13.06.1997

Die Spekulationsblase ist geplatzt

zurück

Die Spekulationsblase ist geplatzt

NOCH immer büßt Japan für seine Spekulationswut der späten achtziger Jahre – und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Die Aufstockung der Wirtschaftsförderungsmittel um ein Vielfaches (über 900 Milliarden Mark für den Zeitraum von 1992 bis 1995) konnte die Wirtschaftskonjunktur nicht wieder ankurbeln. 1995 und 1996 stieg die Zahl der Firmenkonkurse auf Rekordhöhe, gleichzeitig verschlechterte sich die Lage der Staatsfinanzen dramatisch. Eine allzu pessimistische Prognose der japanischen Entwicklung wird jedoch relativiert durch die Dynamik neuer Industriebranchen, einen wachsenden Handelsbilanzüberschuß und den Ehrgeiz der jungen Generation, die Gesellschaft von Grund auf umzubauen.

Von CHRISTIAN SAUTTER *

Die Informationen aus Japan irritieren durch ihre Widersprüchlichkeit: wirtschaftliche Stagnation, zugleich aber geringe Arbeitslosigkeit, Zusammenbruch des Bankensystems, zugleich aber die Finanzierung der US-amerikanischen Außenverschuldung durch japanisches Kapital, Kritik an den Bürokraten des Finanzministeriums und zugleich eine Glorifizierung der staatlichen Finanzpolitik, die innerhalb von acht Monaten eine Abwertung der japanischen Währung um 33 Prozent bewerkstelligt hat. Andere verwirrende Indizien kommen hinzu: eine unglaubliche Spekulationsblase am Aktienmarkt, aber zwischen 1985 und 1990 auch ein reales Wachstum, dem bis 1995 eine Stagnation folgte. 1996 erreichte das Wirtschaftswachstum beachtliche 3,6 Prozent, doch das Jahr 1997 bietet wegen eines deflationären Staatshaushaltes keine günstigen Prognosen.

Befindet sich Japan in der Krise oder im Umbruch? Oder vielleicht in der Phase eines langsamen Strukturwandels, der neue Weichen für die Zukunft stellt?

Der industrielle Strukturwandel hat in Japan eine bestimmte Tradition: Die dynamischen Sektoren der Wirtschaft haben sich in wellenartiger Folge abgelöst, die sich analog zum Phänomen des „Flugs der Wildgänse“ beschreiben läßt: Die bis 1973 dominierenden Zweige der Leichtindustrie (Textil- und andere Branchen) wurden von den weniger entwickelten Ländern Asiens (China und Vietnam) übernommen. Auch die chemische und die Schwerindustrie haben die Erdölkrise von 1973 nicht unbeschadet überstanden und wurden Süd-Korea und Taiwan überlassen.

Die Industrien der „drei C“ (car, cooler, color TV: Autos, Klimaanlagen und Farbfernseher) erreichten ihren Zenit 1985, also vor der Aufwertung des Yen. Seitdem sinkt der Export von Nutzfahrzeugen und Fernsehapparaten. Diese Entwicklung ist jedoch nicht abgeschlossen. Der Kampf setzt sich auf Weltmarktebene mit anderen Mitteln fort, vor allem über die Auslagerung der Produktion in die wichtigsten Abnehmerländer (Nordamerika und Westeuropa) oder in die Länder mit dem stärksten Wirtschaftswachstum, also die asiatischen Schwellenländer. Bis 1980 spielte die Produktion japanischer Autos im Ausland keine bedeutende Rolle, Mitte der neunziger Jahre wurden dort bereits 5 bis 6 Millionen Fahrzeuge – gegenüber 13 Millionen im Inland – hergestellt. Japan ist als einziger Automobilproduzent auf vier Kontinenten präsent. Die Branche befindet sich also nicht in einer Krise, sondern in einer Umbauphase. Sie konnte ihre Vormachtstellung auf dem Weltmarkt trotz der kräftigen Erholung der US-amerikanischen Konzerne behaupten, während die meisten Autohersteller aus den EU-Ländern sich selbst auf ihrem eigenen Kontinent nur mühsam über Wasser halten.

Ein zweiter Schub ist bereits in vollem Gange: die Investitionsgüterindustrie beliefert die asiatischen Schwellenländer und versorgt darüber den ganzen Weltmarkt mit Werkzeugmaschinen. Für die Unternehmen dieses Sektors kommen weder die Strategie der Standortverlagerung noch der „Entkernung“ (Verlagerung der Produktionsanlagen weg von der Firmenzentrale) in Frage. Diese Branche ist das Rückgrat der gewerblichen Industrie, stellt die größte Konzentration von hochqualifizierter Arbeitskraft dar. Sie muß also einfach im Lande bleiben.

