13.06.1997

Globalisierung geht auf Kosten der Demokratie

zurück

Globalisierung geht auf Kosten der Demokratie

Von BERNARD CASSEN *

FREIHEIT der Märkte („laissez faire“) und freier Handel („laissez passer“) sind die beiden uralten Glaubenssätze des Ultraliberalismus. Und bekanntermaßen ist es mit Glaubenssätzen so, daß sie Vorrang vor allen anderen Gegebenheiten, Überlegungen oder Werten haben. Die Financial Times beruft sich umstandslos auf diese Grundsätze und bietet immer wieder Beispiele für ihren Vorrang vor der Realität.

So verwandelt sich ein drohender „Handelskrieg“ zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten – wegen der in den USA herrschenden unzureichenden sanitären Bedingungen beim Schlachten von Geflügel, das nach Europa exportiert werden soll – in ihren Spalten in ein höchst bezeichnendes „Dilemma“, das darin besteht, „das tatsächliche öffentliche Interesse mit dem freien Handel zu versöhnen“. Der freie Handel – bestenfalls ein Mittel – wird zum einzigen Axiom, das nicht mehr diskutierbar ist. Das öffentliche Interesse, also das eigentliche Ziel, muß sich anpassen und überdies den Beweis erbringen, daß es „tatsächlich“ existiert. Auf diese Weise wird das Mittel zum Ziel.

Diese Verkehrung stört die Freihandels-Ideologen nicht im geringsten, da sie in den Medien, in den Universitäten und in den großen internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen den Ton angeben. Insbesondere seit dem Ende der Uruguay-Runde des Gatt im Jahre 1993 wird versucht, mittels einer weltweiten Gehirnwäsche die Idee durchzusetzen, daß die Deregulierung des Handels und die totale Freiheit der Märkte unausweichlich zu einer allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards und zu einer gerechteren Gesellschaft für alle führen würden. Dies wären die wunderbaren Ergebnisse der Globalisierung. Die Fakten sehen ganz anders aus.

Primär hat die Globalisierung des Handels keineswegs die Wirkung, Ungleichheiten zu beseitigen. Diese werden vielmehr größer, und zwar nicht nur zwischen den einzelnen Ländern, sondern auch in den Ländern selbst.

In den sogenannten reichen Ländern und insbesondere bei den Großmeistern des Freihandels, den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wird die immer stärkere Polarisierung der Einkommen und des Wohlstands von niemandem mehr bestritten. Selbst die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung scheint darüber gelegentlich beunruhigt, ist sie doch offenbar für die Regierenden kein wirklicher Grund zur Sorge: Einige von ihnen verkünden sogar die Theorie, daß Ungleichheit notwendig sei, um das Wachstum zu fördern.

Aber auch die zwischenstaatlichen Beziehungen sind durch diese Polarisierung gekennzeichnet. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des UN-Programms für Entwicklung (UNPD) zeigt auf, daß die ärmsten Länder immer ärmer werden, und zwar sowohl in relativen als auch in absoluten Zahlen. Faktisch gibt es keinerlei Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Investitionen.

In Afrika, das ein erschreckendes Defizit an jeglichen Infrastrukturen aufweist, sind die direkten Investitionen von 1994 bis 1995 um 27 Prozent zurückgegangen. Sie belaufen sich auf lediglich 2,1 Milliarden Dollar, was 3 Prozent der gesamten weltweiten Direktinvestitionen entspricht. Man kann sich eben nicht auf die internationalen Finanzmärkte verlassen, wenn der Bau von Schulen oder Krankenstationen finanziert werden soll.

Im Namen der von Weltbank und IWF betriebenen Politik der Strukturanpassung, die die „Öffnung“ für den Weltmarkt vorschreibt, werden die öffentlichen Ausgaben gekürzt. Insbesondere wird die Zahl der Lehrer verringert, womit man wieder auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen ist. Seit Beginn dieses Jahrzehnts zeigen sämtliche Statistiken, daß der Anteil der Armen in Lateinamerika, in der Karibik und in Afrika stetig zugenommen hat. Wer hätte wohl den Mut, den betroffenen Menschen das Loblied der Globalisierung vorzusingen?

