Hinter der Fassade von Lourdes
NOCH vor Mekka ist Lourdes mit fünf Millionen Besuchern pro Jahr das größte Pilgerzentrum der Welt. Erstmals in der Geschichte haben sich Wallfahrtsstätte und Stadtverwaltung auf ein Gemeinschaftsprojekt zur Verbesserung des Zugangs wie der Krankenversorgung geeinigt. Doch hinter der hübschen Fassade, die aus diversen wirtschaftlichen Interessen gehegt und gepflegt wird, schwelt ein Ehestreit, der so alt ist wie die Erfolgsgeschichte des ungleichen Paares.
Von HUBERT PROLONGEAU *
Ist die Stadt Lourdes über ihre Wallfahrtsstätte glücklich? Für den außenstehenden Betrachter scheint die Antwort klar: Wie sollte der kleine Pyrenäenort, der durch die Gnade von achtzehn Marienerscheinungen zum wichtigsten Pilgerzentrum der Welt geworden ist, nicht denen dankbar sein, die ihm den Wohlstand beschert haben?
Und doch: Die Beziehungen zwischen der Stadt und ihrem Heiligtum sind eher seltsam. Vordergründig sieht es so aus, als seien sie tatsächlich durch jene „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden, von der die derzeitigen Verwaltungen so gern und laut reden. Ein schöner Traum. In Wahrheit waren und sind sie die Sklaven unauflöslich verflochtener, insgeheim aber oft divergierender Interessen, so daß sich beide zwar im selben Rhythmus, aber keineswegs in harmonischer Übereinstimmung entwickelt haben.
Als die Kirche 1875 beschloß, den Boulevard de la Grotte anzulegen, um eine direkte Verbindung zum Bahnhof zu haben, strengten die Einwohner von Lourdes siebzehn Prozesse gegen Pater Sempé an. Als sich Pfarrer Peyramale dafür einsetzte, in der Innenstadt eine Kirche zu bauen, von wo aus die Pilgerscharen aufbrechen sollten, zwang ihn das Sanktuarium, von seinen Plänen abzulassen. Als Monseigneur Théas 1965 den Bau zweier Brücken über den Fluß Gave ankündigte, die den Pilgern das Gedränge in den Einkaufsstraßen ersparen sollten, stiegen die Ladenbesitzer auf die Barrikaden... Bislang wußte jede Seite genau, wie weit sie gehen durfte, und das gemeinsame Interesse ließ die Konflikte verstummen. Doch irgendwann kommt unweigerlich der Moment, an dem sich ein Einvernehmen nicht mehr herstellen läßt, an dem die Rentabilität der einen Seite die Profite der anderen zu stark beeinträchtigt, an dem die Entscheidungen der Wallfahrtsstätte Veränderungen herbeiführen, die der überaus konservativen Stadt gegen den Strich gehen, kurz, irgendwann kommt der Moment, da zwei widerstreitende Logiken einander gegenüberstehen.
So wie heute, obwohl doch zum ersten Mal seit 1858 ein Gemeinschaftsprojekt die Stadt und das Sanktuarium verbindet. 1989 kam es in der Wallfahrtsstätte zu einer kleinen Revolution. Zwei Laien, einer auf dem Posten des Verwalters, der andere auf dem des Personalchefs, übernahmen die Leitung, und das Klima änderte sich. „Früher, als das Sanktuarium noch von Geistlichen geführt wurde“, berichtet ein Priester aus Bordeaux, der an einer Doktorarbeit über Lourdes arbeitet, „gab es eine tiefe Spriritualität, die sich allen mitteilte. Heute steht das Business im Zentrum. Unter unternehmerischen Gesichtspunkten mag es ja berechtigt sein, Laien die Leitung zu überlassen, aber mit der spirituellen Dimension verträgt es sich nicht. Es war ein großer Fehler, daß man diese Dimension von Lourdes nicht berücksichtigt hat.“
Als die neuen Manager die Verwaltung übernahmen, war die Finanzlage gut. Sie hatten freie Hand, um Großprojekte in Angriff zu nehmen, was auch sofort geschah: Das Informationszentrum wurde renoviert, eine neue Telefonzentrale wurde installiert, die Anbetungskapelle wurde für vier Millionen Franc umgebaut.