Hochkonjunktur herrscht auch bei den hochrentablen Dienstleistungen für Unternehmen (Software, Telekommunikation, Finanzierung, juristische Beratung) wie für die Haushalte (Multimedia, Mobiltelefon, Internet etc.). Dieser dritte, von den USA ausgelöste Schub hatte die japanischen Industrieunternehmen überrascht, die traditionellerweise wie hervorragende Mechaniker funktionieren und wesentlich besser mit dem Bereich der materiellen als mit dem der immateriellen Produktion klarkommen. Doch der japanische Binnenmarkt explodiert, und die Unternehmen werden sich wohl oder übel auf die neuen Anforderungen einstellen müssen.

Die Entstehung der Bankenkrise ist somit nicht zufällig, ist vielmehr im Kontext dieser Entwicklungen zu sehen. In den goldenen Zeiten des Wirtschaftswachstums lebte man innerhalb eines funktionierenden Pyramidensystems: Um ihre enormen Investitionen zu tätigen, waren die Unternehmen bei den Banken hoch verschuldet, diese hatten wiederum Schulden bei der Zentralbank, und zwar trotz der Vorteile, die sie genossen: Sie hielten hohe Spareinlagen bei niedrigen Zinssätzen und konnten sich darauf verlassen, daß sie als Kreditgeber von den Unternehmen der eigenen Gruppe bevorzugt wurden. Die Zentralbank wiederum unterstand den Direktiven des Finanzministeriums, das an der Spitze einer von jedem europäischen Einfluß abgeschirmten Kreditpyramide eine komfortable Position innehatte. Zudem sorgte das „Pantoffelprinzip“ – das bequeme und geräuschlose Überwechseln der Funktionäre vom Staatsdienst auf die einträglicheren Führungsposten der Finanzinstitute – an der Spitze der Pyramide für ein stillschweigendes Einverständnis.

Schuld an dem Zusammenbruch dieses schönen Gebäudes sind die Industrieunternehmen, die nach der Überwindung der Krise von 1973 ihre Investitionen verstärkt über Eigenmittel statt über Kredite finanzierten. Nach dem Verlust dieser privilegierten Klientel hatten die Banken zunächst mit Staatsanleihen gearbeitet – sich dann jedoch auf riskantere Kunden eingelassen: Klienten, die mit Kleinkrediten arbeiteten, insbesondere mit Spekulationskrediten, die über mehr oder weniger vertrauenswürdige Vermittler liefen, von denen nicht wenige beim Geschäft mit der Bodenspekulation, im Immobiliensektor oder mit Wertpapieren bankrott gegangen waren.

Die zweite Erschütterung wurde durch eine nur mühsam verkraftete Deregulierung ausgelöst. Die USA tolerierten nicht, daß Japan als einziges Land der Welt über eine einträgliche „Goldmine“ in Form hoher Spareinlagen mit niedrigen Zinsen verfügte. Sie entwickelten einen starken Druck, um die Mauern dieser finanziellen Trutzburg zum Einsturz zu bringen. Diese Strategie kulminierte im „Yen-Dollar- Vertrag“ von 1984 und dem anschließenden Verfall des Dollarkurses seit 1985. Der japanische Finanzmarkt wurde durch diese Belastungsprobe stark strapaziert. Er bemüht sich nun um den Abbau seiner Schulden, das Erbe der absurden Spekulationen am Ende der achtziger Jahre. Fünf von zwanzig Großbanken würden noch vier Jahre Zeit brauchen, um ihre Außenstände auszugleichen; ihre Existenz ist stark gefährdet.

Die Krise der Banken wird also noch einige Jahre anhalten, doch werden die wirtschaftlich gesünderen Institute noch vor Ende dieses Jahrhunderts wieder auf internationaler Ebene mitspielen. Eine Schwäche wird jedoch noch einige Zeit bestehen bleiben: jenes spezifisch japanische Informationssystem, in dem Gefälligkeiten zuweilen mehr zählen als die strengen Prinzipien rationalen Wirtschaftens. In einem System, das vom Finanzministerium gesteuert und in sich abgeschlossen ist, waren die persönlichen Vertrauensverhältnisse tragfähig genug. Die Öffnung gegenüber der rauhen Konkurrenz des Weltmarkts zwingt jedoch, die bisher noch nicht vollständig realisierte Verpflichtung einzuhalten, daß man seine Partner, Klienten und Aktionäre angemessen informiert.