Löhne und Beschäftigung können von der allgemeinen Liberalisierung nur profitieren, sagt man uns. Doch nicht nur in Amerika machen die Arbeiter Tag für Tag ganz andere Erfahrungen: Der durchschnittliche Stundenlohn von Beschäftigten ohne höhere Schulausbildung ist in den letzten zwanzig Jahren um ein Drittel gefallen: 1973 lag er bei 11,85 Dollar, 1993 bei 8,64 Dollar. Für sie mußten die Soziologen eine neue Gruppe erfinden, die der „working poor“, jener Beschäftigten, die immer ärmer werden, obwohl sie arbeiten.

Margaret Thatcher und John Major haben in ihrem Land dafür gesorgt, daß immer mehr Leute zu dieser Gruppe gehören. Auch in Frankreich, wo es real fünf Millionen Arbeitslose gibt, und in Deutschland, wo den Industriellen ihre deutschen Mitbürger als Arbeitskräfte zu teuer sind, sieht die Bilanz kaum besser aus.

Die Sozialklausel ist keine Waffe gegen die Dritte Welt

DIE Lage in diesen Ländern pflegen die Ultraliberalen mit der Situation in anderen Ländern zu vergleichen. Und immer sind es dabei die „Tiger“ Ostasiens, die gelegentlich zweistellige Wachstumsraten erzielen. Sie machen sich aber nicht bewußt, daß diese Beispiele in radikalem Widerspruch zu ihren Theorien stehen. Weder in Süd-Korea noch in Taiwan – und noch weniger in China – basiert die Macht von Industrie und Handel auf den Rezepten von Adam Smith und David Ricardo. In den beiden ersten Fällen war die massive Hilfe der USA während des kalten Krieges entscheidend. Heute sind es der absolute Protektionismus, der die aufstrebenden Industrien schützen soll, der gelenkte Handel – aus dem China kein Geheimnis macht – und ganz allgemein die wirtschaftliche Allgegenwart des Staates, die das vielgerühmte und substantielle, „auf dem Export basierende Wachstum“ in diesen Ländern ausmachen.

Hinzu kommt die politische und gesellschaftliche Repression, die in der Region mittlerweile nur in Taiwan überwunden ist. Tatsächlich kann ein totalitäres Regime, das freie Gewerkschaften verbietet (China, Süd-Korea, Singapur, Indonesien und so weiter) und Strafgefangene zu Zwangsarbeit verurteilt (China), „Wunder“ vollbringen und ein „günstiges Klima“ für Geschäfte schaffen. Trotzdem ist es erstaunlich, daß die „Liberalen“ über so grundlegende politische Freiheiten im Namen von Gewinn und Verlust hinweggehen und daß sie ihre Augen – was aus ihrer Sicht eigentlich noch schlimmer ist – vor Wettbewerbsverzerrungen verschließen, die auf die ständige Intervention eines polizeistaatlichen Systems zurückgehen, das auch noch häufig genug von Korruption zersetzt ist. Tatsächlich waren die Liberalen dieses Schlages ja durchaus großzügig mit ihrem Lob für das chilenische „Wunder“ in der Ära Pinochet ...

Die Liberalen sollten sich nicht über die Einführung von „Sozialklauseln“ im internationalen Handel empören, sondern eine solche Entwicklung im Namen der Werte der loyalen Konkurrenz und einer „transparenten“ Preisbildung begrüßen. Denn im Grunde sollte völlig normal sein, daß die „Eintrittskarte“ eines Gutes oder einer Dienstleistung für einen bestimmten Exportmarkt den Respekt vor den minimalen Normen der internationalen Arbeitsorganisation (gewerkschaftliche Freiheit, Verbot der Zwangsarbeit und der Ausbeutung von Kindern und so weiter) einschließt, die in dem betreffenden Lande gelten.