Weitere Baustellen kamen hinzu. Eine, um den Platz rund um die Grotte neuzugestalten, wo die Pilger so eng beieinanderstehen, daß man kaum noch beten kann, eine andere, um die Rosenkranzbasilika zu retten, deren Mosaiken wegen schwerer Wasserschäden langsam zerbröckeln. Doch das Hauptvorhaben ist der Bau von Hospitälern, der notwendig geworden ist, weil die auf dem Kirchengut vorhandenen Häuser, auch wenn noch so viele freiwillige Helfer darin Dienst tun, längst in keinem adäquaten und würdigen Zustand mehr sind.
Das Sanktuarium allein freilich kann diese Arbeiten, deren Kosten sich auf 230 Millionen Franc belaufen werden, nicht finanzieren. Gemeinsam mit der Stadt wurde also das „Gemeinschaftsprojekt zur Neugestaltung der Stadt und der Wallfahrtsstätte Lourdes“ aus der Taufe gehoben. Als Werbeidee erfand man das Schlagwort von der „Schicksalsgemeinschaft“ und gründete eine Gemischtwirtschaftliche Gesellschaft (SEM) für den Pilgerempfang, an der die Stadt 51 Prozent der Anteile, das Sanktuarium 33,5 Prozent und ein Bankenkonsortium den Rest in Händen hält. Das erste Ziel war erreicht: Die Wallfahrtsstätte erhielt 48 Millionen Franc Subventionen, dazu 30 Millionen Franc Spenden und 167 Millionen Franc Kredite.
Jede Seite machte feste Zusagen. Das Sanktuarium sollte die Bauarbeiten der Krankenhäuser vorantreiben, die Stadt verpflichtete sich, Strukturmaßnahmen außerhalb des Kirchenguts vorzunehmen. Das angrenzende Viertel soll bis auf zwei Zufahrtsstraßen in eine Fußgängerzone verwandelt werden, eine neue Ausfallstraße ist geplant, und der Verkehr soll über den Quai Saint-Jean umgeleitet werden, damit die Autos nicht mehr über die Gave-Brücken fahren müssen.
Die Lourder Bürger sind von diesen Plänen alles andere als begeistert. Die Hotelbesitzer, die der Wallfahrtsstätte bereits ganz offen Geschäftemacherei vorwerfen, sehen in dem Bau von Hospitälern nichts als unlauteren Wettbewerb. Selbst wenn die Bettenzahl nicht steigt, wird die verbesserte Unterbringungsqualität viele Kranke, die bislang im Hotel übernachteten, zum Wechsel bewegen. „Wie soll man mit Dieben verhandeln?“ sagt ein Vertreter des Hotel- und Gaststättenverbands wütend. Sein Berufsstand verzeiht es dem Sanktuarium nicht, daß es damals, während der Bauarbeiten für das Hotel La Solitude, eine bequemere Zufahrt für die Baulastwagen unterstützt hatte. Dieses große Hotel, Anfang der neunziger Jahre errichtet, ist noch immer ein Stein des Anstoßes. Zusammen mit anderen Neubauten wird es für eine Überkapazität verantwortlich gemacht, deren Folgen allerdings nicht so gravierend wären, wenn nicht alle Hoteliers einen selbstmörderischen Preiskrieg führten.
Die Geschäftsleute protestieren gegen die geplante neue Verkehrsführung, die für einige Läden Nachteile haben wird. Der Klarissinnenkonvent beklagt sich über die Verbreiterung des Quai Saint- Jean, weil nach diesem Plan eines seiner Gebäude abgerissen werden muß. Die Ladenbesitzer am Boulevard de la Grotte fürchten, daß die Pilger fast nur noch den Boulevard du Gave nehmen werden, um die Wallfahrtsstätte zu erreichen. So wird branchenübergreifend ein Interessenverband gegründet, dessen Hauptaufgabe darin besteht, Druck auf das „Gemeinschaftsprojekt von Stadt und Wallfahrtsstätte“ auszuüben.
