bewohner dieses Planeten nicht taugt? Und wenn sich herausstellen würde, daß die Märkte zwar ein fabelhaftes Instrument sind, um Reichtümer anzuhäufen, daß sich mit ihnen aber keine menschliche und gerechte Gesellschaft aufbauen läßt? Welchen Preis werden wir zahlen müssen, wenn wir dies nicht bald begreifen und die nötigen Lehren daraus ziehen? Wie viele Menschen müssen noch in Armut versinken? Wie viele sollen weiterhin fernab von dem leben, was Alan Greenspan, der Präsident der amerikanischen Zentralbank, den „wunderbaren Überfluß der Märkte“ genannt hat? Wie viele sollen vor den privaten „Wohngemeinden“ der Reichen stehen und sich von Wachtrupps vertreiben lassen? Wie viele Amerikaner sollen hinter Gittern sitzen? Wieviel schleichende Verelendung und wieviel Aufruhr können wir verkraften? Und wie viele Bürger sollen noch davon überzeugt werden, daß die Demokratie ihnen nichts mehr zu bieten hat?

Wenn uns das Ende der Polizeistaaten Osteuropas und der damit verbundene Verlust von Gewißheiten über das Wesen des Menschen etwas gelehrt hat, dann doch wohl nicht, daß wir einen anderen Totalitarismus brauchen, eine andere Tyrannei – die der Finanzmärkte. Sondern eher, wie wichtig der Zweifel ist und wie notwendig die Widerrede.

dt. Andreas Knop

* Redakteur von Le Monde diplomatique. Dozent am Institut d`études européennes (Paris VIII)

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von SERGE HALIMI