Diese Sozialklauseln, die die Situation der Arbeiter in den neuen Industrieländern verbessern sollen, während ihre Nichtbeachtung die Situation der Arbeiter in den entwickelten Ländern verschlechtert, richten sich keineswegs gegen den Süden. Sie werden vielmehr von vielen regierungsunabhängigen Organisationen und Gewerkschaften eingefordert, die ja doch wohl weit eher legitimiert sein dürften, die Bevölkerung ihrer Länder zu verteidigen, als die Repräsentanten der multinationalen Unternehmen.

Was für den Bereich des Sozialen zutrifft, gilt auch für die Umwelt. Es ist ausgeschlossen, den gesamten Freihandel nach ökologischen Prinzipien umzugestalten, denn er bewirkt eine ständige Verlagerung der Produktionsstätten an Standorte, wo ökologische Normen kaum beachtet werden. An solchen Standorten kümmert man sich in der Regel allerdings auch nicht besonders um die Rechte der Arbeiter.

Die Zerstörung der natürlichen Umwelt, die Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden als „komparative Vorteile“ zu sehen, ist schlicht unakzeptabel. Diese Kosten dürfen nicht „externalisiert“, das heißt auf die gesamte Weltbevölkerung umgelegt werden, sondern müssen vollständig „internalisiert“, das heißt auf die Preise aufgeschlagen werden. Wenn dies nicht geschieht, müssen sie in die „Eintrittskarte“ zu jenen Märkten einfließen, auf denen diese Vorschriften gültig sind.

Wenn man die intellektuelle Ehrlichkeit besitzt, einen „Liberalismus der variablen Geometrie“ abzulehnen, der als einzigen Kalkulationsfaktor das Raubrecht der global agierenden Konzerne anerkennt, wird man entdecken, daß sich in den Grundprinzipien der liberalen Theorie ausgezeichnete Argumente für die Begründung von Sozial- und Umweltklauseln finden lassen.

In letzter Konsequenz ist es die Demokratie, die den Prinzipien von unbeschränktem Freihandel und Globalisierung zum Opfer fällt. Denn die Dynamik dieser Prinzipien führt faktisch zu einer immer größeren räumlichen Trennung zwischen den Entscheidungszentren und den Menschen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind, und zwischen Produzenten und Konsumenten von Gütern, Dienstleistungen und Bildern, bis das höchste Stadium der Entfremdung erreicht ist.

Verantwortlichkeit und die Verpflichtung, für das eigene Tun regelmäßig Rechenschaft abzulegen, sind die Prüfsteine des demokratischen Lebens. Was wird aus diesen Prinzipien, wenn Abgeordnete und Regierungen, die sich wirklich noch für das Wohlergehen aller Bürger ihres Landes einsetzen, immer weniger Einfluß auf die Faktoren haben, die in Wahrheit die Entscheidungen fällen, nämlich die Finanzmärkte und die Riesenkonzerne, die auch gar nicht mehr örtlich greifbar sind? Es liegt auf der Hand, daß es diese Faktoren sind, die den Zerfall der Gesellschaften bewirken. Von Gesellschaften übrigens, die diesen Namen immer weniger verdienen, da sie einer Logik unterworfen sind, die der Idee des Gemeinwohls diametral entgegensteht.

Margaret Thatcher pflegte immer wieder zu betonen, daß sie nur noch Individuen kenne und sich überhaupt nicht mehr vorstellen könne, was eine Gesellschaft sei. Es ist allerhöchste Zeit zu verhindern, daß dieser von Herzen kommende Ausspruch zu einer Selffulfilling prophecy wird.

dt. Christian Voigt

Redakteur von Le Monde diplomatique. Professor am Institut d`études européennes (Paris VIII).

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von BERNARD CASSEN