Selbst der geplante Bau einer Kongreßhalle auf dem Gebiet des Sanktuariums stößt auf große Widerstände. Man möchte gern wissen, ob dort auch politische Versammlungen stattfinden können oder ob die Wallfahrtsstätte dies per Veto wird verhindern können. Noch immer fehlt der Stadt ein Kulturzentrum, das dieses Namens würdig wäre, und das, obwohl sie mit Philippe Douste-Blazy einen Mann zum Bürgermeister hat, der bis zur Wahl einen Ministerposten in Paris bekleidete.
Angesichts der breiten Entrüstung hat die Stadtverwaltung zurückgesteckt. Als 1995 Kommunalwahlen ins Haus standen, erinnerte Philippe Douste-Blazy bei jeder Gelegenheit daran, daß es sich nur um ein Projekt handele, daß man bisher nur mit dem Neubau der Hospitäler begonnen habe und daß man die übrigen Pläne erst nach Absprache mit allen Betroffenen und sehr behutsam realisieren werde. Also nie? Bislang jedenfalls ist noch keine der Arbeiten, die der Stadt obliegen, begonnen worden.
Ein Familienstreit
DIE allgemeine Aufregung wird durch weitere Affären verstärkt, die in den Beziehungen zwischen Stadt und Wallfahrtsstätte für neuen Sprengstoff sorgen. Die erste Affäre betrifft die Ausschreibungen des Sanktuariums. Traditionell stammten die von ihm beauftragten Firmen aus Lourdes. Hat der Verwalter, Monsieur de Saint-Denis, den Eindruck, daß man diese Tradition in der Vergangenheit ausgenutzt hat? „Das würde ich nicht sagen, aber Konkurrenz belebt das Geschäft.“ Die so bewirkte „Belebung“ hatte zur Folge, daß ein Großteil der Lourder Firmen den Absatzmarkt verloren hat und von Firmen aus dem nahe gelegenen Pau verdrängt wurde. Mittlerweile haben viele ihn zurückerobert, aber zu weniger günstigen Bedingungen.
1995 wird ein Architektenwettbewerb für den Hospitälerneubau ausgeschrieben. Drei Büros kommen in die engere Auswahl: eines aus Pau, eines aus Paris und eine Gruppe von zehn Lourder Architekten, die sich eigens für dieses Projekt zusammengeschlossen haben. Am 2. Mai 1995 werden die Mappen eingereicht, die Jury tritt zusammen und stimmt ab: Lourdes hat gewonnen. „Wir haben ein rauschendes Fest gefeiert“, erinnert sich Jean-Luc Dobignard, einer der zehn Glücklichen. Doch tags darauf kommt die Ernüchterung: Das Sanktuarium weigert sich, angeblich aus formalen Gründen, ihren Sieg anzuerkennen. Die Jury verlangt plötzlich weiteres Informationsmaterial, genauer gesagt ein Modell, wovon bei der ursprünglichen Ausschreibung keine Rede war, und tritt erneut zusammen: Diesmal entscheidet sie sich für das Architektenbüro Grésy-Bouet aus Pau, ein Büro, das zur gleichen Zeit damit beschäftigt ist, ein Haus für Gérard Altuzarra zu bauen, seines Zeichens Personalchef und Mitglied der technischen Kommission jener Gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft (SEM), die für die Durchführung des „Gemeinschaftsprojekts“ gegründet wurde. „Zufall“, verlautet es aus der heiligen Grotte.