Jedesmal, wenn der japanischen Industrie ein Generationswechsel bevorsteht, stellt sich automatisch die Frage der Kreativität. Diesmal ist diese Frage aus zwei Gründen besonders prekär. Zum einen sind die Lebenszyklen der neuen Produkte und Dienstleistungen sehr kurz geworden. Damit bleibt den Nachzüglern nicht mehr die Zeit, einen Platz an der Spitze zu erobern, denn der innovatorische Produzent – gegenwärtig zumeist die USA – kann den Weltmarkt sofort mit seinen neuen Produkten sättigen.

Rost am „eisernen Dreieck“

ZUM anderen bringt das japanische Bildungssystem traditionell eher intelligente, fleißige und disziplinierte „Geschäftsführer“ hervor als erfinderische, nonkonformistische, risikofreudige „Unternehmer“. Ein anschauliches Beispiel für diesen Gegensatz bietet der Kontrast zwischen Japans großen Pyramidengruppen – den Erben der „zaibatsu“ der Vorkriegszeit, die bereits in den sechziger Jahren die Revolution auf dem Automobilmarkt und dem großen Sektor der Unterhaltungselektronik verpaßt haben – auf der einen und dem üppig aufblühendenden Silicon Valley auf der anderen Seite, dessen innovative Klein- und Mittelbetriebe auf die Experten des Risikokapitals angewiesen sind. Ob diese Betriebe inmitten von Großkonzernen wie Sony, Matsushita oder Honda, die aus der Konfusion der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden sind, bestehen können, wird erst die Zukunft zeigen.

Eine ganze Reihe positiver Faktoren scheint Japan eine wirtschaftlich florierende Zukunft zu versprechen: die Abwertung des Yen, die der Industrie den „zweiten Atem“ verschafft, die langfristigen Spareinlagen, und dazu eine gut ausgebildete Jugend, ein gutes Niveau von Forschung und Entwicklung. Gegen solche Voraussagen, die ein rasches Wirtschaftswachstum verheißen, hört man in Japan stets das Argument der Überalterung. Im Jahre 2020 wird mehr als ein Viertel der japanischen Bevölkerung älter als 65 Jahre sein, gegenüber 21 Prozent in Deutschland, 20 Prozent in Frankreich und 16 Prozent in den USA. Sind damit die Renten in Gefahr? Das ist eher unwahrscheinlich, denn infolge des Arbeitskräftemangels wird das Rentenalter im Jahr 2002 von 60 auf 65 Jahre erhöht und 2020 auf ungefähr 70 Jahre ansteigen.

Japan hat sich einen Spielraum für die Erhöhung des Steuerniveaus bewahrt, der in Kontinentaleuropa schon lange ausgeschöpft ist. Zudem wird die höhere Lebenserwartung einen lukrativen Markt für Produkte und Dienstleistungen für Rentner schaffen, deren individuelle Kaufkraft die der jungen Familien (Eltern um die 40 Jahre) übersteigen wird.

Der Geburtenrückgang ist indes ein Problem, für das die Führung des Landes weder eine Erklärung noch Abhilfe zu suchen scheint. Mit durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau (1995) steht dem Land ein rapider Bevölkerungsrückgang bevor, der zwischen 2010 und 2015 einsetzen wird. Der Geburtenrückgang ist ein städtisches Phänomen: Im Ballungsgebiet der Metropolen Tokio und Osaka liegt die Kinderzahl bei 1,0. Die Geburtenschwäche im städtischen Raum verweist auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Frauen. Bei der Wahl zwischen Karriere oder Kind entscheiden sie sich immer öfter für die berufliche Karriere, die ihnen ihre universitäre Ausbildung heute möglich macht. Die Zahl der Singles nimmt zu, das durchschnittliche Heiratsalter steigt. Das erste Kind wird später geboren und bleibt meist auch das einzige. Das Fehlen öffentlicher Kindergärten und Vorschulen, die enormen Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz und die langen Arbeitstage sind weitere Faktoren, die zu diesem Geburtenstreik beitragen – und damit zum langsamen Aussterben der Bevölkerung.

Ein weiteres Merkmal des japanischen Gesellschaftsmodells sind die Garantien, die eine Aristokratie von Arbeitern und Technikern genießt, die überwiegend aus Männern besteht und etwa ein Drittel der Berufstätigen ausmacht. Die „drei Schätze“ – die lebenslange Anstellung bei derselben Firma, das Anciennitätsprinzip (das Gehalt steigt mit der Dauer der Betriebszugehörigkeit) und die Unternehmensgewerkschaft – blieben trotz des ab 1973 ständig abnehmenden und zwischen 1991 und 1995 völlig stagnierenden Wirtschaftswachstums erhalten. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten ist ungefähr gleich geblieben; in der Automobilindustrie konnten Entlassungen ohne Sozialplan vermieden werden.

