Die Zeitung der Finanzeliten
DER Student an der London School of Economics and Political Science (LSE) vollzieht allmorgendlich, bevor er sich in seinen Seminarraum begibt, eine obligatorische Handlung: die Lektüre der Financial Times. Unter der Woche, an den Vorlesungstagen, ist sie zum reduzierten Studentenpreis erhältlich. Die „rosafarbene Zeitung“ bringt täglich vielbeachtete Fakten und Meinungen, denen mitunter – wie ein Mitglied der neuen Blair-Regierung offenbart hat – gar die Ehre widerfährt, in der Kabinettsrunde zitiert zu werden.
Der Krieg zwischen den Wirtschaftszeitungen wird immer unerbittlicher. Für die konkurrierenden Blätter ist es dabei besonders wichtig, sich die Gunst der künftigen wirtschaftlichen und politischen Eliten zu sichern, um eine enge Leserbindung, wenn nicht gar eine gewisse Abhängigkeit herzustellen. Das Wall Street Journal, dessen Berichterstattung auf die US- amerikanische Finanzwelt konzentriert ist, hat bereits versucht, die Bindung der Studenten an die Financial Times aufzubrechen, indem sie innerhalb der LSE kostenlose Exemplare verteilt. Ein vergebliches Unterfangen.
Eine ausgeprägte britische Identität verbunden mit einer globalen Berichterstattung über internationale Themen und Entwicklung sind der besondere Vorzug der Financial Times: „Die Financial Times hat keine Bedenken, detailliert über die Wahlen in Portugal oder in den einzelnen deutschen Bundesländern zu berichten, die sie für ebenso bedeutend hält wie die Äußerungen des Bundesbankpräsidenten“, meint der Dekan einer LSE-Fakultät. Und Howard Machin, Direktor des European Institute, verweist darauf, daß „das Wochenmagazin The Economist für einen Studenten einfach nicht ausreicht“. Sein Fazit: „Für alle, die nicht tagtäglich die Agence Europe lesen, ist die FT die weitaus wichtigste Informationsquelle.“
An einer angesehenen südenglischen Universität vollzieht sich jeden Morgen der gleiche, fast religiöse Ritus: Ein Professor verteilt an seine graduierten Studenten einen Artikel aus der Financial Times vom Tage. Nach intensiver schweigender Lektüre wird der Text eine Stunde lang gemeinsam analysiert, so als ob es sich um eine heilige Schrift handele. Die Zeitung ersetzt ein universitäres Handbuch und wird zum zentralen Referenzsystem. Die Financial Times verdankt ihr hohes Renommee vor allem ihren Autoren, die zumeist aus der Welt der Universitäten und der Wirtschaft kommen, oder auch von internationalen Institutionen, wie etwa Martin Wolf (Mitglied der FT-Chefredaktion), der früher einen hohen Posten bei der Weltbank bekleidete. Ihre Beziehungen kommen der Zeitung zugute und bewirken, daß diese den Nimbus einer regelrechten Institution genießt.
Das Gebäude der Financial Times am Ufer der Themse bietet den Anblick einer Festung. In der Eingangshalle läuft ununterbrochen ein Fernsehapparat mit aktuellen Meldungen von der Börse und den Finanzmärkten, die von der FT-Redaktion selbst präsentiert werden. Ihre Expertisen, denen eine unübertroffene Qualität zugeschrieben wird, finden auch bei den Regierenden Gehör. Und den Redakteuren gefällt es, auf ihre Zugehörigkeit hinzuweisen: „Wir werden von den Männern aus den obersten Etagen gelesen; unsere Leser können sich gegenseitig an der rosa Farbe der Zeitung erkennen.“
FRÉDÉRIC MICHEL
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LSE und amInstitut d'études européennes de l'université Paris-VIII.