Hier sei an den wichtigen Punkt erinnert, daß nichts einen Bauherrn (in diesem Fall die SEM) dazu zwingt, den Preisträger eines Architektenwettbewerbs auch wirklich mit dem Bau zu beauftragen: Er muß nur, wenn er es sich anders überlegt, seine Ablehnung rechtfertigen und begründen. Warum dann also die erneute Abstimmung? Weil es angesichts der angespannten Beziehungen zur Stadt zweifellos sehr unklug gewesen wäre, wenn die Grotte sich geweigert hätte, Lourder Architekten mit einem so lukrativen Projekt zu betrauen, obwohl sie doch den Wettbewerb gewonnen haben.
Und noch ein letzter Zwischenfall sorgt für Aufregung. Weil die neuen Hospitäler keine eigenen Küchen mehr haben, ist eine Großküche geplant, die von der Gesellschaft Sogeres geleitet werden soll. Erneut fürchten die Hotel- und Restaurantbesitzer, daß ihnen die Gäste in Massen davonlaufen. „Überall, wo eine Großküche gebaut wurde, waren die Folgen verheerend“, sagt einer von ihnen, völlig blaß im Gesicht.
Die neue Küche wird sechzehn Jahre lang jährlich 200000 Franc Gewerbesteuern zahlen, ein Sümmchen, das sich Lourdes nicht entgehen lassen will, weshalb die Stadt darauf drängt, daß die Küche auf ihrem Gebiet errichtet wird, während das Sanktuarium damit droht, sie in der Nachbargemeinde Adé zu bauen. Sofort bietet die Stadt das Schlachthofgelände an, dessen Gebäude bald abgerissen werden sollen, und so wechselt ein 3590 Quadratmeter großes Grundstück in der Innenstadt für 44,25 Franc pro Quadratmeter den Besitzer. Der Unmut über diese Entscheidung ist um so größer, da der Antrag auf eine Baugenehmigung eingereicht wurde, ehe man die Frage im Stadtrat auch nur angeschnitten hatte. Außerdem hatte die Stadt bereits 1993 eigens ein Gelände gekauft, um dort eine Großküche zu bauen. „Früher wurde oben im Schloß über unser Schicksal entschieden. Jetzt tun das die Leiter der Wallfahrtsstätte“, empört sich ein Mitglied der Opposition in einer von Tumulten begleiteten Sitzung. Hinter der ganzen Aufregung verbirgt sich etwas, was niemand beim Namen nennt: Mit dem Besitzwechsel des Schlachthofgeländes dringt die Unterstadt, die der Wallfahrt und des frommen Kommerzes, zum ersten Mal in die Oberstadt ein.
Wie weit wird man gehen? Auf all diesen Debatten lastet die vom Sanktuarium immer wieder aufgefrischte Drohung, einen neuen Eingangsbereich an der Route de Pau anzulegen und so die Stadt links liegen zu lassen, was die örtliche Wirtschaft hart treffen würde. Derzeit müssen die Pilger durch die Einkaufsstraßen ziehen, um den Gnadenort zu erreichen. Erste beunruhigende Anzeichen gibt es bereits: Immer mehr Reisebusse parken draußen auf der „Wiese“, dem Teil des Kirchenguts, der von der Stadt am weitesten entfernt ist. Und das Projekt für den Pilgerempfang sieht unter anderem vor, daß die Busse über die Route de Pau fahren, um dort auf einem neuen, 1600 Quadratmeter großen Vorplatz zu halten. Eine Bresche ist geschlagen: Wird es weitere geben?
In der Stadt befürchtet man, daß ja. Das Sanktuarium behauptet, daß nein. Der Bischof hält den Gedanken für „verrückt“. Man wirft den Geschäftsleuten und Hoteliers „Kurzsichtigkeit“ und „Egoismus“ vor, und der Verwalter der Grotte meint: „Die Lourder Bürger sind unfähig, ihre Zukunft zu gestalten.“ Diese hingegen malen das Schreckbild der Simonie an die Wand. Die Stadt, die sich in ihrem Wappen stolz die „brüderliche“ nennt, versinkt im Familienstreit.
dt. Andreas Knop
* Journalist, Autor von „Lourdes, sa vie, ses ÷uvres“, Paris (Hachette) 1997.