Diese drei „Schätze“ sind mit dem neuen liberalen Credo der „Flexibilisierung“ nicht vereinbar. Die qualifizierten Erwerbstätigen werden als Humankapital verstanden, das sich mit der zunehmenden beruflichen Erfahrung bezahlt macht und das „Schritt für Schritt“ seinen Beitrag zur Qualitäts- und Produktivitätssteigerung leistet. Die Beschäftigten wissen, daß sich diese Produktivitätssteigerung nicht gegen sie kehren wird. Doch dem Verzicht auf Personalabbau auch während der schwächeren Wirtschaftsphasen sind gewisse Grenzen gesetzt. Die plötzliche Abwertung des Yen in den Jahren 1995-96 hat die Exportindustrien vor schmerzhaften Entscheidungen bewahrt, zu denen sie sich bei weiter anhaltender Stagnation hätten durchringen müssen. Bis jetzt konnten sich die Arbeitgeber mit verschiedenen Tricks behelfen. So haben sie etwa bei den 50- bis 55jährigen die automatische Gehaltspyramide gekappt, haben mehr Arbeitnehmer mit Zeitverträgen eingestellt und innerhalb der einzelnen Berufsgruppen die fachliche und geographische Mobilität intensiviert.

Der Kern des unausgesprochenen Vertrages zwischen den großen Unternehmen und ihren Angestellten blieb also erhalten. Was wird aber in jenen Sektoren passieren, wo, wie im Bankwesen, brutale Umstrukturierungen vorgesehen sind, oder in den neuen Industrien, die junge, kreative und mobile Fachleute bevorzugen? Hier wird man wohl die Garantien der Arbeitnehmer einschränken oder ganz aufheben.

Ebenso folgenreich sind die Veränderungen im Bereich der Politik. Das „eiserne Dreieck“, bestehend aus der Oligarchie konservativer Parlamentarier der Liberaldemokratischen Partei (LDP), der staatlichen Bürokratie und den Führungsspitzen der großen Unternehmen hat bisher einen aufgeklärten Despotismus zugunsten eines möglichst schnellen Wachstums praktiziert.

1993 verlor die LDP ihre Führungsrolle, die sie seit Kriegsende mit einer kurzen Unterbrechung innehatte – 1996 konnte sie ihre Position zurückerobern. Inzwischen hat eine Wahlrechtsreform stattgefunden: Nunmehr werden in einem einzigen Wahlgang 300 Abgeordnete des Unterhauses nach dem Persönlichkeitswahlrecht und 200 nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Dieses Gesetz wird eine Polarisierung mit zwei Großparteien bewirken. Eine davon wird die LDP sein, doch die andere? Die Linke hatte einen schlechten Start und erhielt bei den Parlamentswahlen im Oktober 1996 nur ganz wenige Sitze. Von der LDP unterscheidet sie zwar eine pazifistische Außenpolitik, innenpolitisch aber hat sie sich noch nicht überzeugend profilieren können.

Die Gesellschaft ist in Bewegung, aber auf die neuen Perspektiven hat sich bislang noch keine Partei eingestellt. Die Frauen der jungen Generation wünschen sich neben der Wahlmöglichkeit zwischen Kind oder Karriere auch die Alternative Kind und Karriere. Daß sie häufiger Firmen gründen als ihre männlichen Alterskollegen, gibt ein Bild von ihrer Dynamik. In den Stadtvierteln wächst wieder ein Gemeinschaftsgefühl, das Direktiven von oben nicht mehr akzeptiert. Die herrschenden Kreise, die sich aus den immer gleichen Universitäten rekrutieren und sich gegenseitig in Machtpositionen hieven, verlieren an gesellschaftlicher Akzeptanz. An der Basis regt sich ein diffuses Verlangen nach einer Demokratie, die vom Bedürfnis nach erhöhter Lebensqualität – nach Kindergärten, Vorschulen und besseren öffentlichen Verkehrsmitteln – ausgeht.

Zwei atomare Zwischenfälle der jüngsten Zeit, in einem Schnellen Brüter und in einer nuklearen Wiederaufbereitungsanlage, scheinen für die neue Einstellung der Öffentlichkeit symptomatisch. Die zu späte und unvollständige Information seitens der Verantwortlichen wurde als schockierend empfunden. In der neu aufkeimenden Demokratie akzeptiert die Bevölkerung zwar Fehler, nicht aber deren Vertuschung. Allmählich erwacht die Zivilgesellschaft. Aber wird es ihr gelingen, die vielen Einzelbewegungen in eine gemeinsame Politik umzumünzen?

dt. Andrea Marenzeller

* Autor von „La France au miroir du Japon: la croissance ou la déclin“, Paris (Odile Jacob) 1996.

Le Monde diplomatique vom 13.06.1997, von CHRISTIAN SAUTTER